Caput V

[446] Und als ich an die Rheinbrück' kam,

Wohl an die Hafenschanze,

Da sah ich fließen den Vater Rhein

Im stillen Mondenglanze.


»Sei mir gegrüßt, mein Vater Rhein,

Wie ist es dir ergangen?

Ich habe oft an dich gedacht

Mit Sehnsucht und Verlangen.«


So sprach ich, da hört ich im Wasser tief

Gar seltsam grämliche Töne,

Wie Hüsteln eines alten Manns,

Ein Brümmeln und weiches Gestöhne:


»Willkommen, mein Junge, das ist mir lieb,

Daß du mich nicht vergessen;

Seit dreizehn Jahren sah ich dich nicht,

Mir ging es schlecht unterdessen.


Zu Biberich hab ich Steine verschluckt,

Wahrhaftig, sie schmeckten nicht lecker!

Doch schwerer liegen im Magen mir

Die Verse von Niklas Becker.


Er hat mich besungen, als ob ich noch

Die reinste Jungfer wäre,

Die sich von niemand rauben läßt

Das Kränzlein ihrer Ehre.


Wenn ich es höre, das dumme Lied,

Dann möcht ich mir zerraufen

Den weißen Bart, ich möchte fürwahr

Mich in mir selbst ersaufen!
[446]

Daß ich keine reine Jungfer bin,

Die Franzosen wissen es besser,

Sie haben mit meinem Wasser so oft

Vermischt ihr Siegergewässer.


Das dumme Lied und der dumme Kerl!

Er hat mich schmählich blamieret,

Gewissermaßen hat er mich auch

Politisch kompromittieret.


Denn kehren jetzt die Franzosen zurück,

So muß ich vor ihnen erröten,

Ich, der um ihre Rückkehr so oft

Mit Tränen zum Himmel gebeten.


Ich habe sie immer so liebgehabt,

Die lieben kleinen Französchen –

Singen und springen sie noch wie sonst?

Tragen noch weiße Höschen?


Ich möchte sie gerne wiedersehn,

Doch fürcht ich die Persiflage,

Von wegen des verwünschten Lieds,

Von wegen der Blamage.


Der Alfred de Musset, der Gassenbub',

Der kommt an ihrer Spitze

Vielleicht als Tambour, und trommelt mir vor

All seine schlechten Witze.«


So klagte der arme Vater Rhein,

Konnt sich nicht zufriedengeben.

Ich sprach zu ihm manch tröstendes Wort,

Um ihm das Herz zu heben:
[447]

»O fürchte nicht, mein Vater Rhein,

Den spöttelnden Scherz der Franzosen;

Sie sind die alten Franzosen nicht mehr,

Auch tragen sie andere Hosen.


Die Hosen sind rot und nicht mehr weiß,

Sie haben auch andere Knöpfe,

Sie singen nicht mehr, sie springen nicht mehr,

Sie senken nachdenklich die Köpfe.


Sie philosophieren und sprechen jetzt

Von Kant, von Fischte und Hegel,

Sie rauchen Tabak, sie trinken Bier,

Und manche schieben auch Kegel.


Sie werden Philister ganz wie wir,

Und treiben es endlich noch ärger;

Sie sind keine Voltairianer mehr,

Sie werden Hengstenberger.


Der Alfred de Musset, das ist wahr,

Ist noch ein Gassenjunge;

Doch fürchte nichts, wir fesseln ihm

Die schändliche Spötterzunge.


Und trommelt er dir einen schlechten Witz,

So pfeifen wir ihm einen schlimmern,

Wir pfeifen ihm vor, was ihm passiert

Bei schönen Frauenzimmern.


Gib dich zufrieden, Vater Rhein,

Denk nicht an schlechte Lieder,

Ein besseres Lied vernimmst du bald –

Leb wohl, wir sehen uns wieder.«
[448]

Quelle:
Heinrich Heine: Werke und Briefe in zehn Bänden. Band 1, Berlin und Weimar 21972, S. 446-449.
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