Die Eidechsen
1

[93] Daß viele Menschen sich vor den Schlangen fürchten, davonspringen oder sie des Lebens berauben, das ist noch wohl begreiflich, weil man sie für gefährlich hält, und im zweifelhaften Fall lieber eine ungiftige totschlägt, als von einer giftigen sich beißen läßt. Aber warum sind viele Leute sogar den Eidechsen feind, diesen unschuldigen Tieren, die niemand[93] beleidigen, niemand schaden, vielmehr dem Landmann nützlich werden, indem sie von allerlei kleinen Insekten oder sogenanntem Ungeziefer sich nähren? Höchstens können sie euch ein wenig erschrecken, wenn ihr so in euren stillen Gedanken dahinwandelt, und auf einmal etwas im Laub rauscht. Aber wer ein gutes Gewissen hat, muß sich gewöhnen, nicht vor allem zu erschrecken. Wer ein böses Gewissen hat, dem ist freilich in diesem Punkt übel raten.


»Der Wind im Wald, das Laub am Baum

saust ihm Entsetzen zu.«


Nun, alle Leute sind so furchtsam freilich auch nicht, und im Frühjahr, wenn man wieder ins Feld und ins Grüne geht, und überall in der manchfaltigsten Gestalt das frohe Leben hervorwimmelt, und laut wird, bleibt auch wohl ein verständiger Mann einen Augenblick vor einer Eidechse stehen, betrachtet ihr grünes Gewand, wenn es schöner als Smaragd an der Sonne schimmert, bewundert ihre unnachahmliche Geschwindigkeit, und sieht mit Vergnügen ihren unschuldigen Spielen zu. Dann geht er mit guten Gedanken seines Weges weiter, riecht an seinem Frühlingsstrauß, und kann sich nicht genug erschauen an den blühenden Bäumen und farbigen Matten umher.

Gott sorgt auch für diese Tiere. Sie haben nicht genug Wärme in sich, um den Winter über dem Boden auszuhalten, auch würde es ihnen an Nahrung und Gebüsch zum verborgenen Aufenthalt fehlen. Sie verkriechen sich daher, und bringen den Winter im Schlaf zu. Ohne Kalender wissen sie ihren Monat. Aber wie im Frühjahr das Volk der kleinen Mücken lebendig wird, und alle Keime in Gras und alle Knospen in Laub aufgehen, ruft die tiefer dringende Frühlingssonne auch dieses Geschöpf aus seinem Schlaf und Winterquartier, und wenn es erwacht, ist schon für alles gesorgt, was zu seines Lebens Nahrung und Notdurft gehört. – Bekanntlich haben nicht alle diese Tiere einerlei Farbe; aber eine Art derselben muß um ihrer Nahrung willen sich am meisten aus dem dunkeln Gebüsch heraus ins Grüne wagen. Darum ist auch ihre Farbe grün. In dieser Farbe wird sie im[94] Gras weder von den Tieren, welchen sie nachstellt, so leicht entdeckt, noch von dem Storch, der ihr selber aufs Leben geht.


2

Es gibt auch zweierlei Eidechsen im Wasser, nur nennt man sie anders, und diese sind zum Schwimmen abgerichtet. Selbst auf dem Grund der klaren Brunnenquellen findet man sie oft, und darf sich deswegen vor dem Wasser nicht scheuen. Auch diese sind nicht giftig und teilen dem Wasser keine Unreinigkeit mit. Vielmehr loben es viele Brunnenmeister als ein gutes Zeichen. Solch ein Tierlein in seiner verschlossenen Brunnenstube hat ein geheimliches Leben und Wesen, sieht nie die Sonne auf- oder untergehen, erfährt nichts davon, daß der Prinz von Brasilien nach Amerika ausgewandert ist, und daß die englischen Waren auf dem festen Land verboten sind, weiß nicht, ob's noch mehr solche Brunnenstuben in der Welt gibt, oder ob die seinige die einzige ist, und ist doch in seinem nassen Element des Lebens froh, und hat keine Klage und keine Langeweile.

An der großen schwarz- und gelbgefleckten warzigen und schmutzig-feuchten Eidechse, die man den Salamander oder gelben Molch nennt, hat niemand Freude. Noch weniger aber freut es ihn, wenn er einen Menschen erblickt. Denn selten kommt er unangefochten davon. Er hält sich nur an dunkeln, feuchten und kühlen auch modrigen Orten auf, und das beste ist, daß man ihn dort sitzen lasse. Wer aber Lust hat, darf ihn herzhaft in die Hände nehmen. Er tut euch gewiß nichts Leides.


3

Wer sich aber mit Recht vor den Eidechsen fürchten oder eine Heldentat durch die Erlegung derselben vollziehen will, der muß nach Afrika oder Asien oder Amerika gehen.

Das fürchterliche Krokodill ist nichts anders als eine 20 bis 50 Fuß lange Eidechse. Davor muß jedermann Respekt haben. Oben braun oder schwarzgefleckt, unten weißlichgelb. Durch die schuppige Rückenhaut geht kein Flintenschuß;[95] am Bauch ist sie weich. In jedem Kiefer des großen Rachens stehen 50 scharfe Zähne. Der Schwanz beträgt mehr als die Hälfte von der ganzen Länge. Damit wirft es im Wasser kleine Schiffe um, und tötet einen Menschen mit einem Schlag. Es lebt im Wasser, z.B. im Nilfluß in Ägypten, und geht ans Land, frißt Fische und andere Tiere, Buben und Mägdlein, auch erwachsene Ägypter. Schnell wie ein Pfeil geht es in gerader Linie auf seinen Raub, kann sich aber nur langsam umdrehen. Mit einem glücklichen Seitensprung ist man außer Gefahr. Das Weibchen legt 100 häutige Eier, so groß wie die Gänseeier, und verscharrt sie in den Sand. Die Sonnenwärme brütet sie aus. Die meisten werden aber, ehe es dazu kommt, von einer ägyptischen Ratze gefressen. Auch von Menschen werden sie aufgesucht und zerstört oder gegessen. Wohl bekomm's!

Daß es nicht nur auf der Erde und im Wasser, sondern auch in der Luft Eidechsen gebe, nämlich solche, die da fliegen, wird mancher nicht gerne glauben. Aber wenn ihm ein Fabelhans von Drachen spricht, die auf hohen Felsen und in alten zerstörten Bergschlössern hausen, und feuerspeiend durch die Luft schießen, Brunnen vergiften, den Reiter und das Roß mit Sporn und Hufeisen Schluck und Druck verschlingen, das findet man schon glaublicher, weil einem der kalte Schauer vom Kopf bis zum Nagel des Zehens über die Haut lauft, wenn man's hört.

Bei allem dem muß so viel wahr bleiben, daß es in Asien und andern Weltteilen Eidechsen von ein- bis anderthalb Fuß Länge gibt, die auf Bäumen leben, wie bei uns der Laubfrosch, und durch Hülfe von häutigen Auswüchsen auf beiden Seiten große Sprünge in der Luft machen, und von einem Baum auf den andern schießen können. Einige haben dabei nur zwei, andere vier Füße, sind unschädlich, und leben wie andere Eidechsen von Insekten. Andere Basilisken und Drachen gibt es in Asien nicht, außer unter den Menschen, wenn einer den andern gern mit dem Blick vergiften oder durchbohren möchte, und giftige Verleumdungen und Scheltworte über ihn ausgießt, wie man denn dergleichen auch schon in Europa und am Rhein will viele gesehen haben.

[1808][96]

Quelle:
Johann Peter Hebel: Poetische Werke. München 1961, S. 93-97.
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