Siebente Szene.

[67] Rapunzel wirft plötzlich einen Stuhl um, der sie vom Tisch trennte, hat dem Gendarm das Seidentüchel entrissen und ist damit katzenartig zur Tür geflohen. Die anderen Mädchen wollen sie zwar halten, aber sie hat sich ihren Griffen geschickt entzogen und ist unter höhnischem Gelächter schon draußen.


DER FREMDE lachend. Immer laßt sie laufen ... immer laßt sie laufen ... ich halte sie ja an einem ganz feinen Faden angebunden ... Er hat einen feinen silbernen Handspiegel aus dem Kästchen genommen, in den er gespannt hineinblickt. Halt einmal ... dich werde ich gleich wieder fest in meiner Schlinge haben ...

EIN BAUER. Der Kerl kann die Taler im Sacke zählen ...

DER FREMDE. Topp ... wenn einer Taler im Sacke hat ... du hast nur zwanzig Pfennige im Lederbeutel stecken ... und Hildebrand ist dein Name ...

DER BAUER. Woher kann denn der feine Herr wissen, daß ich Hildebrand heiße?[67]

DER FREMDE. Ich gucke bloß in diesen Silberspiegel ... da hab' ich die ganze Welt drin verzeichnet ... und jedes Ding gleich mit Namen ...

EIN BAUERNMÄDCHEN. Ich glaube gar, der bildet sich ein, er könnte die Rapunzel zurückholen ...

DER FREMDE immerfort eifrig in den Spiegel guckend. Aufgefunden ist sie schon ... hahahaha ... gefunden ist sie schon ... Rapunzel ... mit dem gestohlenen Seidentüchel ... oben ... unter die alten beschneiten Tannen rennt sie ... steht schon nahe bei dem Reisighaufen ... schämt sich in die Hütte zu gehen ... wart' nur ... jetzt kriecht sie womöglich aus Scham unter die Reisigbündel ... aber ... ich lasse dich nicht ... ich binde meinen Faden ganz fest an deine braunen Haare ... nun komm' nur ... immer komm' nur ... deine erste Schneefährte zurück ... wenn es auch an dem Hange finstere Nacht ist ... wieviel Schritte hast du noch bis hier in das Schenkhaus zurückzustapfen? ... hundert ... zweihundert ... dreihundert ... vierhundert ... fünfhundert ... in fünf Minuten wird Rapunzel wieder hier erscheinen ...

DER GENDARM. Nun hören Sie einmal an ... die Sache scheint mir hier ziemlich ungeheuerlich zuzugehen ... und[68] scheint mir richtig einen verrückten Anstrich zu haben ... können Sie sich denn ausweisen? ... wenn Sie hier im Dorfe Vorstellungen geben wollen ... dazu müssen Sie einen Gewerbeschein haben ... und wenn Sie keinen Gewerbeschein haben, da müßte ich Sie aber gleich energisch auffordern, mich sofort aufs Amt zu begleiten ... denn damit könnte man nicht bis morgen früh erst warten ... Der Fremde gibt ihm nebenher alle möglichen, ausländischen Papiere, immerfort gespannt in den Spiegel beobachtend und lachend. Wie heißen Sie?

DER FREMDE nebenbei. Johannes Habundus ...

DER GENDARM. Und das ist wohl der Ort, woher Sie kommen?

DER FREMDE wie vorher. Er spricht den Namen englisch. Raven Mountains ...

DER GENDARM. So sehen Sie auch aus ... aber irgendwo müssen Sie doch geboren sein?

DER FREMDE immerfort gespannt in den Spiegel guckend und lachend. Plötzlich schroff. Schweigen Sie still, Herr ... jetzt beginnt das Kunststück ... passen Sie auf jetzt ... Rapunzel[69] kommt jetzt ... eins, zwei, drei, vier, fünf ... warum sollte ich denn irgendwo geboren sein ... einfach ... ich bin als Luftblase aus einem Sumpfwasser aufgestiegen ... pst ... Er tut wie wenn er einen Faden aufspulte. Jetzt läuft sie die letzten Schritte, was sie laufen kann ... bei sechzig tut sie die Tür auf ... fünfundfünfzig ... sechsundfünfzig ... siebenundfünfzig ... achtundfünfzig ... neunundfünfzig ... sechzig ...


Quelle:
Carl Hauptmann: Die armseligen Besenbinder. Leipzig 1913, S. 67-70.
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