[422] Paris, Mitte April 1842
Als ich vorigen Sommer an einem schönen Nachmittag in Cette anlangte, sah ich, wie eben längs dem Kai, vor welchem sich das Mittelländische Meer ausbreitet, die Prozession vorüberzog, und ich werde nie diesen Anblick vergessen. Voran schritten die Brüderschaften in ihren roten, weißen oder schwarzen Gewanden, die Büßer mit übers Haupt gezogenen Kapuzen, worin zwei Löcher, woraus die Augen gespenstisch hervorlugten; in den Händen brennende Wachskerzen oder Kreuzfahnen. Dann kamen die verschiedenen Mönchsorden. Auch eine Menge Laien, Frauen und Männer, blasse, gebrochene Gestalten, die gläubig einherschwankten, mit rührend kummervollem Singsang. Ich war dergleichen oft in meiner Kindheit am Rhein begegnet, und ich kann nicht leugnen, daß jene Töne eine gewisse Wehmut, eine Art Heimweh in mir weckten. Was ich aber früher noch nie gesehen und was nachbarlich spanische Sitte zu sein schien, war die Truppe von Kindern, welche die Passion darstellten. Ein kleines Bübchen, kostümiert, wie man den Heiland abzubilden pflegt, die Dornenkrone auf dem Haupt, dessen schönes Goldhaar traurig lang herabwallte, keuchte gebückt einher unter der Last eines ungeheuer großen Holzkreuzes; auf der Stirn grell gemalte Blutstropfen und Wundenmale an den Händen und nackten Füßen. Zur Seite ging ihm ein ganz schwarz gekleidetes kleines Mädchen, welches, als schmerzenreiche Mutter, mehre Schwerter mit vergoldeten Heften an der Brust trug und fast in Tränen zerfloß – ein Bild tiefster Betrübnis. Andere kleine Knaben, die hinterdrein gingen, stellten die Apostel vor, darunter auch Judas, mit rotem Haar und einen Beutel in der Hand. Ein[422] paar Bübchen waren auch als römische Landsknechte behelmt und bewehrt und schwangen ihre Säbel. Mehre Kinder trugen Ordenshabit und Kirchenornat: kleine Kapuziner, kleine Jesuitchen, kleine Bischöfe mit Inful und Krummstab, allerliebste Nönnchen, gewiß keines über sechs Jahre alt. Und sonderbar, es waren darunter auch einige Kinder als Amoretten gekleidet, mit seidenen Flügeln und goldenen Köchern, und in der unmittelbarsten Nähe des kleinen Heilands wackelten zwei noch viel kleinere, höchstens vierjährige Geschöpfchen in altfränkischer Schäfertracht, mit bebänderten Hütchen und Stäben, zum Küssen niedlich, wie Marzipanpüppchen: sie repräsentierten wahrscheinlich die Hirten, die an der Krippe des Christkindes gestanden. Sollte man es aber glauben, dieser Anblick erregte in der Seele des Zuschauers die ernstvoll andächtigsten Gefühle, und daß es kleine unschuldige Kinder waren, die das größte, kolossalste Martyrtum tragierten, wirkte um so rührender! Das war keine Nachäffung im historischen Großstil, keine schiefmäulige Frommtuerei, keine Berliner Glaubenslüge: das war der naivste Ausdruck des tiefsinnigsten Gedankens, und die herablassend kindliche Form verhinderte eben, daß der Inhalt vernichtend auf unser Gemüt wirkte oder sich selbst vernichtete. Dieser Inhalt ist ja von so ungeheuerlicher Schmerzensgewalt und Erhabenheit, daß er die heroisch-grandioseste und pathetisch-ausgereckteste Darstellungsart überragt und sprengt. Deshalb haben die größten Künstler sowohl in der Malerei als in der Musik die überschwenglichen Schrecknisse der Passion mit soviel Blumen als möglich verlieblicht und den blutigen Ernst durch spielende Zärtlichkeit gemildert – und so tat auch Rossini, als er sein »Stabat mater« komponierte.
Letzteres, das »Stabat« von Rossini, war die hervorragende Merkwürdigkeit der hingeschiedenen Saison, die Besprechung desselben ist noch immer an der Tagesordnung, und eben die Rügen, die von norddeutschem Standpunkt aus gegen den großen Meister laut werden, beurkunden recht schlagend die Ursprünglichkeit und Tiefe seines Genius. Die Behandlung sei[423] zu weltlich, zu sinnlich, zu spielend für den geistlichen Stoff, sie sei zu leicht, zu angenehm, zu unterhaltend – so stöhnen die Klagen einiger schweren, langweiligen Kritikaster, die, wenn auch nicht absichtlich, eine übertriebene Spiritualität erheucheln, doch jedenfalls von der heiligen Musik sehr beschränkte, sehr irrige Begriffe sich angequält. Wie bei den Malern, so herrscht auch bei den Musikern eine ganz falsche Ansicht über die Behandlung christlicher Stoffe. Jene glauben, das wahrhaft Christliche müsse in subtilen magern Konturen und so abgehärmt und farblos als möglich dargestellt werden; die Zeichnungen von Overbeck sind in dieser Beziehung ihr Ideal. Um dieser Verblendung durch eine Tatsache zu widersprechen, mache ich nur auf die Heiligenbilder der spanischen Schule aufmerksam; hier ist das Volle der Konturen und der Farbe vorherrschend, und es wird doch niemand leugnen, daß diese spanischen Gemälde das ungeschwächteste Christentum atmen und ihre Schöpfer gewiß nicht minder glaubenstrunken waren als die berühmten Meister, die in Rom zum Katholizismus übergegangen sind, um mit unmittelbarer Inbrunst malen zu können. Nicht die äußere Dürre und Blässe ist ein Kennzeichen des wahrhaft Christlichen in der Kunst, sondern eine gewisse innere Überschwenglichkeit, die weder angetauft noch anstudiert werden kann, in der Musik wie in der Malerei, und so finde ich auch das »Stabat« von Rossini wahrhaft christlicher als den »Paulus«, das Oratorium von Felix Mendelssohn-Bartholdy, das von den Gegnern Rossinis als ein Muster der Christentümlichkeit gerühmt wird.
Der Himmel bewahre mich, gegen einen so verdienstvollen Meister wie der Verfasser des »Paulus« hierdurch einen Tadel aussprechen zu wollen, und am allerwenigsten wird es dem Schreiber dieser Blätter in den Sinn kommen, an der Christlichkeit des erwähnten Oratoriums zu mäkeln, weil Felix Mendelssohn-Bartholdy von Geburt ein Jude ist. Aber ich kann doch nicht unterlassen, darauf hinzudeuten, daß in dem Alter, wo Herr Mendelssohn in Berlin das Christentum anfing (er wurde nämlich erst in seinem dreizehnten Jahr getauft),[424] Rossini es bereits verlassen und sich ganz in die Weltlichkeit der Opernmusik gestürzt hatte. Jetzt, wo er diese wieder verließ und sich zurückträumte in seine katholischen Jugenderinnerungen, in die Zeiten, wo er im Dom zu Pesaro als Chorschüler mitsang oder als Akoluth bei der Messe fungierte – jetzt, wo die alten Orgeltöne wieder in seinem Gedächtnis aufrauschten und er die Feder ergriff, um ein »Stabat« zu schreiben: da brauchte er wahrlich den Geist des Christentums nicht erst wissenschaftlich zu konstruieren, noch viel weniger Händel oder Sebastian Bach sklavisch zu kopieren; er brauchte nur die frühesten Kindheitsklänge wieder aus seinem Gemüt hervorzurufen, und, wunderbar! so ernsthaft, so schmerzentief auch diese Klänge ertönen, so gewaltig sie auch das Gewaltigste ausseufzen und ausbluten, so behielten sie doch etwas Kindheitliches und mahnten mich an die Darstellung der Passion durch Kinder, die ich in Cette gesehen. Ja, an diese kleine fromme Mummerei mußte ich unwillkürlich denken, als ich der Aufführung des »Stabat« von Rossini zum erstenmal beiwohnte: das ungeheure erhabene Martyrium ward hier dargestellt, aber in den naivsten Jugendlauten, die furchtbaren Klagen der Mater dolorosa ertönten, aber wie aus unschuldig kleiner Mädchenkehle, neben den Flören der schwärzesten Trauer rauschten die Flügel aller Amoretten der Anmut, die Schrecknisse des Kreuztodes waren gemildert wie von tändelndem Schäferspiel, und das Gefühl der Unendlichkeit umwogte und umschloß das Ganze wie der blaue Himmel, der auf die Prozession von Cette herableuchtete, wie das blaue Meer, an dessen Ufer sie singend und klingend dahinzog! Das ist die ewige Holdseligkeit des Rossini, seine unverwüstliche Milde, die kein Impresario und kein Marchand de musique zugrunde ärgern konnte oder auch nur zu trüben vermochte! Wie schnöde, wie abgefeimt tückisch ihm auch oftmals mitgespielt wurde im Leben, so finden wir doch in seinen musikalischen Produkten nicht eine Spur von Galle. Gleich jener Quelle Arethusa, die ihre ursprüngliche Süßigkeit bewahrte, obgleich sie die bittern Gewässer des Meers durchzogen, so[425] behielt auch das Herz Rossinis seine melodische Lieblichkeit und Süße, obgleich es aus allen Wermutskelchen dieser Welt hinlänglich gekostet.
Wie gesagt, das »Stabat« des großen Maestro war dieses Jahr die vorherrschende musikalische Begebenheit. Über die erste tonangebende Exekution brauche ich nichts zu melden; genug, die Italiener sangen. Der Saal der Italienischen Oper schien der Vorhof des Himmels; dort schluchzten heilige Nachtigallen und flossen die fashionabelsten Tränen. Auch die »France musicale« gab in ihren Konzerten den größten Teil des »Stabat«, und, wie sich von selbst versteht, mit ungeheurem Beifall. In diesen Konzerten hörten wir auch den »Paulus« des Herrn Felix Mendelssohn-Bartholdy, der durch diese Nachbarschaft eben unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nahm und die Vergleichung mit Rossini von selber hervorrief. Bei dem großen Publikum gereichte diese Vergleichung keineswegs zum Vorteil unseres jungen Landsmanns: es ist auch, als vergliche man die Apenninen Italiens mit dem Templower Berg bei Berlin. Aber der Templower Berg hat darum nicht weniger Verdienste, und den Respekt der großen Menge erwirbt er sich schon dadurch, daß er ein Kreuz auf seinem Gipfel trägt. »Unter diesem Zeichen wirst du siegen.« Freilich nicht in Frankreich, dem Lande der Ungläubigkeit, wo Herr Mendelssohn immer Fiasko gemacht hat. Er war das geopferte Lamm der Saison, während Rossini der musikalische Löwe war, dessen süßes Gebrüll noch immer forttönt. Es heißt hier, Herr Felix Mendelssohn werde dieser Tage persönlich nach Paris kommen. Soviel ist gewiß, durch hohe Verwendung und diplomatische Bemühungen ist Herr Léon Pillet dahin gebracht worden, ein Libretto von Herrn Scribe anfertigen zu lassen, das Herr Mendelssohn für die Große Oper komponieren soll. Wird unser junger Landsmann sich diesem Geschäft mit Glück unterziehen? Ich weiß nicht. Seine künstlerische Begabnis ist groß; doch hat sie sehr bedenkliche Grenzen und Lücken. Ich finde in talentlicher Beziehung eine große Ähnlichkeit zwischen Herrn Felix Mendelssohn und der Mademoiselle Rachel[426] Félix, der tragischen Künstlerin. Eigentümlich ist beiden ein großer, strenger, sehr ernsthafter Ernst, ein entschiedenes, beinahe zudringliches Anlehnen an klassische Muster, die feinste, geistreichste Berechnung, Verstandesschärfe und endlich der gänzliche Mangel an Naivetät. Gibt es aber in der Kunst eine geniale Ursprünglichkeit ohne Naivetät? Bis jetzt ist dieser Fall noch nicht vorgekommen.
Paris, 2. Juni 1842
Die Académie des sciences morales et politiques hat sich nicht blamieren wollen, und in ihrer Sitzung vom 28. Mai prorogierte sie bis 1844 die Krönung des besten examen critique de la philosophie allemande. Unter diesem Titel hatte sie nämlich eine Preisaufgabe angekündigt, deren Lösung nichts Geringeres beabsichtigte als eine beurteilende Darstellung der deutschen Philosophie von Kant bis auf die heutige Stunde, mit besonderer Berücksichtigung des ersteren, des großen Immanuel Kant, von dem die Franzosen so viel reden gehört, daß sie schier neugierig geworden. Einst wollte sogar Napoleon sich über die Kantsche Philosophie unterrichten, und er beauftragte irgendeinen französischen Gelehrten, ihm ein Resümee derselben zu liefern, welches aber auf einige Quartseiten zusammengedrängt sein müsse. Fürsten brauchen nur zu befehlen. Das Resümee ward unverzüglich und in vorgeschriebener Form angefertigt. Wie es ausfiel, weiß der liebe Himmel, und nur soviel ist mir bekannt, daß der Kaiser, nachdem er die wenigen Quartseiten aufmerksam durchgelesen, die Worte aussprach: »Alles dieses hat keinen praktischen Wert, und die Welt wird wenig gefördert durch Menschen wie Kant, Cagliostro, Swedenborg und Philadelphia.« – Die große Menge in Frankreich hält Kant noch immer für einen neblichten, wo nicht gar benebelten Schwärmer, und noch jüngst las ich in einem französischen Romane die Phrase: »le vague mystique de Kant«. Einer der größten Philosophen der Franzosen[427] ist unstreitig Pierre Leroux, und dieser gestand mir vor sechs Jahren: erst aus der »Allemagne« von Henri Heine habe er die Einsicht gewonnen, daß die deutsche Philosophie nicht so mystisch und religiös sei, wie man das französische Publikum bisher glauben machte, sondern im Gegenteil sehr kalt, fast frostig abstrakt und ungläubig bis zur Negation des Allerhöchsten.
In der erwähnten Sitzung der Akademie gab uns Mignet, der Secrétaire perpétuel, eine notice historique über das Leben und Wirken des verstorbenen Destutt de Tracy. Wie in allen seinen Erzeugnissen beurkundete Mignet auch hier sein schönes, großes Darstellungstalent, seine bewunderungswürdige Kunst des Auffassens aller charakteristischen Zeitmomente und Lebensverhältnisse, seine heitere, klare Verständlichkeit. Seine Rede über Destutt de Tracy ist bereits im Druck erschienen, und es bedarf also hier keines ausführlichen Referats. Nur beiläufig will ich einige Bemerkungen hinwerfen, die sich mir besonders aufdrängten, während Mignet das schöne Leben jenes Edelmanns erzählte, der dem stolzesten Feudaladel entsprossen und während seiner Jugend ein wackerer Soldat war, aber dennoch mit großmütigster Selbstverleugnung und Selbstaufopferung die Partei des Fortschrittes ergriff und ihr bis zum letzten Atemzug treu blieb. Derselbe Mann, der mit Lafayette in den achtziger Jahren für die Sache der Freiheit Gut und Blut einsetzte, fand sich mit dem alten Freunde wieder zusammen am 29. Juli 1830 bei den Barrikaden von Paris, unverändert in seinen Gesinnungen; nur seine Augen waren erloschen, sein Herz war licht und jung geblieben. Der französische Adel hat sehr viele, erstaunlich viele solcher Erscheinungen hervorgebracht, und das Volk weiß es auch, und diese Edelleute, die seinen Interessen solche Ergebenheit bewiesen, nennt es »les bons nobles«. Mißtrauen gegen den Adel im allgemeinen mag sich in revolutionären Zeiten zwar als nützlich herausstellen, wird aber immer eine Ungerechtigkeit bleiben. In dieser Beziehung gewährt uns eine große Lehre das Leben eines Tracy, eines Rochefoucauld, eines[428] d'Argenson, eines Lafayette und ähnlicher Ritter der Volksrechte.
Gerade, unbeugsam und schneidend, wie einst sein Schwert, war der Geist des Destutt de Tracy, als er sich später in jene materialistische Philosophie warf, die in Frankreich durch Condillac zur Herrschaft gelangte. Letzterer wagte nicht die letzten Konsequenzen dieser Philosophie auszusprechen, und wie die meisten seiner Schule ließ er dem Geiste immer noch ein abgeschiedenes Winkelchen im Universalreiche der Materie. Destutt de Tracy aber hat dem Geiste auch dieses letzte Refugium aufgekündigt, und seltsam! zu derselben Zeit, wo bei uns in Deutschland der Idealismus auf die Spitze getrieben und die Materie geleugnet wurde, erklomm in Frankreich das materialistische Prinzip seinen höchsten Gipfel, und man leugnete hier den Geist. Destutt de Tracy war sozusagen der Fichte des Materialismus.
Es ist ein merkwürdiger Umstand, daß Napoleon gegen die philosophische Koterie, wozu Tracy, Cabanis und Konsorten gehörten, eine so besorgliche Abneigung hegte und sie mitunter sehr streng behandelte. Er nannte sie Ideologen, und er empfand eine vage, schier abergläubische Furcht vor jener Ideologie, die doch nichts anderes war als der schäumende Aufguß der materialistischen Philosophie; diese hatte freilich die größte Umwälzung gefördert und die schauerlichsten Zerstörungskräfte offenbart, aber ihre Mission war vollbracht und also auch ihr Einfluß beendigt. Bedrohlicher und gefährlicher war jene entgegengesetzte Doktrin, die unbeachtet in Deutschland emportauchte und späterhin soviel beitrug zum Sturz der französischen Gewaltherrschaft. Es ist merkwürdig, daß Napoleon auch in diesem Fall nur die Vergangenheit begriff und für die Zukunft weder Ohr noch Auge hatte. Er ahnte einen verderblichen Feind im Reich des Gedankens, aber er suchte diesen Feind unter alten Perücken, die noch vom Puder des achtzehnten Jahrhunderts stäubten; er suchte ihn unter französischen Greisen, statt unter der blonden Jugend der deutschen Hochschulen. Da war unser Vierfürst Herodes viel gescheiter,[429] als er die gefährliche Brut in der Wiege verfolgte und den Kindermord befahl. Doch auch ihm fruchtete nicht viel die größere Pfiffigkeit, die an dem Willen der Vorsehung zuschanden wurde – seine Schergen kamen zu spät, das furchtbare Kind war nicht mehr in Bethlehem, ein treues Eselein trug es rettend nach Ägypten. Ja, Napoleon besaß Scharfblick nur für Auffassung der Gegenwart oder Würdigung der Vergangenheit, und er war stockblind für jede Erscheinung, worin sich die Zukunft ankündigte. Er stand auf dem Balkon seines Schlosses zu Saint-Clond, als das erste Dampfschiff dort auf der Seine vorüberfuhr, und er merkte nicht im mindesten die weltumgestaltende Bedeutung dieses Phänomens!
Paris, 20. Juni 1842
In einem Lande, wo die Eitelkeit so viele eifrige Jünger zählt, wird die Zeit der Deputiertenwahl immer eine sehr bewegte sein. Da die Deputation aber nicht bloß die Eigenliebe kitzelt, sondern auch zu den fettesten Ämtern und zu den einträglichsten Einflüssen führt; da hier also nicht bloß der Ehrgeiz, sondern auch die Habsucht ins Spiel kommt; da es sich hier auch um jene materiellen Interessen handelt, denen unser Zeitalter so inbrünstig huldigt: so ist die Deputiertenwahl ein wahrer Wettlauf, ein Pferderennen, dessen Anblick für den fremden Zuschauer eher kurios als erfreulich sein mag. Es sind nämlich nicht eben die schönsten und besten Pferde, die bei solchem Rennen zum Vorschein kommen, nicht die inwohnenden Tugenden der Stärke, des Vollbluts, der Ausdauer kommen hier in Anschlag, sondern nur die leichtfüßige Behendigkeit. Manches edle Roß, dem der feurigste Schlachtmut aus den Nüstern schnaubt und Vernunft aus den Augen blitzt, muß hier einem magern Klepper nachstehen, der aber zu Triumphen auf dieser Bahn ganz besonders abgerichtet worden. Überstolze, störrige Gäule geraten hier schon beim ersten Anlauf in unzeitiges Bäumen, oder sie vergaloppieren sich. Nur die[430] dressierte Mittelmäßigkeit erreicht das Ziel. Daß ein Pegasus beim parlamentarischen Rennen kaum zugelassen wird und tausenderlei Ungunst zu erfahren hat, versteht sich von selbst; denn der Unglückselige hat Flügel und könnte sich einst höher emporschwingen, als der Plafond des Palais Bourbon gestattet. Eine merkwürdige Erscheinung, daß unter den Wettrennern fast ein Dutzend von arabischer oder, um noch deutlicher zu sprechen, von semitischer Rasse. Doch was geht das uns an! Uns interessiert nicht dieser mäkelnde Lärm, dieses Stampfen und Wiehern der Selbstsucht, dieses Getümmel der schäbigsten Zwecke, die sich mit den brillantesten Farben geschmückt, das Geschrei der Stallknechte und der stäubende Mist – uns kümmert bloß zu erfahren: werden die Wahlen zugunsten oder zum Nachteil des Ministeriums ausfallen? Man kann hierüber noch nichts Bestimmtes melden. Und doch ist das Schicksal Frankreichs und vielleicht der ganzen Welt von der Frage abhängig, ob Guizot in der neuen Kammer die Majorität behalten wird oder nicht. Hiermit will ich keineswegs der Vermutung Raum geben, als könnten unter den neuen Deputierten sich ganz gewaltige Eisenfresser auftun und die Bewegung aufs höchste treiben. Nein, diese Ankömmlinge werden nur klingende Worte zu Markte bringen und sich vor der Tat ebenso bescheidentlich fürchten wie ihre Vorgänger; der entschiedenste Neuerer in der Kammer will nicht das Bestehende gewaltsam umstürzen, sondern nur die Befürchtungen der obern Mächte und die Hoffnungen der untern für sich selber ausbeuten. Aber die Verwirrungen, Verwicklungen und momentanen Nöten, worin die Regierung infolge dieses Treibens geraten kann, geben den dunkeln Gewalten, die im verborgenen lauern, das Signal zum Losbruch, und wie immer erwartet die Revolution eine parlamentarische Initiative. Das entsetzliche Rad käme dann wieder in Bewegung, und wir sähen diesmal einen Antagonisten auftreten, welcher der schrecklichste sein dürfte von allen, die bisher mit dem Bestehenden in die Schranken getreten. Dieser Antagonist bewahrt noch sein schreckliches Inkognito und residiert wie ein dürftiger Prätendent in[431] jenem Erdgeschoß der offiziellen Gesellschaft, in jenen Katakomben, wo unter Tod und Verwesung das neue Leben keimt und knospet. Kommunismus ist der geheime Name des furchtbaren Antagonisten, der die Proletarierherrschaft in allen ihren Konsequenzen dem heutigen Bourgeoisieregimente entgegensetzt. Es wird ein furchtbarer Zweikampf sein. Wie möchte er enden? Das wissen die Götter und Göttinnen, denen die Zukunft bekannt ist. Nur soviel wissen wir: der Kommunismus, obgleich er jetzt wenig besprochen wird und in verborgenen Dachstuben auf seinem elenden Strohlager hinlungert, so ist er doch der düstre Held, dem eine große, wenn auch nur vorübergehende Rolle beschieden in der modernen Tragödie und der nur des Stichworts harrt, um auf die Bühne zu treten. Wir dürfen daher diesen Akteur nie aus den Augen verlieren, und wir wollen zuweilen von den geheimen Proben berichten, worin er sich zu seinem Debüt vorbereitet. Solche Hindeutungen sind vielleicht wichtiger als alle Mitteilungen über Wahlumtriebe, Parteihader und Kabinettsintrigen.
Paris, 12. Juli 1842
Das Resultat der Wahlen werden Sie aus den Zeitungen ersehen. Hier in Paris braucht man nicht erst die Blätter darüber zu konsultieren, es ist auf allen Gesichtern zu lesen. Gestern sah es hier sehr schwül aus, und die Gemüter verrieten eine Aufregung, wie ich sie nur in großen Krisen bemerkt habe. Die alten wohlbekannten Sturmvögel rauschten wieder unsichtbar durch die Luft, und die schläfrigsten Köpfe wurden plötzlich aufgeweckt aus der zweijährigen Ruhe. Ich gestehe, daß ich selbst, angeweht von dem furchtbaren Flügelschlag, ein gewaltiges Herzbeben empfand. Ich fürchte mich immer im ersten Anfang, wenn ich die Dämonen der Umwälzung entzügelt sehe; späterhin bin ich sehr gefaßt, und die tollsten Erscheinungen können mich weder beunruhigen noch überraschen, eben weil ich sie vorausgesehen. Was wäre das Ende[432] dieser Bewegung, wozu Paris wieder, wie immer, das Signal gegeben? Es wäre der Krieg, der gräßlichste Zerstörungskrieg, der leider die beiden edelsten Völker der Zivilisation in die Arena riefe zu beider Verderben; ich meine Deutschland und Frankreich. England, die große Wasserschlange, die immer in ihr ungeheures Wassernest zurückkriechen kann, und Rußland, das in seinen ungeheuren Föhren, Steppen und Eisgefilden ebenfalls die sichersten Verstecke hat, diese beiden können in einem gewöhnlichen politischen Kriege, selbst durch die entschiedensten Niederlagen, nicht ganz zugrunde gerichtet werden: – aber Deutschland ist in solchen Fällen weit schlimmer bedroht, und gar Frankreich könnte in der kläglichsten Weise seine politische Existenz einbüßen. Doch das wäre nur der erste Akt des großen Spektakelstücks, gleichsam das Vorspiel. Der zweite Akt ist die europäische, die Weltrevolution, der große Zweikampf der Besitzlosen mit der Aristokratie des Besitzes, und da wird weder von Nationalität noch von Religion die Rede sein: nur ein Vaterland wird es geben, nämlich die Erde, und nur einen Glauben, nämlich das Glück auf Erden. Werden die religiösen Doktrinen der Vergangenheit in allen Landen sich zu einem verzweiflungsvollen Widerstand erheben, und wird etwa dieser Versuch den dritten Akt bilden? Wird gar die alte absolute Tradition nochmals auf die Bühne treten, aber in einem neuen Kostüm und mit neuen Stich- und Schlagwörtern? Wie würde dieses Schauspiel schließen? Ich weiß nicht, aber ich denke, daß man der großen Wasserschlange am Ende das Haupt zertreten und dem Bären des Nordens das Fell über die Ohren ziehen wird. Es wird vielleicht alsdann nur einen Hirten und eine Herde geben, ein freier Hirt mit einem eisernen Hirtenstabe und eine gleichgeschorene, gleichblökende Menschenherde! Wilde, düstere Zeiten dröhnen heran, und der Prophet, der eine neue Apokalypse schreiben wollte, müßte ganz neue Bestien erfinden, und zwar so erschreckliche, daß die älteren Johanneischen Tiersymbole dagegen nur sanfte Täubchen und Amoretten wären. Die Götter verhüllen ihr Antlitz aus Mitleid mit den Menschenkindern,[433] ihren langjährigen Pfleglingen, und vielleicht zugleich auch aus Besorgnis über das eigene Schicksal. Die Zukunft riecht nach Juchten, nach Blut, nach Gottlosigkeit und nach sehr vielen Prügeln. Ich rate unsern Enkeln, mit einer sehr dicken Rückenhaut zur Welt zu kommen.
Paris, 15. Juli 1842
Meine dunkle Ahnung hat mich leider nicht getäuscht; die trübe Stimmung, die mich seit einigen Tagen fast beugte und mein Auge umflorte, war das Vorgefühl eines Unglücks. Nach dem jauchzenden Übermut von vorgestern ist gestern ein Schrecken, eine Bestürzung eingetreten, die unbeschreiblich, und die Pariser gelangen durch einen unvorhergesehenen Todesfall zur Erkenntnis, wie wenig die hiesigen Zustände gesichert und wie gefährlich jedes Rütteln. Und sie wollten doch nur ein bißchen rütteln, keineswegs durch allzu starke Stöße das Staatsgebäude erschüttern. Wäre der Herzog von Orleans einige Tage früher gestorben, so hätte Paris keine zwölf Oppositionsdeputierten im Gegensatz zu zwei Konservativen gewählt und nicht durch diesen ungeheuren Akt die Bewegung wieder in Bewegung gesetzt. Dieser Todesfall stellt alles Bestehende in Frage, und es wird ein Glück sein, wenn die Anordnung der Regentschaft, für den Fall des Ablebens des jetzigen Königs, so bald als möglich und ohne Störnis von den Kammern beraten und beschlossen wird. Ich sage von den Kammern, denn das königliche Hausgesetz ist hier nicht ausreichend wie in andern Ländern. Die Diskussionen über die Regentschaft werden daher die Kammern zunächst beschäftigen und den Leidenschaften Worte leihen. Und geht auch alles ruhig vonstatten, so steht uns doch ein provisorisches Interregnum bevor, das immer ein Mißgeschick und ein ganz besonders schlimmes Mißgeschick ist für ein Land, wo die Verhältnisse noch so wackelig sind und eben der Stabilität am meisten bedürfen. Der König soll in seinem Unglück die höchste Charakterstärke[434] und Besonnenheit beweisen, obgleich er schon seit einigen Wochen sehr niedergeschlagen war. Sein Geist ward in der letzten Zeit durch sonderbare Ahnungen getrübt. Er soll unlängst an Thiers, vor dessen Abreise, einen Brief geschrieben haben, worin er sehr viel vom Sterben sprach, aber er dachte gewiß nur an den eigenen Tod. Der verstorbene Herzog von Orleans war allgemein geliebt, ja angebetet. Die Nachricht seines Todes traf wie ein Blitz aus heiterm Himmel, und Betrübnis herrscht unter allen Volksklassen. Um zwei Uhr gestern nachmittag verbreitete sich auf der Börse, wo die Fonds gleich um drei Francs fielen, ein dumpfes Unglücksgerücht. Aber niemand wollte recht daran glauben. Auch starb der Prinz erst um vier Uhr, und der Todesnachricht ward bis um diese Zeit von vielen Seiten widersprochen. Noch um fünf Uhr bezweifelte man sie. Als aber um sechs Uhr vor den Theatern ein weißer Papierstreif über die Komödienzettel geklebt und relâche angekündigt wurde, da merkte jeder die schreckliche Wahrheit. Wie sie angetänzelt kamen, die geputzten Französinnen, und statt des gehofften Schauspiels nur die verschlossenen Türen sahen und von dem Unglück hörten, das bei Neuilly, auf dem Weg, der le chemin de la révolte heißt, passiert war, da stürzten die Tränen aus manchen schönen Augen, da war nichts als ein Schluchzen und Jammern um den schönen Prinzen, der so hübsch und so jung dahinsank, eine teure, ritterliche Gestalt, Franzose im liebenswürdigsten Sinne, in jeder Beziehung der nationalen Beklagnis würdig. Ja, er fiel in der Blüte seines Lebens, ein heiterer, heldenmütiger Jüngling, und er verblutete so rein, so unbefleckt, so beglückt, gleichsam unter Blumen, wie einst Adonis! Wenn er nur nicht gleich nach seinem Tod in schlechten Versen und in noch schlechterer Lakaienprosa gefeiert wird! Doch das ist das Los des Schönen hier auf Erden. Vielleicht, während der wahrhafteste und stolzeste Schmerz das französische Volk erfüllt und nicht bloß schöne Frauentränen dem Hingeschiedenen fließen, sondern auch freie Männertränen sein Andenken ehren, hält sich die offizielle Trauer schon etwelche Zwiebeln vor die Nase, um[435] betrüglich zu flennen, und gar die Narrheit windet schwarze Flöre um die Glöckchen ihrer Kappe, und wir hören bald das tragikomische Geklingel. Besonders die larmoyante Faselhanselei, lauwarmes Spülicht der Sentimentalität, wird sich bei dieser Gelegenheit geltend machen. Vielleicht zu dieser Stunde schon keucht Laffitte nach Neuilly und umarmt den König mit deutschester Rührung, und die ganze Opposition wischt sich das Wasser aus den Augen. Vielleicht schon in dieser Stunde besteigt Chateaubriand sein melancholisches Flügelroß, seine gefiederte Rosinante, und schreibt eine hohltönende Kondolation an die Königin. Widerwärtige Weichlichkeit und Fratze! und der Zwischenraum ist sehr klein, der hier das Erhabene vom Lächerlichen trennt. Wie gesagt, vor den Theatern auf den Boulevards erfuhr man gestern die Gewißheit des betrübsamen Ereignisses, und hier bildeten sich überall Gruppen um die Redner, welche die nähern Umstände mit mehr oder weniger Zutat und Ausschmückung erzählten. Mancher alte Schwätzer, der sonst nie Zuhörer findet, benutzte diese Gelegenheit, um ein aufmerksames Publikum um sich zu versammeln und die öffentliche Neugier im Interesse seiner Rhetorik auszubeuten. Da stand ein Kerl vor den Variétés, der ganz besonders pathetisch deklamierte, wie Theramen in der »Phädra«: »Il était sur son char« usw. Es hieß allgemein, indem der Prinz vom Wagen stürzte, sei sein Degen gebrochen und der obere Stumpf ihm in die Brust gedrungen. Ein Augenzeuge wollte wissen, daß er noch einige Worte gesprochen, aber in deutscher Sprache. Übrigens herrschte gestern überall eine leidende Stille, und auch heute zeigt sich in Paris keine Spur von Unruhe.
Paris, 19. Juli 1842
Der verstorbene Herzog von Orleans bleibt fortwährend das Tagesgespräch. Noch nie hat das Ableben eines Menschen so allgemeine Trauer erregt. Es ist merkwürdig, daß in Frankreich, wo die Revolution noch nicht ausgegärt, die Liebe für[436] einen Fürsten so tief wurzeln und sich so großartig manifestieren konnte. Nicht bloß die Bourgeoisie, die alle ihre Hoffnungen in den jungen Prinzen setzte, sondern auch die untern Volksklassen beklagen seinen Verlust. Als man das Juliusfest vertagte und auf der Place de la Concorde die großen Gerüste abbrach, die zur Illumination dienen sollten, war es ein herzzerreißender Anblick, wie das Volk sich auf die niedergerissenen Balken und Bretter setzte und über den Tod des teuren Prinzen jammerte. Eine düstere Betrübnis lag auf allen Gesichtern, und der Schmerz derjenigen, die kein Wort sprachen, war am beredsamsten. Da flossen die redlichsten Tränen, und unter den Weinenden war gewiß mancher, der in der Tabagie mit seinem Republikanismus prahlt.
Aber für Frankreich ist der Tod des jungen Prinzen ein wirkliches Unglück, und er dürfte weniger Tugenden besessen haben, als ihm nachgerühmt werden, so hätten doch die Franzosen hinlängliche Ursache zum Weinen, wenn sie an die Zukunft denken. Die Regentschaftsfrage beschäftigt schon alle Köpfe und leider nicht bloß die gescheiten. Viel Unsinn wird bereits zu Markt gebracht. Auch die Arglist weiß hier eine Ideenverwirrung anzuzetteln, die sie zu ihren Parteizwecken auszubeuten hofft und die in jedem Fall sehr bedenkliche Folgen haben kann. Genießt der Herzog von Nemours wirklich die allerhöchste Ungnade des souveränen Volks, wie mit übertriebenem Eifer behauptet wird? Ich will nicht darüber urteilen. Noch weniger will ich die Gründe seiner Ungnade untersuchen. Das Vornehme, Feine, Ablehnende, Patrizierhafte in der Erscheinung des Prinzen ist wohl der eigentliche Anklagepunkt. Das Aussehen des Orleans war edel, das Aussehen des Nemours ist adelig. Und selbst wenn das Äußere dem Innern entspräche, wäre der Prinz deshalb nicht minder geeignet, einige Zeit als Gonfaloniere der Demokratie derselben die besten Dienste zu leisten, da dieses Amt, durch die Macht der Verhältnisse, ihm die größte Verleugnung der Privatgefühle geböte: denn sein verhaßtes Haupt stünde hier auf dem Spiele. Ich bin sogar überzeugt, die Interessen der Demokratie sind[437] weit weniger gefährdet durch einen Regenten, dem man wenig traut und den man beständig kontrolliert, als durch einen jener Günstlinge des Volks, denen man sich mit blinder Vorliebe hingibt und die am Ende doch nur Menschen sind, wandelbare Geschöpfe, unterworfen den Veränderungsgesetzen der Zeit und der eigenen Natur. Wie viele populäre Kronprinzen haben wir unbeliebt enden sehen! Wie grauenhaft wetterwendisch zeigte sich das Volk in bezug auf die ehemaligen Lieblinge! Die französische Geschichte ist besonders reich an betrübenden Beispielen. Mit welchem Freudejauchzen umjubelte das Volk den jungen Ludwig XIV. – mit tränenlosem Kaltsinn sah es den Greis begraben. Ludwig XV. hieß mit Recht le bien-aimé, und mit wahrer Affenliebe huldigten ihm die Franzosen im Anfang; als er starb, lachte man und pfiff man Schelmenlieder: man freute sich über seinen Tod. Seinem Nachfolger Ludwig XVI. ging es noch schlimmer, und er, der als Kronprinz fast angebetet wurde und der im Beginn seiner Regierung für das Muster aller Vollkommenheit galt, er ward von seinem Volke persönlich mißhandelt, und sein Leben ward sogar verkürzt, in der bekannten majestätsverbrecherischen Weise, auf der Place de la Concorde. Der letzte dieser Linie, Karl X., war nichts weniger als unpopulär, als er auf den Thron stieg, und das Volk begrüßte ihn damals mit unbeschreiblicher Begeisterung; einige Jahre später ward er zum Lande hinauseskortiert, und er starb den harten Tod des Exils. Der Solonische Spruch, daß man niemand vor seinem Ende glücklich preisen möge, gilt ganz besonders von den Königen von Frankreich. Laßt uns daher den Tod des Herzogs von Orleans nicht deshalb beweinen, weil er vom Volke so sehr geliebt ward und demselben eine so schöne Zukunft versprach, sondern weil er als Mensch unsere Tränen verdiente. Laßt uns auch nicht so sehr jammern über die sogenannte ruhmlose Art, über das banal Zufällige seines Endes. Es ist besser, daß sein Haupt gegen einen harmlosen Stein zerschellte, als daß die Kugel eines Franzosen oder eines Deutschen ihm den Tod gab. Der Prinz hatte eine Vorahnung seines frühen Sterbens, meinte aber, daß er im[438] Kriege oder in einer Emeute fallen würde. Bei seinem ritterlichen Mute, der jeder Gefahr trotzte, war dergleichen sehr wahrscheinlich. – Der königliche Dulder, Ludwig Philipp, benimmt sich mit einer Fassung, die jeden mit Ehrfurcht erfüllt. Im Unglück zeigt er die wahre Größe. Sein Herz verblutet in namenlosem Kummer, aber sein Geist bleibt ungebeugt, und er arbeitet Tag und Nacht. Nie hat man den Wert seiner Erhaltung tiefer gefühlt als eben jetzt, wo die Ruhe der Welt von seinem Leben abhängt. Kämpfe tapfer, verwundeter Friedensheld!
Paris, 26. Juli 1842
Die Thronrede ist kurz und einfach. Sie sagt das Wichtigste in der würdigsten Weise. Der König hat sie selbst verfaßt. Sein Schmerz zeigt sich in einer puritanischen, ich möchte sagen republikanischen Prunklosigkeit. Er, der sonst so redselig, ist seitdem sehr wortkarg geworden. Das schweigende Empfangen in den Tuilerien vor einigen Tagen hatte etwas ungemein Trübsinniges, beinahe Geisterhaftes; ohne eine Silbe zu sprechen, gingen über tausend Menschen bei dem König vorüber, der stumm und leidend sie ansah. Es heißt, daß in Notre-Dame das angekündigte Requiem nicht stattfinde; der König will bei dem Begräbnis seines Sohnes keine Musik; Musik erinnere allzusehr an Spiel und Fest. – Sein Wunsch, die Regentschaft auf seinen Sohn übertragen zu sehen und nicht auf seine Schwiegertochter, ist in der Adresse hinlänglich angedeutet. Dieser Wunsch wird wenig Widerrede finden, und Nemours wird Regent, obgleich dieses Amt der schönen und geistreichen Herzogin gebührt, die, ein Muster von weiblicher Vollkommenheit, ihres verstorbenen Gemahles so würdig war. Gestern sagte man, der König werde seinen Enkel, den Grafen von Paris, in die Deputiertenkammer mitbringen. Viele wünschten es, und die Szene wäre gewiß sehr rührend gewesen. Aber der König vermeidet jetzt, wie gesagt, alles, was an das Pathos der Feudalmonarchie erinnert. – Über Ludwig Philipps Abneigung[439] gegen Weiberregentschaften sind viele Äußerungen ins Publikum gedrungen. Der dümmste Mann, soll er gesagt haben, werde immer ein besserer Regent sein als die klügste Frau. Hat er deshalb dem Nemours den Vorzug gegeben vor der klugen Helene?
Paris, 29. Juli 1842
Der Gemeinderat von Paris hat beschlossen, das Elefantenmodell, das auf dem Bastillenplatz steht, nicht zu zerstören, wie man anfangs beabsichtigte, sondern zu einem Gusse in Erz zu benützen und das hervorgehende Monument am Eingange der Barrière du Trône aufzustellen. Über diesen Munizipalbeschluß spricht das Volk der Faubourgs Saint-Antoine und Saint-Marceau fast ebensoviel wie die höhern Klassen über die Regentschaftsfrage. Jener kolossale Elefant von Gips, welcher schon zur Kaiserzeit aufgestellt ward, sollte später als Modell des Denkmals dienen, das man der Juliusrevolution auf dem Bastillenplatze zu widmen gedachte. Seitdem ward man andern Sinnes, und man errichtete zur Verherrlichung jenes glorreichen Ereignisses die große Juliussäule. Aber die Forträumung des Elefanten erregte große Besorgnisse. Es ging nämlich unter dem Volk das unheimliche Gerücht von einer ungeheuren Anzahl Ratten, die sich im Innern des Elefanten eingenistet hätten, und es sei zu befürchten, daß, wenn man die große Gipsbestie niederreiße, eine Legion von kleinen, aber sehr gefährlichen Scheusalen zum Vorschein käme, die sich über die Faubourgs Saint-Antoine und Saint-Marceau verbreiten würden. Alle Unterröcke zitterten bei dem Gedanken an solche Gefahr, und sogar die Männer ergriff eine unheimliche Furcht vor der Invasion jener langgeschwänzten Gäste. Es wurden dem Magistrate die untertänigsten Vorstellungen gemacht, und infolge derselben vertagte man das Niederreißen des großen Gipselefanten, der seitdem jahrelang auf dem Bastillenplatze ruhig stehenblieb. Sonderbares Land! wo trotz der allgemeinen Zerstörungssucht sich dennoch manche Dinge[440] erhalten, da man allgemein die schlimmeren Dinge fürchtet, die an ihre Stelle treten könnten! Wie gern würden sie den Ludwig Philipp niederreißen, diesen großen klugen Elefanten, aber sie fürchten Se. Majestät den souveränen Rattenkönig, das tausendköpfige Ungetüm, das alsdann zur Regierung käme, und selbst die adeligen und geistlichen Feinde der Bourgeoisie, die nicht eben mit Blindheit geschlagen sind, suchen aus diesem Grunde den Juliusthron zu erhalten; nur die ganz Beschränkten, die Spieler und Falschspieler unter den Aristokraten und Klerikalen, sind Pessimisten und spekulieren auf die Republik oder vielmehr auf das Chaos, das unmittelbar nach der Republik eintreten dürfte.
Die Bourgeoisie selbst ist ebenfalls vom Dämon des Zerstörens besessen, und wenn sie auch die Republik nicht eben fürchtet, so hat sie doch eine instinktmäßige Angst vor dem Kommunismus, vor jenen düstern Gesellen, die wie Ratten aus den Trümmern des jetzigen Regiments hervorstürzen würden. Ja, vor einer Republik von der frühern Sorte, selbst vor ein bißchen Robespierrismus, hätte die französische Bourgeoisie keine Furcht, und sie würde sich leicht mit dieser Regierungsform aussöhnen und ruhig auf die Wache ziehen und die Tuilerien beschützen, gleichviel, ob hier ein Ludwig Philipp oder ein Comité du salut public residiert; denn die Bourgeoisie will vor allem Ordnung und Schutz der bestehenden Eigentumsrechte – Begehrnisse, die eine Republik ebensogut wie das Königtum gewähren kann. Aber diese Boutiquiers ahnen, wie gesagt, instinktmäßig, daß die Republik heutzutage nicht mehr die Prinzipien der neunziger Jahre vertreten möchte, sondern nur die Form wäre, worin sich eine neue, unerhörte Proletarierherrschaft mit allen Glaubenssätzen der Gütergemeinschaft geltend machen würde. Sie sind Konservative durch äußere Notwendigkeit, nicht durch innern Trieb, und die Furcht ist hier die Stütze aller Dinge.
Wird diese Furcht noch auf lange Zeit vorhalten? Wird nicht eines frühen Morgens der nationale Leichtsinn die Köpfe ergreifen und selbst die Ängstlichen in den Strudel der Revolution[441] fortreißen? Ich weiß es nicht, aber es ist möglich, und die Wahlresultate zu Paris sind sogar ein Merkmal, daß es wahrscheinlich ist. Die Franzosen haben ein kurzes Gedächtnis und vergessen sogar ihre gerechtesten Befürchtungen. Deshalb treten sie so oft auf als Akteure, ja als Hauptakteure, in der ungeheuern Tragödie, die der liebe Gott auf der Erde aufführen läßt. Andere Völker erleben ihre große Bewegungsperiode, ihre Geschichte, nur in der Jugend, wenn sie nämlich ohne Erfahrung sich in die Tat stürzen; denn später, im reifern Alter, hält das Nachdenken und das Abwägen der Folgen die Völker wie die Individuen vom raschen Handeln zurück, und nur die äußere Not, nicht die eigene Willensfreude, treibt diese Völker in die Arena der Weltgeschichte. Aber die Franzosen behalten immer den Leichtsinn der Jugend, und soviel sie auch gestern getan und gelitten, sie denken heute nicht mehr daran, die Vergangenheit erlöscht in ihrem Gedächtnis, und der neue Morgen treibt sie zu neuem Tun und neuen Leiden. Sie wollen nicht alt werden, und sie glauben sich vielleicht die Jugend selbst zu erhalten, wenn sie nicht ablassen von jugendlicher Betörung, jugendlicher Sorglosigkeit und jugendlicher Großmut! Ja, Großmut, eine fast kindische Güte im Verzeihen, bildet einen Grundzug des Charakters der Franzosen; aber ich kann nicht umhin zu bemerken, daß diese Tugend mit ihren Gebrechen aus demselben Born, der Vergeßlichkeit, hervorquillt. Der Begriff »Verzeihen« entspricht bei diesem Volke wirklich dem Worte »Vergessen«, dem Vergessen der Beleidigung. Wäre dies nicht der Fall, es gäbe täglich Mord und Totschlag in Paris, wo bei jedem Schritte sich Menschen begegnen, zwischen denen eine Blutschuld existiert.
Diese charakteristische Gutmütigkeit der Franzosen äußert sich in diesem Augenblick ganz besonders in bezug auf Ludwig Philipp, und seine ärgsten Feinde im Volk, mit Ausnahme der Karlisten, offenbaren eine rührende Teilnahme an seinem häuslichen Unglück. Ich möchte behaupten, der König ist jetzt wieder populär. Als ich gestern vor Notre-Dame die Vorbereitungen zur Leichenfeier betrachtete und dem Gespräch der[442] Kurzjacken zuhörte, die dort versammelt standen, vernahm ich unter andern die naive Äußerung: der König könne jetzt ruhig in Paris spazierengehen, und es werde niemand auf ihn schießen. (Welche Popularität!) Der Tod des Herzogs von Orleans, der allgemein geliebt war, hat seinem Vater die störrigsten Herzen wiedergewonnen, und die Ehe zwischen König und Volk ist durch das gemeinschaftliche Unglück gleichsam aufs neue eingesegnet worden. Aber wie lange werden die schwarzen Flitterwochen dauern?
Paris, 17. September 1842
Nach einer vierwöchentlichen Reise bin ich seit gestern wieder hier, und ich gestehe, das Herz jauchzte mir in der Brust, als der Postwagen über das geliebte Pflaster der Boulevards dahinrollte, als ich den ersten Putzladen mit lächelnden Grisettengesichtern vorüberfuhr, als ich das Glockengeläute der Cocoverkäufer vernahm, als die holdselige zivilisierte Luft von Paris mich wieder anwehte. Es wurde mir fast glücklich zumut, und den ersten Nationalgardisten, der mir begegnete, hätte ich umarmen können; sein zahmes, gutmütiges Gesicht grüßte so witzig hervor unter der wilden, rauhen Bärenmütze, und sein Bajonett hatte wirklich etwas Intelligentes, wodurch es sich von den Bajonetten anderer Korporationen so beruhigend unterscheidet. Warum aber war die Freude bei meiner Rückkehr nach Paris diesmal so überschwenglich, daß es mich fast bedünkte, als beträte ich den süßen Boden der Heimat, als hörte ich wieder die Laute des Vaterlandes? Warum übt Paris einen solchen Zauber auf Fremde, die in seinem Weichbild einige Jahre verlebt? Viele wackere Landsleute, die hier seßhaft, behaupten, an keinem Ort der Welt könne der Deutsche sich heimischer fühlen als eben in Paris und Frankreich selbst sei am Ende unserm Herzen nichts anderes als ein französisches Deutschland.
Aber diesmal ist meine Freude bei der Rückkehr doppelt groß: ich komme aus England. Ja, aus England, obgleich ich[443] nicht den Kanal durchschiffte. Ich verweilte nämlich während vier Wochen in Boulogne-sur-Mer, und das ist bereits eine englische Stadt. Man sieht dort nichts als Engländer und hört dort nichts als Englisch von morgens bis abends, ach, sogar des Nachts, wenn man das Unglück hat, Wandnachbarn zu besitzen, die bis tief in die Nacht bei Tee und Grog politisieren! Während vier Wochen hörte ich nichts als jene Zischlaute des Egoismus, der sich in jeder Silbe, in jeder Betonung ausspricht. Es ist gewiß eine schreckliche Ungerechtigkeit, über ein ganzes Volk das Verdammungsurteil auszusprechen. Doch in betreff der Engländer könnte mich der augenblickliche Unmut zu dergleichen verleiten, und beim Anblick der Masse vergesse ich leicht die vielen wackern und edlen Männer, die sich durch Geist und Freiheitsliebe ausgezeichnet. Aber diese, namentlich die britischen Dichter, stachen immer desto greller ab von dem übrigen Volk, sie waren isolierte Martyrer ihrer nationalen Verhältnisse, und dann gehören große Genies nicht ihrem partikulären Geburtslande, kaum gehören sie dieser Erde, der Schädelstätte ihres Leidens. Die Masse, die Stockengländer – Gott verzeih mir die Sünde! – sind mir in tiefster Seele zuwider, und manchmal betrachte ich sie gar nicht als meine Mitmenschen, sondern ich halte sie für leidige Automaten, für Maschinen, deren inwendige Triebfeder der Egoismus. Es will mich dann bedünken, als hörte ich das schnurrende Räderwerk, womit sie denken, fühlen, rechnen, verdauen und beten – ihr Beten, ihr mechanisches anglikanisches Kirchengehen mit dem vergoldeten Gebetbuch unterm Arm, ihre blöde, langweilige Sonntagsfeier, ihr linkisches Frömmeln ist mir am widerwärtigsten; ich bin fest überzeugt, ein fluchender Franzose ist ein angenehmeres Schauspiel für die Gottheit als ein betender Engländer! Zu andern Zeiten kommen diese Stockengländer mir vor wie ein öder Spuk, und weit unheimlicher als die bleichen Schatten der mitternächtlichen Geisterstunde sind mir jene vierschrötigen, rotbäckigen Gespenster, die schwitzend im grellen Sonnenlicht umherwandeln. Dabei der totale Mangel an Höflichkeit. Mit ihren eckigen Gliedmaßen, mit ihren steifen[444] Ellenbogen stoßen sie überall an, und ohne sich zu entschuldigen durch ein artiges Wort. Wie müssen diese rothaarigen Barbaren, die blutiges Fleisch fressen, erst jenen Chinesen verhaßt sein, denen die Höflichkeit angeboren und die, wie bekannt ist, zwei Drittel ihrer Tageszeit mit der Ausübung dieser Nationaltugend verknicksen und verbücklingen!
Ich gestehe es, ich bin nicht ganz unparteiisch, wenn ich von Engländern rede, und mein Mißurteil, meine Abneigung, wurzelt vielleicht in den Besorgnissen ob der eigenen Wohlfahrt, ob der glücklichen Friedensruhe des deutschen Vaterlandes. Seitdem ich nämlich tief begriffen habe, welcher schnöde Egoismus auch in ihrer Politik waltet, erfüllen mich diese Engländer mit einer grenzenlosen, grauenhaften Furcht. Ich hege den besten Respekt vor ihrer materiellen Obmacht; sie haben sehr viel von jener brutalen Energie, womit die Römer die Welt unterdrückt, aber sie vereinigen mit der römischen Wolfsgier auch die Schlangenlist Karthagos. Gegen erstere haben wir gute und sogar erprobte Waffen, aber gegen die meuchlerischen Ränke jener Punier der Nordsee sind wir wehrlos. Und jetzt ist England gefährlicher als je, jetzt, wo seine merkantilischen Interessen unterliegen: es gibt in der ganzen Schöpfung kein so hartherziges Geschöpf wie ein Krämer, dessen Handel ins Stocken geraten, dem seine Kunden abtrünnig werden und dessen Warenlager keinen Absatz mehr findet.
Wie wird England sich aus solcher Geschäftskrisis retten? Ich weiß nicht, wie die Frage der Fabrikarbeiter gelöst werden kann; aber ich weiß, daß die Politik des modernen Karthagos nicht sehr wählig in ihren Mitteln ist. Ein europäischer Krieg wird dieser Selbstsucht vielleicht zuletzt als das geeignetste Mittel erscheinen, um dem innern Gebreste einige Ableitung nach außen zu bereiten. Die englische Oligarchie spekuliert alsdann zunächst auf den Säckel des Mittelstandes, dessen Reichtum in der Tat kolossal ist und zur Besoldung und Beschwichtigung der unteren Klassen hinlänglich ausgebeutet werden dürfte. Wie groß auch ihre Ausgaben für indische und[445] chinesische Expeditionen, wie groß auch ihre finanzielle Not, wird doch die englische Regierung jetzt den pekuniären Aufwand steigern, wenn es ihre Zwecke fördert. Je größer das heimische Defizit, desto reichlicher wird im Ausland das englische Gold ausgestreut werden: England ist ein Kaufmann, der sich in bankerottem Zustand befindet und aus Verzweiflung ein Verschwender wird oder vielmehr kein Geldopfer scheut, um sich momentan zu halten. Und man kann mit Geld schon etwas ausrichten auf dieser Erde, besonders, seit jeder die Seligkeit hier unten sucht. Man hat keinen Begriff davon, wie England jährlich die ungeheuersten Summen ausgibt bloß zur Besoldung seiner ausländischen Agenten, deren Instruktionen alle für den Fall eines europäischen Krieges berechnet sind, und wie wieder diese englischen Agenten die heterogensten Talente, Tugenden und Laster im Ausland für ihre Zwecke zu gewinnen wissen.
Wenn wir dergleichen bedenken, wenn wir zur Einsicht gelangen, daß nicht an der Seine, aus Begeisterung für eine Idee und auf öffentlichem Marktplatz, die Ruhe Europas am furchtbarsten gestört werden dürfte, sondern an der Themse, in den verschwiegenen Gemächern des Foreign Office, infolge des rohen Hungerschreies englischer Fabrikarbeiter; wenn wir dieses bedenken, so müssen wir dorthin manchmal unser Auge richten und nächst der Persönlichkeit der Regierenden auch die andrängende Not der untern Klassen beobachten. Diese gesteigerte Not ist ein Gebreste, das die unwissenden Feldscherer durch Aderlässe zu heben glauben, aber ein solches Blutvergießen wird eine Verschlimmerung hervorbringen. Nicht von außen, durch die Lanzette, nein, nur von innen heraus, durch geistige Medikamente, kann der sieche Staatskörper geheilt werden. Nur soziale Ideen könnten hier eine Rettung aus der verhängnisvollsten Not herbeiführen, aber, um mit Saint-Simon zu reden, auf allen Werften Englands gibt es keine einzige große Idee; nichts als Dampfmaschinen und Hunger. Jetzt ist freilich der Aufruhr unterdrückt, aber durch öftere Ausbrüche kann es wohl dahin kommen, daß die englischen[446] Fabrikarbeiter, die nur Baum- und Schafwolle zu verarbeiten wissen, sich auch ein bißchen in Menschenfleisch versuchen und sich die nötigen Handgriffe aneignen und endlich dieses blutige Gewerbe ebenso mutvoll ausüben wie ihre Kollegen, die Ouvriers zu Lyon und Paris, und dann dürfte es sich endlich ereignen, daß der Besieger Napoleons, der Feldmarschall Mylord Wellington, der jetzt wieder sein Oberschergenamt angetreten hat, mitten in London sein Waterloo fände. In gleicher Weise möchte leicht der Fall eintreten, daß seine Myrmidonen ihrem Meister den Gehorsam aufkündigten. Es zeigen sich schon jetzt sehr bedenkliche Symptome solcher Gesinnung bei dem englischen Militär, und in diesem Augenblick sitzen funfzig Soldaten im Towergefängnis zu London, welche sich geweigert hatten, auf das Volk zu schießen. Es ist kaum glaublich, und es ist dennoch wahr, daß englische Rotröcke nicht dem Befehl ihrer Offiziere, sondern der Stimme der Menschlichkeit gehorchten und jener Peitsche vergaßen, welche die Katze mit neun Schwänzen (the cat of nine tails) heißt und mitten in der stolzen Hauptstadt der englischen Freiheit ihren Heldenrücken beständig bedroht – die Knute Großbritanniens! Es ist herzzerreißend, wenn man liest, wie die Weiber weinend den Soldaten entgegentraten und ihnen zuriefen: »Wir brauchen keine Kugeln, wir brauchen Brot.« Die Männer kreuzten ergebungsvoll die Arme und sprachen: »Den Hunger müßt ihr totschießen, nicht uns und unsere Kinder.« Der gewöhnliche Schrei war: »Schießt nicht, wir sind ja alle Brüder.«
Solche Berufung auf die Fraternität mahnt mich an die französischen Kommunisten, bei denen ich ähnliche Redeweisen zuweilen vernahm. Diese Redeweisen, wie ich besonders in Lyon bemerkte, waren durchaus nicht auffallend oder stark gefärbt, weder pikant noch original; im Gegenteil, es waren die abgedroschensten, plattesten Gemeinsprüche, welche der Troß der Kommunisten im Munde führte. Aber die Macht ihrer Propaganda besteht nicht sowohl in einem gut formulierten Prospektus von bestimmten Beklagnissen und bestimmten[447] Forderungen, sondern in einem tief wehmütigen und fast sympathetisch wirkenden Ton, womit sie die banalsten Dinge äußern, z.B. »Wir sind alle Brüder« usw. Der Ton und allenfalls ein geheimer Händedruck bilden alsdann den Kommentar zu diesen Worten und verleihen ihnen ihre welterschütternde Bedeutung. Die französischen Kommunisten stehen überhaupt auf demselben Standpunkt mit den englischen Fabrikarbeitern, nur daß der Franzose mehr von einer Idee, der Engländer hingegen ganz und gar vom Hunger getrieben wird.
Der Aufruhr in England ist für den Augenblick gestillt, aber nur für den Augenblick; er ist bloß vertagt, er wird mit jedesmal gesteigerter Macht aufs neue ausbrechen, und um so gefährlicher, da er immer die rechte Stunde abwarten kann. Wie aus vielen Anzeichen einleuchtet, ist der Widerstand der Fabrikarbeiter jetzt ebenso praktisch organisiert wie einst der Widerstand der irischen Katholiken. Die Chartisten haben diese drohende Macht in ihr Interesse zu ziehen und einigermaßen zu disziplinieren gewußt, und ihre Verbindung mit den unzufriedenen Fabrikarbeitern ist vielleicht die wichtigste Erscheinung der Gegenwart. Diese Verbindung entstand auf sehr einfachem Wege, sie war eine natürliche, obgleich die Chartisten sich gern mit einem bestimmten Programm als eine rein politische Partei präsentieren und die Fabrikarbeiter, wie ich schon oben erwähnt, nur arme Taglöhner sind, die vor Hunger kaum sprechen können und, gleichgültig gegen alle Regierungsform, nur das liebe Brot verlangen. Aber das Wort meldet selten den innern Herzensgedanken einer Partei, es ist nur ein äußerliches Erkennungszeichen, gleichsam die gesprochene Kokarde; der Chartist, der sich auf die politische Frage zu beschränken vorgibt, hegt Wünsche im Gemüte, die mit den vagsten Gefühlen jener hungrigen Handwerker tief übereinstimmen, und diese können ihrerseits immerhin das Programm der Chartisten zu ihrem Feldgeschrei wählen, ohne ihre Zwecke zu verabsäumen. Die Chartisten nämlich verlangen: erstens, daß das Parlament nur aus einer Kammer bestehe und durch alljährliche Wahlen erneuert werde; zweitens, daß durch geheimes[448] Votieren die Unabhängigkeit der Wähler sichergestellt werde; endlich, daß jeder geborene Engländer, der ins Mannesalter getreten, Wähler und wählbar sei. »Davon können wir noch immer nicht essen«, sagten die notleidenden Arbeiter, »von Gesetzbüchern ebensowenig wie von Kochbüchern wird der Mensch satt, uns hungert.« – »Wartet nur«, entgegnen die Chartisten, »bis jetzt saßen im Parlament nur die Reichen, und diese sorgten nur für die Interessen ihrer eignen Besitztümer; durch das neue Wahlgesetz, durch die Charte, werden aber auch die Handwerker oder ihre Vertreter ins Parlament kommen, und da wird es sich wohl ausweisen, daß die Arbeit ebensogut wie jeder andere Besitz ein Eigentumsrecht in Anspruch nehmen kann und es einem Fabrikherrn ebensowenig erlaubt sein dürfte, den Taglohn des Arbeiters nach Willkür herabzusetzen, wie es ihm nicht erlaubt ist, das Mobiliar- oder Immobiliarvermögen seines Nachbarn zu beeinträchtigen. Die Arbeit ist das Eigentum des Volks, und die daraus entspringenden Eigentumsrechte sollen durch das regenerierte Parlament sanktioniert und geschützt werden.« Ein Schritt weiter, und diese Leute sagen, die Arbeit sei das Recht des Volks; und da dieses Recht auch die Berechtigung zu einem unbedinglichen Arbeitslohne zur Folge hätte, so führt der Chartismus, wo nicht zur Gütergemeinschaft, doch gewiß zur Erschütterung der bisherigen Eigentumsidee, des Grundpfeilers der heutigen Gesellschaft, und in jenen chartistischen Anfängen läge, in ihre Konsequenzen verfolgt, eine soziale Umwälzung, wogegen die französische Revolution als sehr zahm und bescheiden erscheinen dürfte.
Hier offenbart sich wieder die Hypokrisie und der praktische Sinn der Engländer, im Gegensatz zu den Franzosen: die Chartisten verbergen unter legalen Formen ihren Terrorismus, während die Kommunisten ihn freimütig und unumwunden aussprechen. Letztere tragen freilich noch einige Scheu, die letzten Konsequenzen ihres Prinzips beim rechten Namen zu nennen, und diskutiert man mit ihren Häuptlingen, so verteidigen sich diese gegen den Vorwurf, als wollten sie das[449] Eigentum abschaffen, und sie behaupten dann, sie wollten im Gegenteil das Eigentum auf eine breitere Basis etablieren, sie wollten ihm eine umfassendere Organisation verleihen. Du lieber Himmel, ich fürchte, das Eigentum würde durch den Eifer solcher Organisatoren sehr in die Krümpe gehen, und es würde am Ende nichts als die breite Basis übrigbleiben. »Ich will dir die Wahrheit gestehen«, sagte mir jüngst ein kommunistischer Freund, »das Eigentum wird keineswegs abgeschafft werden, aber es bekömmt eine neue Definition.«
Es ist nun diese neue Definition, die hier in Frankreich dem herrschenden Bürgerstande eine große Angst einflößt, und dieser Angst verdankt Ludwig Philipp seine ergebensten Anhänger, die eifrigsten Stützen seines Thrones. Je heftiger die Stützen zittern, desto weniger schwankt der Thron, und der König braucht nichts zu fürchten, eben weil die Furcht ihm Sicherheit gibt. Auch Guizot erhält sich durch die Angst vor der neuen Definition, die er mit seiner scharfen Dialektik so meisterhaft bekämpft, und ich glaube nicht, daß er so bald unterliegt, obgleich die herrschende Partei der Bourgeoisie, für die er soviel getan und soviel tut, kein Herz für ihn hat. Warum lieben sie ihn nicht? Ich glaube, erstens, weil sie ihn nicht verstehen, und zweitens, weil man denjenigen, der unsere eignen Güter schützt, immer weit weniger liebt als denjenigen, der uns fremde Güter verspricht. So war es einst in Athen, so ist es jetzt in Frankreich, so wird es in jeder Demokratie sein, wo das Wort frei ist und die Menschen leichtgläubig.
Paris, 4. Dezember 1842
Wird sich Guizot halten? Es hat mit einem französischen Ministerium ganz dieselbe Bewandtnis wie mit der Liebe: man kann nie ein sicheres Urteil fällen über seine Stärke und Dauer. Man glaubt zuweilen, das Ministerium wurzle unerschütterlich fest, und siehe! es stürzt den nächsten Tag durch einen geringen Windzug. Noch öfter glaubt man, das Ministerium[450] wackle seinem Untergang entgegen, es könne sich nur noch wenige Wochen auf den Beinen halten, aber zu unsrer Verwunderung zeigt es sich alsbald noch kräftiger als früher und überlebt alle diejenigen, die ihm schon die Leichenrede hielten. Vor vier Wochen, den 29. Oktober, feierte das Guizotsche Ministerium seinen dritten Geburtstag, es ist jetzt über zwei Jahr alt, und ich sehe nicht ein, warum es nicht länger leben sollte auf dieser schönen Erde, auf dem Boulevard des Capucines, wo grüne Bäume und gute Luft. Freilich, gar viele Ministerien sind dort schnell hingerafft worden, aber diese haben ihr frühes Ende immer selbst verschuldet: sie haben sich zuviel Bewegung gemacht. Ja, was bei uns andern die Gesundheit fördert, die Bewegung, das macht ein Ministerium todkrank, und namentlich der 1. März ist daran gestorben. Sie können nicht stillsitzen, diese Leutchen. Der öftere Regierungswechsel in Frankreich ist nicht bloß eine Nachwirkung der Revolution, sondern auch ein Ergebnis des Nationalcharakters der Franzosen, denen das Handeln, die Tätigkeit, die Bewegung ein ebenso großes Bedürfnis ist wie uns Deutschen das Tabaksrauchen, das stille Denken und die Gemütsruhe; gerade dadurch, daß die französischen Staatslenker so rührig sind und sich beständig etwas Neues zu schaffen machen, geraten sie in halsbrechende Verwicklungen. Dies gilt nicht bloß von den Ministerien, sondern auch von den Dynastien, die immer durch eigene Aktivität ihre Katastrophe beschleunigt haben. Ja, durch dieselbe fatale Ursache, durch die unermüdliche Aktivität, ist nicht bloß Thiers gefallen, sondern auch der stärkere Napoleon, der bis an sein seliges Ende auf dem Throne geblieben wäre, wenn er nur die Kunst des Stillsitzens, die bei uns den kleinen Kindern zuerst gelehrt wird, besessen hätte! Diese Kunst besitzt aber Herr Guizot in einem hohen Grade, er hält sich marmorn still, wie der Obelisk des Luxor, und wird deshalb sich länger erhalten, als man glaubt. Er tut nichts, und das ist das Geheimnis seiner Erhaltung. Warum aber tut er nichts? Ich glaube zunächst, weil er wirklich eine gewisse germanische Gemütsruhe besitzt und von der Sucht der Geschäftigkeit[451] weniger geplagt wird als seine Landsleute. Oder tut er nichts, weil er soviel versteht? Je mehr wir wissen, je tiefer und umfassender unsre Einsichten sind, desto schwerer wird uns das Handeln, und wer alle Folgen jedes Schrittes immer voraussähe, der würde gewiß bald aller Bewegung entsagen und seine Hände nur dazu gebrauchen, um seine eigenen Füße zu binden. Das weiteste Wissen verdammt uns zur engsten Passivität.
Indessen – was auch das Schicksal des Ministeriums sein möge –, laßt uns die letzten Tage des Jahrs, das gottlob seinem Ende naht, so resigniert als möglich ertragen! Wenn uns nur der Himmel nicht zum Schluß mit einem neuen Unglück heimsucht! Es war ein schlechtes Jahr, und wäre ich ein Tendenzpoet, ich würde mit meinen mißtönend poltrigsten Versen dem scheidenden Jahre ein Charivari bringen. In diesem schlechten, schändlichen Jahre hat die Menschheit viel erduldet, und sogar die Bankiers haben einige Verluste erlitten. Welch ein schreckliches Unglück war z.B. der Brand auf der Versailler Eisenbahn! Ich spreche nicht von dem verunglückten Sonntagspublikum, das bei dieser Gelegenheit gebraten oder gesotten wurde, ich spreche vielmehr von der überlebenden Sabbatkompanie, deren Aktien um so viele Prozente gefallen sind und die jetzt dem Ausgang der Prozesse, die jene Katastrophe hervorgerufen, mit zitternder Besorgnis entgegensieht. Werden die Stifter der Kompanie den verwaisten oder verstümmelten Opfern ihrer Gewinnsucht einigen Schadenersatz gewähren müssen? Es wäre entsetzlich! Diese beklagenswerten Millionäre haben schon soviel eingebüßt, und der Profit von andern Unternehmungen mag in diesem Jahre das Defizit kaum decken. Dazu kommen noch andere Fatalitäten, über die man leicht den Verstand verlieren kann, und an der Börse versicherte man gestern, der Halbbankier Läusedorf wolle zum Christentum übergehn. Andern geht es besser, und wenn auch die rive gauche gänzlich ins Stocken geriete, könnten wir uns damit trösten, daß die rive droite desto erfreulicher gedeiht. Auch die südfranzösischen Eisenbahnen,[452] sowie die jüngst konzessionierten, machen gute Geschäfte, und wer gestern noch ein armes Lümpchen war, ist heute schon ein reicher Lump. Namentlich der dünne und langnasige Herr * versichert: er habe »Grind«, mit der Vorsehung zufrieden zu sein. Ja, während ihr andern in philosophischen Spekulationen eure Zeit vertrödelt, spekulierte und trödelte dieser dünne Geist mit Eisenbahnaktien, und einer seiner Gönner von der hohen Bank sagte mir jüngst: »Sehen Sie, das Kerlchen war gar nichts, und jetzt hat es Geld, und es wird noch mehr Geld verdienen, und es hat sich all sein Lebtag nicht mit Philosophie abgegeben.« Wie doch diese Pilze in allen Ländern und Zeiten dieselben gewesen! Mit besonderer Verachtung haben sie immer auf Schriftsteller herabgesehen, die sich mit jenen uneigennützigen Studien beschäftigen, die wir Philosophie nennen. Schon vor achtzehnhundert Jahren, wie Petron erzählt, ließ ein römischer Parvenü sich folgende Grabschrift setzen: »Hier ruht Straberius – er war anfangs gar nichts, er hinterließ jedoch dreihundert Millionen Sesterzien, er hat sich sein Lebtag nicht mit Philosophie abgegeben, folge seinem Beispiel, und du wirst dich wohl befinden.«
Hier in Frankreich herrscht gegenwärtig die größte Ruhe. Ein abgematteter, schläfriger, gähnender Friede. Es ist alles still, wie in einer verschneiten Winternacht. Nur ein leiser, monotoner Tropfenfall. Das sind die Zinsen, die fortlaufend hinabträufeln in die Kapitalien, welche beständig anschwellen; man hört ordentlich, wie sie wachsen, die Reichtümer der Reichen. Dazwischen das leise Schluchzen der Armut. Manchmal auch klirrt etwas, wie ein Messer, das gewetzt wird. Nachbarliche Tumulte kümmern uns sehr wenig, und nicht einmal das rasselnde Schilderheben in Barcelona hat uns hier aufgestört. Der Mordspektakel, der im Studierzimmer der Mademoiselle Heinefetter zu Brüssel vorfiel, hat uns schon weit mehr interessiert, und ganz besonders sind die Damen ungehalten über dieses deutsche Gemüt, das trotz eines mehrjährigen Aufenthalts in Frankreich doch noch nicht gelernt hatte, wie man es anfängt, daß zwei gleichzeitige Anbeter sich[453] nicht auf der Walstätte ihres Glücks begegnen. Die Nachrichten aus dem Osten erregten gleichfalls ein unzufriedenes Gemurmel im Volke, und der Kaiser von China hat sich ebenso stark blamiert wie Mademoiselle Heinefetter. Nutzloses Blutvergießen, und die Blume der Mitte ist verloren. Die Engländer sind überrascht, so leichten Kaufs mit dem Bruder der Sonne fertig geworden zu sein, und sie berechnen schon, ob sie die jetzt überflüssigen Kriegsrüstungen im Indischen Meere nicht gegen Japan richten sollen, um auch dieses Land zu brandschatzen. An einem loyalen Vorwande zum Angriff wird es gewiß auch hier nicht fehlen. Sind es nicht Opiumfässer, so sind es die Schriften der englischen Missionsgesellschaft, die von der japanischen Sanitätskommission konfisziert worden. Vielleicht bespreche ich in einem spätern Briefe, wie England seine Kriegszüge bemäntelt. Die Drohung, daß britische Großmut uns nicht zu Hülfe kommen werde, wenn Deutschland einst wie Polen geteilt werden dürfte, erschreckt mich nimmermehr. Erstens kann Deutschland nicht geteilt werden. Teile mal einer das Fürstentum Liechtenstein oder Greiz-Schleiz! Und zweitens – –
Paris, 31. Dezember 1842
Noch ein kleiner Fußtritt, und das alte böse Jahr rollt hinunter in den Abgrund der Zeit. Dieses Jahr war eine Satire auf Ludwig Philipp, auf Guizot, auf alle, die sich so viele Mühe gegeben haben, den Frieden in Europa zu erhalten. Dieses Jahr ist eine Satire auf den Frieden selbst, denn im geruhsamen Schoße desselben wurden wir mit Schrecknissen heimgesucht, wie sie der gefürchtete Krieg gewiß nicht schrecklicher hervorbringen konnte. Entsetzlicher Wonnemond, wo fast gleichzeitig in Frankreich, in Deutschland und Haiti die fürchterlichsten Trauerspiele aufgeführt wurden! Welches Zusammentreffen der unerhörtesten Unglücksfälle! Welcher boshafte Witz des Zufalls! Welche höllischen Überraschungen! Ich kann mir die Verwunderung denken, womit die Bewohner des Schattenreichs[454] die neuen Ankömmlinge vom 6. Mai betrachteten, die geputzten Sonntagsgesichter, Studenten, Grisetten, junge Ehepaare, vergnügungssüchtige Drogisten, Philister von allen Farben, die zu Versailles die Kunstwasser springen sahen und statt in Paris, wo schon die Mittagstafel für sie gedeckt war, plötzlich in der Unterwelt anlangten! Und zwar verstümmelt, gesotten und geschmort! »Ist es der Krieg, der euch so schnöde zugerichtet?« – »Ach nein, wir haben Frieden, und wir kommen eben von einer Spazierfahrt.« Auch die gebratenen Spritzenleute und Litzenbrüder, die einige Tage später aus Hamburg ankamen, mußten nicht geringeres Erstaunen im Lande Plutos erregen. »Seid ihr die Opfer des Kriegsgottes?« war gewiß die Frage, womit sie empfangen wurden. »Nein, unsre Republik hat Frieden mit der ganzen Welt, der Tempel des Janus war geschlossen, nur die Bacchushalle stand offen, und wir lebten im ruhigen Genusse unsrer spartanischen Mockturtlesuppen, als plötzlich das große Feuer entstand, worin wir umkamen.« – »Und eure berühmten Löschanstalten?« – »Die sind gerettet, nur ihr Ruhm ist verloren.« – »Und die alten Perücken?« – »Die werden wie gepuderte Phönixe aus der Asche hervorsteigen.« Den folgenden Tag, während Hamburg noch loderte, entstand das Erdbeben zu Haiti, und die armen schwarzen Menschen wurden zu Tausenden ins Schattenreich hinabgeschleudert. Als sie bluttriefend anlangten, glaubte man gewiß dort unten, sie kämen aus einer Schlacht mit den Weißen und sie seien von diesen gemetzelt oder gar als revoltierte Sklaven zu Tode gepeitscht worden. Nein, auch diesmal irrten sich die guten Leute am Styx. Nicht der Mensch, sondern die Natur hatte das große Blutbad angerichtet auf jener Insel, wo die Sklaverei längst abgeschafft, wo die Verfassung eine republikanische ist, ohne verjüngende Keime, aber wurzelnd in ewigen Vernunftgesetzen; es herrscht dort Freiheit und Gleichheit, sogar schwarze Preßfreiheit. – Greiz-Schleiz ist keine solche Republik, kein so hitziger Boden wie Haiti, wo das Zuckerrohr, die Kaffeestaude und die schwarze Preßfreiheit wächst und[455] also ein Erdbeben sehr leicht entstehen konnte; aber trotz des zahmen Kartoffelklimas, trotz der Zensur, trotz der geduldigen Verse, die eben deklamiert oder gesungen wurden, ist den Greiz-Schleizern, während sie vergnügt und schaulustig im Theater saßen, plötzlich das Dach auf den Kopf gefallen, und ein Teil des verehrungswürdigen Publikums sah sich unerwartet in den Orkus geschleudert!
Ja, im sanftseligsten Stilleben, im Zustande des Friedens, häufte sich mehr Unheil und Elend, als jemals der Zorn Bellonas zusammentrompeten konnte. Und nicht bloß zu Lande, sondern auch zu Wasser haben wir in diesem Jahr das Außerordentliche erduldet. Die zwei großen Schiffbrüche an den Küsten von Südafrika und der Manche gehören zu den schauderhaftesten Kapiteln in der Martyrgeschichte der Menschheit. Wir haben keinen Krieg, aber der Frieden richtet uns hin, und gehen wir nicht plötzlich zugrunde durch einen brutalen Zufall, so sterben wir doch allmählich an einem gewissen schleichenden Gift, an einer Aquatofana, welche uns in den Kelch des Lebens geträufelt worden, der Himmel weiß, von welcher Hand!
Ich schreibe diese Zeilen in den letzten Stunden des scheidenden bösen Jahres. Das neue steht vor der Türe. Möge es minder grausam sein als sein Vorgänger! Ich sende meinen wehmütigsten Glückwunsch zum Neujahr über den Rhein. Ich wünsche den Dummen ein bißchen Verstand und den Verständigen ein bißchen Poesie. Den Frauen wünsche ich die schönsten Kleider und den Männern sehr viel Geduld. Den Reichen wünsche ich ein Herz und den Armen ein Stückchen Brot. Vor allem aber wünsche ich, daß wir in diesem neuen Jahr einander sowenig als möglich verleumden mögen.
Paris, 2. Februar 1843
Worüber ich am meisten erstaune, das ist die Anstelligkeit dieser Franzosen, das geschickte Übergehen oder vielmehr[456] Überspringen von einer Beschäftigung in die andre, in eine ganz heterogene. Es ist dieses nicht bloß eine Eigenschaft des leichten Naturells, sondern auch ein historisches Erwerbnis: sie haben sich im Laufe der Zeit ganz losgemacht von hemmenden Vorurteilen und Pedantereien. So geschah es, daß die Emigranten, die während der Revolution zu uns herüberflüchteten, den Wechsel der Verhältnisse so leicht ertrugen und manche darunter, um das liebe Brot zu gewinnen, sich aus dem Stegreif ein Gewerbe zu schaffen wußten. Meine Mutter hat mir oft erzählt, wie ein französischer Marquis sich damals als Schuster in unsrer Stadt etablierte und die besten Damenschuhe verfertigte; er arbeitete mit Lust, pfiff die ergötzlichsten Liedchen und vergaß alle frühere Herrlichkeit. Ein deutscher Edelmann hätte unter denselben Umständen ebenfalls zum Schusterhandwerk seine Zuflucht genommen, aber er hätte sich gewiß nicht so heiter in sein ledernes Schicksal gefügt, und er würde sich jedenfalls auf männliche Stiefel gelegt haben, auf schwere Sporenstiefel, die an den alten Ritterstand erinnern. Als die Franzosen über den Rhein kamen, mußte unser Marquis seine Butike verlassen, und er floh nach einer andern Stadt, ich glaube nach Kassel, wo er der beste Schneider wurde; ja, ohne Lehrjahre emigrierte er solchermaßen von einem Gewerbe zum andern und erreichte darin gleich die Meisterschaft – was einem Deutschen unbegreiflich erscheinen dürfte, nicht bloß einem Deutschen von Adel, sondern auch dem gewöhnlichsten Bürgerkind. Nach dem Sturze des Kaisers kam der gute Mann mit ergrauten Haaren, aber unverändert jungem Herzen in die Heimat zurück und schnitt ein so hochadeliges Gesicht und trug wieder so stolz die Nase, als hätte er niemals den Pfriem oder die Nadel geführt. Es ist ein Irrtum, wenn man von den Emigranten behauptete, sie hätten nichts gelernt und nichts vergessen, im Gegenteil, sie hatten alles vergessen, was sie gelernt. Die Helden der Napoleonischen Kriegsperiode, als sie abgedankt oder auf halben Sold gesetzt wurden, warfen sich ebenfalls mit dem größten Geschick in die Gewerbtätigkeit des Friedens, und jedesmal,[457] wenn ich in das Comptoir von Delloye trat, hatte ich meine liebe Verwunderung, wie der ehemalige Colonel jetzt als Buchhändler an seinem Pulte saß, umgeben von mehren weißen Schnurrbärten, die ebenfalls als brave Soldaten unter dem Kaiser gefochten, jetzt aber bei ihrem alten Kameraden als Buchhalter oder Rechnungsführer, kurz, als Kommis dienten.
Aus einem Franzosen kann man alles machen, und jeder dünkt sich zu allem geschickt. Aus dem kümmerlichsten Bühnendichter entsteht plötzlich, wie durch einen Theatercoup ein Minister, ein General, ein Kirchenlicht, ja ein Herrgott. Ein merkwürdiges Beispiel der Art bieten die Transformationen unsres lieben Charles Duveyrier, der einer der erleuchtetsten Dignitare der Saint-Simonistischen Kirche war und, als diese aufgehoben wurde, von der geistlichen Bühne zur weltlichen überging. Dieser Charles Duveyrier saß in der Salle Taitbout auf der Bischofsbank, zur Seite des Vaters, nämlich Enfantins; er zeichnete sich aus durch einen gotterleuchteten Prophetenton, und auch in der Stunde der Prüfung gab er als Martyrer Zeugnis für die neue Religion. Von den Lustspielen Duveyriers wollen wir heute nicht reden, sondern von seinen politischen Broschüren; denn er hat die Theaterkarriere wieder verlassen und sich auf das Feld der Politik begeben, und diese neue Umwandlung ist vielleicht nicht minder merkwürdig. Aus seiner Feder flossen die kleinen Schriften, die allwöchentlich unter dem Titel »Lettres politiques« herauskommen. Die erste ist an den König gerichtet, die zweite an Guizot, die dritte an den Herzog von Nemours, die vierte an Thiers. Sie zeugen sämtlich von vielem Geist. Es herrscht darin eine edle Gesinnung, ein lobenswerter Widerwille gegen barbarische Kriegsgelüste, eine schwärmerische Begeisterung für den Frieden. Von der Ausbeutung der Industrie erwartet Duveyrier das Goldne Zeitalter. Der Messias wird nicht auf einem Esel, sondern auf einem Dampfwagen den segensreichen Einzug halten. Namentlich die Broschüre, die an Thiers gerichtet oder vielmehr gegen ihn gerichtet, atmet diese Gesinnung. Von der[458] Persönlichkeit des ehemaligen Konseilpräsidenten spricht der Verfasser mit hinlänglicher Ehrfurcht. Guizot gefällt ihm, aber Molé gefällt ihm besser. Dieser Hintergedanke dämmert über all durch.
Ob er mit Recht oder mit Unrecht irgendeinem von den dreien den Vorzug gibt, ist schwer zu bestimmen. Ich meinesteils glaube nicht, daß einer besser als der andre, und ich bin der Meinung, daß jeder von ihnen als Minister immer dasselbe tun wird, was auch unter denselben Umständen der andre täte. Der wahre Minister, dessen Gedanke überall zur Tat wird, der sowohl gouverniert als regiert, ist der König, Ludwig Philipp, und die erwähnten drei Staatsmänner unterscheiden sich nur in der Art und Weise, wie sie sich mit der Vorherrschaft des königlichen Gedankens abfinden.
Herr Thiers' sträubt sich im Anfang sehr barsch, macht die redseligste Opposition, trompetet und trommelt und tut doch am Ende, was der König wollte. Nicht bloß seine revolutionären Gefühle, sondern auch seine staatsmännischen Überzeugungen sind im beständigen Widerspruch mit dem königlichen Systeme: er fühlt und weiß, daß dieses System auf die Länge scheitern muß, und ich könnte die erstaunlichsten Äußerungen Thiers über die Unhaltbarkeit der jetzigen Zustände mitteilen. Er kennt zu gut seine Franzosen und zu gut die Geschichte der französischen Revolution, um sich dem Quietismus der siegreichen Bourgeoispartei ganz hingeben zu können und an den Maulkorb zu glauben, den er selbst dem tausendköpfigen Ungeheuer angelegt hat; sein feines Ohr hört das innerliche Knurren, er hat sogar Furcht, einst von dem entzügelten Ungetüm zerrissen zu werden – und dennoch tut er, was der König will.
Mit Herrn Guizot ist es ganz anders. Für ihn ist der Sieg der Bourgeoisiepartei eine vollendete Tatsache, un fait accompli, und er ist mit all seinen Fähigkeiten in den Dienst dieser neuen Macht getreten, deren Herrschaft er durch alle Künste des historischen und philosophischen Scharfsinns als vernünftig, und folglich auch als berechtigt, zu stützen weiß. Das ist[459] eben das Wesen eines Doktrinärs, daß er für alles, was er tun will, eine Doktrin findet. Er steht vielleicht mit seinen geheimsten Überzeugungen über dieser Doktrin, vielleicht auch drunter, was weiß ich? Er ist zu geistesbegabt und vielseitig wissend, als daß er nicht im Grunde ein Skeptiker wäre, und eine solche Skepsis verträgt sich mit dem Dienst, den er dem Systeme widmet, dem er sich einmal ergeben hat. Jetzt ist er der treue Diener der Bourgeoisieherrschaft, und hart wie ein Herzog von Alba wird er sie mit unerbittlicher Konsequenz bis zum letzten Momente verteidigen. Bei ihm ist kein Schwanken, kein Zagen, er weiß, was er will, und was er will, tut er. Fällt er im Kampfe, so wird ihn auch dieser Sturz nicht erschüttern, und er wird bloß die Achseln zucken. War doch das, wofür er kämpfte, ihm im Grunde gleichgültig. Siegt etwa einst die republikanische Partei, oder gar die der Kommunisten, so rate ich diesen braven Leuten, den Guizot zum Minister zu nehmen, seine Intelligenz und seine Halsstarrigkeit auszubeuten, und sie werden besser dabei stehen, als wenn sie ihren erprobtesten Dummköpfen der Bürgertugend das Gouvernement in Händen geben. Ich möchte einen ähnlichen Rat den Henriquinquisten erteilen, für den unmöglichen Fall, daß sie einst wieder durch ein Nationalunglück, durch ein Strafgericht Gottes, in Besitz der offiziellen Gewalt gerieten; nehmt den Guizot zum Minister, und ihr werdet euch dreimal vierundzwanzig Stunden länger halten können, und ich fürchte Herrn Guizot nicht unrecht zu tun, wenn ich die Meinung ausspreche, daß er so tief herabsteigen könnte, um eure schlechte Sache durch seine Beredsamkeit und seine gouvernementalen Talente zu unterstützen. Seid ihr ihm doch ebenso gleichgültig wie die Spießbürger, für die er jetzt so großen Geistesaufwand macht in Wort und Tat, und wie das System des Königs, dem er mit stoischem Gleichmute dient.
Herr Molé unterscheidet sich von diesen beiden dadurch daß er erstens der eigentliche Staatsmann ist, dessen Persönlichkeit schon den Patrizier verrät, dem das Talent der Staatslenkung angeboren oder durch Familientraditionen anerzogen[460] worden. Bei ihm ist keine Spur vom plebejischen Emporkömmling, wie bei Herrn Thiers, und noch weniger hat er die Ecken eines Schulmanns, wie Herr Guizot, und bei der Aristokratie der fremden Höfe mag er durch eine solche äußere Repräsentation und diplomatische Leichtigkeit die Genialität ersetzen, welche wir bei Herrn Thiers und Guizot finden. Er hat kein andres System als das des Königs, ist auch zu sehr Hofmann, um ein andres haben zu wollen, und das weiß der König, und er ist der Minister nach dem Herzen Ludwig Philipps. Ihr werdet sehen, jedesmal, wenn man ihm die Wahl lassen wird, Herrn Guizot oder Herrn Thiers zum Premierminister zu nehmen, wird Ludwig Philipp immer wehmütig antworten: »Laßt mich Molé nehmen.« Molé, das ist er selber, und da doch einmal geschieht, was er will, so wäre es gar kein Unglück, wenn Molé wieder Minister würde.
Aber ein Glück wäre es auch nicht, denn das königliche System würde nach wie vor in Wirksamkeit bleiben, und wie sehr wir die edle Absicht des Königs hochschätzen, wie sehr wir ihm den besten Willen für das Glück Frankreichs zutrauen, so müssen wir doch bekennen, daß die Mittel zur Ausführung nicht die richtigen sind, daß das ganze System keinen Schuß Pulver taugt, wenn es nicht gar einst durch einen Schuß Pulver in die Luft springt. Ludwig Philipp will Frankreich regieren durch die Kammer, und er glaubt alles gewonnen zu haben, wenn er durch Begünstigung ihrer Glieder bei allen Regierungsvorschlägen die parlamentarische Majorität gewonnen. Aber sein Irrtum besteht darin, daß er Frankreich durch die Kammer repräsentiert glaubt. Dieses aber ist nicht der Fall, und er verkennt ganz die Interessen eines Volks, welche von denen der Kammer sehr verschieden sind und von letzterer nicht sonderlich beachtet werden. Steigt seine Impopularität bis zu einem bedenklichen Punkte, so wird ihn schwerlich die Kammer retten können, und es ist noch die Frage, ob jene begünstigte Bourgeoisie, für die er soviel tut, ihm im gefährlichen Augenblicke mit Enthusiasmus zu Hülfe eilen wird.[461]
»Unser Unglück ist«, sagte mir jüngst ein Habitué der Tuilerien, »daß unsre Gegner, indem sie uns schwächer glauben, als wir sind, uns nicht fürchten und daß unsre Freunde, die zuweilen schmollen, uns eine größere Stärke zumuten, als wir in der Wirklichkeit besitzen.«
Paris, 20. März 1843
Die Langeweile, welche die klassische Tragödie der Franzosen ausdünstet, hat niemand besser begriffen als jene gute Bürgersfrau unter Ludwig XV., die zu ihren Kindern sagte: »Beneidet nicht den Adel und verzeiht ihm seinen Hochmut, er muß ja doch als Strafe des Himmels jeden Abend im Théâtre Français sich zu Tode langweilen.« Das alte Regime hat aufgehört, und das Zepter ist in die Hände der Bourgeoisie geraten; aber diese neuen Herrscher müssen ebenfalls sehr viele Sünden abzubüßen haben, und der Unmut der Götter trifft sie noch unleidlicher als ihre Vorgänger im Reiche: denn nicht bloß, daß ihnen Mademoiselle Rachel die moderige Hefe des antiken Schlaftrunks jeden Abend kredenzt, müssen sie jetzt sogar den Abhub unsrer romantischen Küche, versifiziertes Sauerkraut, »Die Burggrafen« von Victor Hugo, verschlucken! Ich will kein Wort verlieren über den Wert dieses unverdaulichen Machwerks, das mit allen möglichen Prätensionen auftritt, namentlich mit historischen, obgleich alles Wissen Victor Hugos über Zeit und Ort, wo sein Stück spielt, lediglich aus der französischen Übersetzung von Schreibers »Handbuch für Rheinreisende« geschöpft ist. Hat der Mann, der vor einem Jahr in öffentlicher Akademie zu sagen wagte, daß es mit dem deutschen Genius ein Ende habe (la pensée allemande est rentrée dans l'ombre), hat dieser größte Adler der Dichtkunst diesmal wirklich die Zeitgenossenschaft so allmächtig überflügelt? Wahrlich keineswegs. Sein Werk zeugt weder von poetischer Fülle noch Harmonie, weder von Begeisterung noch Geistesfreiheit, es enthält keinen Funken Genialität,[462] sondern nichts als gespreizte Unnatur und bunte Deklamation. Eckige Holzfiguren, überladen mit geschmacklosem Flitterstaat, bewegt durch sichtbare Drähte, ein unheimliches Puppenspiel, eine grasse, krampfhafte Nachäffung des Lebens; durch und durch erlogene Leidenschaft. Nichts ist mir fataler als diese Hugosche Leidenschaft, die sich so glühend gebärdet, äußerlich so prächtig auflodert und doch inwendig so armselig nüchtern und frostig ist. Diese kalte Passion, die uns in so flammenden Redensarten aufgetischt wird, erinnert mich immer an das gebratene Eis, das die Chinesen so künstlich zu bereiten wissen, indem sie kleine Stückchen Gefrorenes, eingewickelt in einen dünnen Teig, einige Minuten übers Feuer halten: ein antithetischer Leckerbissen, den man schnell verschlucken muß und wobei man Lippe und Zunge verbrennt, den Magen aber erkältet.
Aber die herrschende Bourgeoisie muß ihrer Sünden wegen nicht bloß alte klassische Tragödien und Trilogien, die nicht klassisch sind, ausstehen, sondern die himmlischen Mächte haben ihr einen noch schauderhaftern Kunstgenuß beschert, nämlich jenes Pianoforte, dem man jetzt nirgends mehr ausweichen kann, das man in allen Häusern erklingen hört, in jeder Gesellschaft, Tag und Nacht. Ja, Pianoforte heißt das Marterinstrument, womit die jetzige vornehme Gesellschaft noch ganz besonders torquiert und gezüchtigt wird für alle ihre Usurpationen. Wenn nur nicht der Unschuldige mit leiden müßte! Diese ewige Klavierspielerei ist nicht mehr zu ertragen! (Ach! meine Wandnachbarinnen, junge Töchter Albions, spielen in diesem Augenblick ein brillantes Morceau für zwei linke Hände.) Diese grellen Klimpertöne ohne natürliches Verhallen, diese herzlosen Schwirrklänge, dieses erzprosaische Schollern und Pickern, dieses Fortepiano tötet all unser Denken und Fühlen, und wir werden dumm, abgestumpft, blödsinnig. Dieses Überhandnehmen des Klavierspielens und gar die Triumphzüge der Klaviervirtuosen sind charakteristisch für unsere Zeit und zeugen ganz eigentlich von dem Sieg des Maschinenwesens über den Geist. Die technische[463] Fertigkeit, die Präzision eines Automaten, das Identifizieren mit dem besaiteten Holze, die tönende Instrumentwerdung des Menschen wird jetzt als das Höchste gepriesen und gefeiert. Wie Heuschreckenscharen kommen die Klaviervirtuosen jeden Winter nach Paris, weniger, um Geld zu erwerben, als vielmehr, um sich hier einen Namen zu machen, der ihnen in andern Ländern desto reichlicher eine pekuniäre Ernte verschafft. Paris dient ihnen als eine Art Annoncenpfahl, wo ihr Ruhm in kolossalen Lettern zu lesen. Ich sage, ihr Ruhm ist hier zu lesen, denn es ist die Pariser Presse, welche ihn der gläubigen Welt verkündet, und jene Virtuosen verstehen sich mit der größten Virtuosität auf die Ausbeutung der Journale und der Journalisten. Sie wissen auch dem Harthörigsten schon beizukommen, denn Menschen sind immer Menschen, sind empfänglich für Schmeichelei, spielen auch gern eine Protektorrolle, und eine Hand wäscht die andere; die unreinere ist aber selten die des Journalisten, und selbst der feile Lobhudler ist zugleich ein betrogener Tropf, den man zur Hälfte mit Liebkosungen bezahlt. Man spricht von der Käuflichkeit der Presse; man irrt sich sehr. Im Gegenteil, die Presse ist gewöhnlich düpiert, und dies gilt ganz besonders in Beziehung auf die berühmten Virtuosen. Berühmt sind sie eigentlich alle, nämlich in den Reklamen, die sie höchstselbst oder durch einen Bruder oder durch ihre Frau Mutter zum Druck befördern. Es ist kaum glaublich, wie demütig sie in den Zeitungsbureaux um die geringste Lobspende betteln, wie sie sich krümmen und winden. Als ich noch bei dem Direktor der »Gazette musicale« in großer Gunst stand – (ach! ich habe sie durch jugendlichen Leichtsinn verscherzt) –, konnte ich so recht mit eignen Augen ansehen, wie ihm jene Berühmten untertänig zu Füßen lagen und vor ihm krochen und wedelten, um in seinem Journale ein bißchen gelobt zu werden; und von unsern hochgefeierten Virtuosen, die wie siegreiche Fürsten in allen Hauptstädten Europas sich huldigen lassen, könnte man wohl in Bérangers Weise sagen, daß auf ihren Lorbeerkronen noch der Staub von Moritz Schlesingers Stiefeln sichtbar[464] ist. Wie diese Leute auf unsre Leichtgläubigkeit spekulieren, davon hat man keinen Begriff, wenn man nicht hier an Ort und Stelle die Betriebsamkeit ansieht. In den Bureaux der erwähnten musikalischen Zeitung begegnete ich einmal einem zerlumpten alten Mann, der sich als den Vater eines berühmten Virtuosen ankündigte und die Redaktoren des Journals bat, eine Reklame abzudrucken, worin einige edle Züge aus dem Kunstleben seines Sohnes zur Kenntnis des Publikums gebracht wurden. Der Berühmte hatte nämlich irgendwo in Südfrankreich mit kolossalem Beifall ein Konzert gegeben und mit dem Ertrag eine den Einsturz drohende altgotische Kirche unterstützt; ein andermal hatte er für eine überschwemmte Witwe gespielt oder auch für einen siebzigjährigen Schulmeister, der seine einzige Kuh verloren, usw. Im längern Gespräche mit dem Vater jenes Wohltäters der Menschheit gestand der Alte ganz naiv, daß sein Herr Sohn freilich nicht soviel für ihn tue, wie er wohl vermöchte, und daß er ihn manchmal sogar ein klein bißchen darben lasse. Ich möchte dem Berühmten anraten, auch einmal für die baufälligen Hosen seines alten Vaters ein Konzert zu geben.
Wenn man diese misère angesehen, kann man wahrlich den schwedischen Studenten nicht mehr grollen, die sich etwas allzu stark gegen den Unfug der Virtuosenvergötterung ausgesprochen und dem berühmten Ole Bull bei seiner Ankunft in Upsala die bekannte Ovation bereiteten. Der Gefeierte glaubte schon, man würde ihm die Pferde ausspannen, machte sich schon gefaßt auf Fackelzug und Blumenkränze, als er eine ganz unerwartete Tracht Ehrenprügel bekam, eine wahrhaft nordische Surprise.
Die Matadoren der diesjährigen Saison waren die Herren Sivori und Dreyschock. Ersterer ist ein Geiger, und schon als solchen stelle ich ihn über letztern, den furchtbaren Klavierschläger. Bei den Violinisten ist überhaupt die Virtuosität nicht ganz und gar Resultat mechanischer Fingerfertigkeit und bloßer Technik, wie bei den Pianisten. Die Violine ist ein Instrument, welches fast menschliche Launen hat und mit der[465] Stimmung des Spielers sozusagen in einem sympathetischen Rapport steht: das geringste Mißbehagen, die leiseste Gemütserschütterung, ein Gefühlshauch findet hier einen unmittelbaren Widerhall, und das kommt wohl daher, weil die Violine, so ganz nahe an unsre Brust gedrückt, auch unser Herzklopfen vernimmt. Dies ist jedoch nur bei Künstlern der Fall, die wirklich ein Herz in der Brust tragen, welches klopft, die überhaupt eine Seele haben. Je nüchterner und herzloser der Violinspieler, desto gleichförmiger wird immer seine Exekution sein, und er kann auf den Gehorsam seiner Fiedel rechnen, zu jeder Stunde, an jedem Orte. Aber diese gepriesene Sicherheit ist doch nur das Ergebnis einer geistigen Beschränktheit, und eben die größten Meister waren es, deren Spiel nicht selten abhängig gewesen von äußern und innern Einflüssen. Ich habe niemand besser, aber auch zuzeiten niemand schlechter spielen gehört als Paganini, und dasselbe kann ich von Ernst rühmen. Dieser letztere, Ernst, vielleicht der größte Violinspieler unsrer Tage, gleicht dem Paganini auch in seinen Gebrechen, wie in seiner Genialität. Ernsts Abwesenheit ward hier diesen Winter sehr bedauert. Signor Sivori war ein sehr matter Ersatz, doch wir haben ihn mit großem Vergnügen gehört. Da er in Genua geboren ist und vielleicht als Kind in den engen Straßen seiner Vaterstadt, wo man sich nicht ausweichen kann, dem Paganini zuweilen begegnete, hat man ihn hier für einen Schüler desselben proklamiert. Nein, Paganini hatte nie einen Schüler, konnte keinen haben, denn das Beste, was er wußte, das, was das Höchste in der Kunst ist, das läßt sich weder lehren noch lernen.
Was ist in der Kunst das Höchste? Das, was auch in allen andern Manifestationen des Lebens das Höchste ist: die selbstbewußte Freiheit des Geistes. Nicht bloß ein Musikstück, das in der Fülle jenes Selbstbewußtseins komponiert worden, sondern auch der bloße Vortrag desselben kann als das künstlerisch Höchste betrachtet werden, wenn uns daraus jener wundersame Unendlichkeitshauch anweht, der unmittelbar bekundet, daß der Exekutant mit dem Komponisten auf derselben[466] freien Geisteshöhe steht, daß er ebenfalls ein Freier ist. Ja, dieses Selbstbewußtsein der Freiheit in der Kunst offenbart sich ganz besonders durch die Behandlung, durch die Form, in keinem Falle durch den Stoff, und wir können im Gegenteil behaupten, daß die Künstler, welche die Freiheit selbst und die Befreiung zu ihrem Stoffe gewählt, gewöhnlich von beschränktem, gefesseltem Geiste, wirklich Unfreie sind. Diese Bemerkung bewährt sich heutigentages ganz besonders in der deutschen Dichtkunst, wo wir mit Schrecken sehen, daß die zügellos trotzigsten Freiheitsänger, beim Licht betrachtet, meist nur bornierte Naturen sind, Philister, deren Zopf unter der roten Mütze hervorlauscht, Eintagsfliegen, von denen Goethe sagen würde:
Matte Fliegen! Wie sie rasen!
Wie sie sumsend überkeck
Ihren kleinen Fliegendreck
Träufeln auf Tyrannennasen!
Die wahrhaft großen Dichter haben immer die großen Interessen ihrer Zeit anders aufgefaßt als in gereimten Zeitungsartikeln, und sie haben sich wenig darum bekümmert, wenn die knechtische Menge, deren Roheit sie anwidert, ihnen den Vorwurf des Aristokratismus machte.
Paris, 26. März 1843
Als die merkwürdigsten Erscheinungen der heurigen Saison habe ich die Herren Sivori und Dreyschock genannt. Letzterer hat den größten Beifall geerntet, und ich referiere getreulich, daß ihn die öffentliche Meinung für einen der größten Klaviervirtuosen proklamiert und den gefeiertsten derselben gleichgestellt hat. Er macht einen höllischen Spektakel. Man glaubt nicht einen Pianisten Dreyschock, sondern drei Schock Pianisten zu hören. Da an dem Abend seines Konzertes der Wind südwestlich war, so konnten Sie vielleicht in Augsburg die[467] gewaltigen Klänge vernehmen; in solcher Entfernung ist ihre Wirkung gewiß eine angenehme. Hier jedoch, im Departement de la Seine, berstet uns leicht das Trommelfell, wenn dieser Klavierschläger loswettert. Häng dich, Franz Liszt, du bist ein gewöhnlicher Windgötze in Vergleichung mit diesem Donnergott, der wie Birkenreiser die Stürme zusammenbindet und damit das Meer stäupt. Die ältern Pianisten treten immer mehr in den Schatten, und diese armen, abgelebten Invaliden des Ruhmes müssen jetzt hart dafür leiden, daß sie in ihrer Jugend überschätzt worden. Nur Kalkbrenner hält sich noch ein bißchen. Er ist diesen Winter wieder öffentlich aufgetreten, in dem Konzerte einer Schülerin; auf seinen Lippen glänzt noch immer jenes einbalsamierte Lächeln, welches wir jüngst auch bei einem ägyptischen Pharaonen bemerkt haben, als dessen Mumie in dem hiesigen Museum abgewickelt wurde. Nach einer mehr als fünfundzwanzigjährigen Abwesenheit hat Herr Kalkbrenner auch jüngst den Schauplatz seiner frühesten Erfolge, nämlich London, wieder besucht und dort den größten Beifall eingeerntet. Das Beste ist, daß er mit heilem Halse hierher zurückgekehrt und wir jetzt wohl nicht mehr an die geheime Sage glauben dürfen, als habe Herr Kalkbrenner England so lange gemieden wegen der dortigen ungesunden Gesetzgebung, die das galante Vergehen der Bigamie mit dem Strange bestrafe. Wir können daher annehmen, daß jene Sage ein Märchen war, denn es ist eine Tatsache, daß Herr Kalkbrenner zurückgekehrt ist zu seinen hiesigen Verehrern, zu den schönen Fortepianos, die er in Kompanie mit Herrn Pleyel fabriziert, zu seinen Schülerinnen, die sich alle zu seinen Meisterinnen im französischen Sinne des Wortes ausbilden, zu seiner Gemäldesammlung, welche, wie er behauptet, kein Fürst bezahlen könne, zu seinem hoffnungsvollen Sohne, welcher in der Bescheidenheit bereits seinen Vater übertrifft, und zu der braven Fischhändlerin, die ihm den famosen Turbot überließ, den der Oberkoch des Fürsten von Bénévent, Talleyrand-Périgord, ehemaligen Bischof von Autun, für seinen Herrn bereits bestellt hatte. – Die Poissarde sträubte sich[468] lange, dem berühmten Pianisten, der inkognito auf den Fischmarkt gegangen war, den besagten Turbot zu überlassen, doch als ersterer seine Karte hervorzog, sie auf den letztern niederlegte und die arme Frau den Namen Kalkbrenner las, befahl sie auf der Stelle, den Fisch nach seiner Wohnung zu bringen, und sie war lange nicht zu bewegen, irgendeine Zahlung anzunehmen, hinlänglich bezahlt, wie sie sei, durch die große Ehre. Deutsche Stockfische ärgern sich über eine solche Fischgeschichte, weil sie selbst nicht imstande sind, ihr Selbstbewußtsein in solcher brillanten Weise geltend zu machen, und weil sie Herrn Kalkbrenner überdies beneiden ob seinem eleganten äußern Auftreten, ob seinem feinen geschniegelten Wesen, ob seiner Glätte und Süßlichkeit, ob der ganzen marzipanenen Erscheinung, die jedoch für den ruhigen Beobachter durch manche unwillkürliche Berlinismen der niedrigsten Klasse einen etwas schäbigen Beisatz hat, so daß Koreff ebenso witzig als richtig von dem Manne sagen konnte: »Er sieht aus wie ein Bonbon, der in den Dreck gefallen.«
Ein Zeitgenosse des Herrn Kalkbrenner ist Herr Pixis, und obgleich er von untergeordneterem Range, wollen wir doch hier als Kuriosität seiner erwähnen. Aber ist Herr Pixis wirklich noch am Leben? Er selber behauptet es und beruft sich dabei auf das Zeugnis des Herrn Sina, des berühmten Badegastes von Boulogne, den man nicht mit dem Berg Sinai verwechseln darf. Wir wollen diesem braven Wellenbändiger Glauben schenken, obgleich manche böse Zungen sogar versichern, Herr Pixis habe nie existiert. Nein, letzterer ist ein Mensch, der wirklich lebt; ich sage Mensch, obgleich ein Zoologe ihm einen geschwänzteren Namen erteilen würde. Herr Pixis kam nach Paris schon zur Zeit der Invasion, in dem Augenblick, wo der Belvederische Apoll den Römern wieder ausgeliefert wurde und Paris verlassen mußte. Die Akquisition des Herrn Pixis sollte den Franzosen einigen Ersatz bieten. Er spielte Klavier, komponierte auch sehr niedlich, und seine musikalischen Stückchen wurden ganz besonders geschätzt von den Vogelhändlern, welche Kanarienvögel auf[469] Drehorgeln zum Gesange abrichten. Diesen gelben Dingern brauchte man eine Komposition des Herrn Pixis nur einmal vorzuleiern, und sie begriffen sie auf der Stelle und zwitscherten sie nach, daß es eine Freude war und jedermann applaudierte: »Pixissime!« Seitdem die ältern Bourbonen vom Schauplatz abgetreten, wird nicht mehr »Pixissime« gerufen; die neuen Sangvögel verlangen neue Melodien. Durch seine äußere Erscheinung, die physische, macht sich Herr Pixis noch einigermaßen geltend; er hat nämlich die größte Nase in der musikalischen Welt, und um diese Spezialität recht auffallend bemerkbar zu machen, zeigt er sich oft in Gesellschaft eines Romanzenkomponisten, der gar keine Nase hat und deswegen jüngst den Orden der Ehrenlegion erhalten hat, denn gewiß nicht seiner Musik wegen ist Herr Panseron solchermaßen dekoriert worden. Man sagt, daß derselbe auch zum Direktor der Großen Oper ernannt werden solle, weil er nämlich der einzige Mensch sei, von dem nicht zu befürchten stehe, daß ihn der Maestro Giacomo Meyerbeer an der Nase herumziehen werde.
Herr Herz gehört wie Kalkbrenner und Pixis zu den Mumien; er glänzt nur noch durch seinen schönen Konzertsaal, er ist längst tot und hat kürzlich auch geheiratet. Zu den hier ansässigen Klavierspielern, die jetzt am meisten Glück machen, gehören Halle und Eduard Wolff; doch nur von letzterm wollen wir besonders Notiz nehmen, da er sich zugleich als Komponist auszeichnet. Eduard Wolff ist fruchtbar und voller Verve. Stephan Heller ist mehr Komponist als Virtuose, obgleich er auch wegen seines Klavierspiels sehr geehrt wird. Seine musikalischen Erzeugnisse tragen alle den Stempel eines ausgezeichneten Talentes, und er gehört schon jetzt zu den großen Meistern. Er ist ein wahrer Künstler, ohne Affektation, ohne Übertreibung; romantischer Sinn in klassischer Form. Thalberg ist schon seit zwei Monaten in Paris, will aber selbst kein Konzert geben; nur im Konzerte eines seiner Freunde wird er diese Woche öffentlich spielen. Dieser Künstler unterscheidet sich vorteilhaft von seinen Klavierkollegen, ich möchte[470] fast sagen durch sein musikalisches Betragen. Wie im Leben, so auch in seiner Kunst bekundet Thalberg den angebornen Takt, sein Vortrag ist so gentlemanlike, so wohlhabend, so anständig, so ganz ohne Grimasse, so ganz ohne forciertes Genialtun, so ganz ohne jene renommierende Bengelei, welche die innere Verzagnis schlecht verhehlt. Die gesunden Weiber lieben ihn. Die kränklichen Frauen sind ihm nicht minder hold, obgleich er nicht durch epileptische Anfälle auf dem Klavier ihr Mitleid in Anspruch nimmt, obgleich er nicht auf ihre überreizt zarten Nerven spekuliert, obgleich er sie weder elektrisiert noch galvanisiert; negative, aber schöne Eigenschaften. Es gibt nur einen, den ich ihm vorzöge, das ist Chopin, der aber viel mehr Komponist als Virtuose ist. Bei Chopin vergesse ich ganz die Meisterschaft des Klavierspiels und versinke in die süßen Abgründe seiner Musik, in die schmerzliche Lieblichkeit seiner ebenso tiefen wie zarten Schöpfungen. Chopin ist der große geniale Tondichter, den man eigentlich nur in Gesellschaft von Mozart oder Beethoven oder Rossini nennen sollte.
In den sogenannten lyrischen Theatern hat es diesen Winter nicht an Novitäten gefehlt. Die Buffos gaben uns »Don Pasquale«, ein neues Opus von Signor Donizetti. Auch diesem Italiener fehlt es nicht an Erfolg, sein Talent ist groß, aber noch größer ist seine Fruchtbarkeit, worin er nur den Kaninchen nachsteht. In der Opéra comique sahen wir »La part du diable«, Text von Scribe, Musik von Auber; Dichter und Komponist passen hier gut zusammen, sie sind sich auffallend ähnlich in ihren Vorzügen wie in ihren Mängeln. Beide haben viel Esprit, viel Grazie, viel Erfindung, sogar Leidenschaft; dem einen fehlt nur die Poesie, wie dem andern nur die Musik fehlt. Das Werk findet sein Publikum und macht immer ein volles Haus.
In der Académie royale de musique, der Großen Oper, gab man dieser Tage »Karl VI.«, Text von Casimir Delavigne, Musik von Halévy. Auch hier bemerken wir zwischen dem Dichter und Komponisten eine wahlverwandte Ähnlichkeit. Sie haben beide durch gewissenhaftes edles Streben ihre natürliche[471] Begabnis zu steigern gewußt und mehr durch die äußere Zucht der Schule als durch innere Ursprünglichkeit sich herangebildet. Deshalb sind sie auch beide nie ganz dem Schlechten verfallen, wie es dem Originalgenie zuweilen begegnet; sie leisteten immer etwas Erquickliches, etwas Schönes, etwas Respektables, Akademisches, Klassisches. Beide sind dabei gleich edle Naturen, würdige Gestalten, und in einer Zeit, wo das Gold sich geizig versteckt, wollen wir an dem kursierenden Silber nicht geringschätzend mäkeln. »Der Fliegende Holländer« von Dietz ist seitdem traurig gescheitert; ich habe diese Oper nicht gehört, nur das Libretto kam mir zu Gesicht, und mit Widerwillen sah ich, wie die schöne Fabel, die ein bekannter deutscher Schriftsteller (H. Heine) fast ganz mundgerecht für die Bühne ersonnen, in dem französischen Text verhunzt worden.
Als gewissenhafter Berichterstatter muß ich erwähnen, daß unter den deutschen Landsleuten, die hier anwesend, sich auch der vortreffliche Meister Konradin Kreutzer befindet. Konradin Kreutzer ist hier zu bedeutendem Ansehn gelangt durch das »Nachtlager von Granada«, das die deutsche Truppe, verhungerten Andenkens, gegeben hat. Mir ist der verehrte Meister schon seit meinen frühesten Jugendtagen bekannt, wo mich seine Liederkompositionen entzückten; noch heute tönen sie mir im Gemüte, wie singende Wälder mit schluchzenden Nachtigallen und blühender Frühlingslust. Herr Kreutzer sagt mir, daß er für die Opéra comique ein Libretto in Musik setzen wird. Möge es ihm gelingen, auf diesem gefährlichen Pfad nicht zu straucheln und von den abgefeimten Roués der Pariser Komödiantenwelt nicht hinters Licht geführt zu werden, wie so manchen Deutschen vor ihm geschehen, die sogar den Vorzug hatten, weniger Talent als Herr Kreutzer zu besitzen, und jedenfalls leichtfüßiger als letzterer auf dem glatten Boden von Paris sich zu bewegen wußten. Welche traurigen Erfahrungen mußte Herr Richard Wagner machen, der endlich, der Sprache der Vernunft und des Magens gehorchend, das gefährliche Projekt, auf der französischen Bühne Fuß zu fassen,[472] klüglich aufgab und nach dem deutschen Kartoffelland zurückflatterte. Vorteilhafter ausgerüstet im materiellen und industrieusen Sinne ist der alte Dessauer, welcher, wie er behauptet, im Auftrage der Opéra-comique-Direktion eine Oper komponiert. Den Text liefert ihm Herr Scribe, dem vorher ein hiesiges Bankierhaus Bürgschaft leistet, daß bei etwaigem Durchfall des alten Dessauer ihm, dem berühmten Librettofabrikanten, eine namhafte Summe als Abtrittsgeld oder Dedit ausbezahlt werde. Er hat in der Tat recht, sich vorzusehen, da der alte Dessauer, wie er uns täglich vorwimmert, an der Melancholik leidet. Aber wer ist der alte Dessauer? Es kann doch nicht der Alte Dessauer sein, der im Siebenjährigen Kriege so viele Lorbeern gewonnen und dessen Marsch so berühmt geworden und dessen Statue im Berliner Schloßgarten stand und seitdem umgefallen ist? Nein, teurer Leser! Der Dessauer, von welchem wir reden, hat nie Lorbeern gewonnen, er schrieb auch keine berühmten Märsche, und es ist ihm auch keine Statue gesetzt worden, welche umgefallen. Er ist nicht der preußische Alte Dessauer, und dieser Name ist nur ein nom de guerre oder vielleicht ein Spitzname, den man ihm erteilt hat, ob seinem ältlichen katzenbucklicht gekrümmten und benauten Aussehen. Er ist ein alter Jüngling, der sich schlecht konserviert. Er ist nicht aus Dessau, im Gegenteil, er ist aus Prag, wo er im israelitischen Quartier zwei große reinliche Häuser besitzt; auch in Wien soll er ein Haus besitzen und sonstig sehr vermögend sein. Er hat also nicht nötig zu komponieren, wie die alte Mosson sagen würde. Aber aus Vorliebe für die Kunst vernachlässigte er seine Handlungsgeschäfte, trieb Musik und komponierte frühzeitig eine Oper, welche durch edle Beharrlichkeit zur Aufführung gelangte und anderthalb Vorstellungen erlebte. So wie in Prag, suchte der alte Dessauer auch in Wien seine Talente geltend zu machen, doch die Clique, welche für Mozart, Beethoven und Schubert schwärmt, ließ ihn nicht aufkommen; man verstand ihn nicht, was schon wegen seiner kauderwelschen Mundart und einer gewissen näselnden Aussprache des Deutschen, die an faule[473] Eier erinnert, sehr erklärlich. Vielleicht auch verstand man ihn, und eben deswegen wollte man nichts von ihm wissen. Dabei litt er an Hämorrhoiden, auch Harnbeschwerden, und er bekam, wie er sich ausdrückt, die Melancholik. Um sich zu erheitern, ging er nach Paris, und hier gewann er die Gunst des berühmten Herrn Moritz Schlesinger, der seine Liederkompositionen in Verlag nahm; als Honorar erhielt er von demselben eine goldene Uhr. Als der alte Dessauer sich nach einiger Zeit zu seinem Gönner begab und ihm anzeigte, daß die Uhr nicht gehe, erwiderte derselbe: »Gehen? Habe ich gesagt, daß sie gehen wird? Gehen Ihre Kompositionen? Es geht mir mit Ihren Kompositionen, wie es Ihnen mit meiner Uhr geht. Sie gehen nicht.« So sprach der Musikantenbeherrscher Moritz Schlesinger, indem er den Kragen seiner Krawatte in die Höhe zupfte und am Halse herumhaspelte, als werde ihm die Binde plötzlich zu enge, wie er zu tun pflegt, wenn er in Leidenschaft gerät; denn gleich allen großen Männern ist er sehr leidenschaftlich. Dieses unheimliche Zupfen und Haspeln am Halse soll oft den bedenklichsten Ausbrüchen des Zornes vorausgehen, und der arme alte Dessauer wurde dadurch so alteriert, daß er an jenem Tage stärker als je die Melancholik bekam. Der edle Gönner tat ihm unrecht. Es ist nicht seine Schuld, daß die Liederkompositionen nicht gehen; er hat alles mögliche getan, um sie zum Gehen zu bringen; er ist deswegen von Morgen bis Abend auf den Beinen gewesen, und er läuft jedem nach, der imstande wäre, durch irgendeine Zeitungsreklame seine Lieder zum Gehen zu bringen. Er ist eine Klette an dem Rocke jedes Journalisten und jammert uns beständig vor von seiner Melancholik, und wie ein Brosämchen des Lobes sein krankes Gemüt erheitern könne. Wenig begüterte Feuilletonisten, die an kleinen Journalen arbeiten, sucht er in einer andern Weise zu ködern, indem er ihnen z.B. erzählt, daß er jüngst dem Redakteur eines Blattes im Café de Paris ein Frühstück gegeben habe, welches ihm fünfundvierzig Francs und zehn Sous gekostet; er trägt auch wirklich die Rechnung, die carte payante, jenes Dejeuners beständig in der Hosentasche,[474] um sie zur Beglaubigung vorzuzeigen. Ja, der zornige Schlesinger tut dem alten Dessauer unrecht, wenn er meint, daß derselbe nicht alle Mittel anwende, um die Kompositionen zum Gehen zu bringen. Nicht bloß die männlichen, sondern auch die weiblichen Gänsefedern sucht der Ärmste zu solchem Zwecke in Bewegung zu setzen. Er hat sogar eine alte vaterländische Gans gefunden, die aus Mitleid einige Lobreklamen im sentimental flauesten Deutsch-Französisch für ihn geschrieben und gleichsam durch gedruckten Balsam seine Melancholik zu lindern gesucht hat. Wir müssen die brave Person um so mehr rühmen, da nur reine Menschenliebe, Philanthropie, im Spiele und der alte Dessauer schwerlich durch sein schönes Gesicht die Frauen zu bestechen vermöchte. Über dieses Gesicht sind die Meinungen verschieden; die einen sagen, es sei ein Vomitiv, die andern sagen, es sei ein Laxativ. Soviel ist gewiß, bei seinem Anblick beklemmt mich immer ein fatales Dilemma, und ich weiß alsdann nicht, für welche von beiden Ansichten ich mich entscheiden soll. Der alte Dessauer hat dem hiesigen Publikum zeigen wollen, daß sein Gesicht nicht, wie man sagte, das fatalste von der Welt sei. Er hat in dieser Absicht einen jüngern Bruder expreß von Prag hierherkommen lassen, und dieser schöne Jüngling, der wie ein Adonis des Grindes aussieht, begleitet ihn jetzt überall in Paris. –
Entschuldige, teurer Leser, wenn ich dich von solchen Schmeißfliegen unterhalte; aber ihr zudringliches Gesumse kann den Geduldigsten am Ende dahin bringen, daß er zur Fliegenklatsche greift. Und dann auch wollte ich hier zeigen, welche Mistkäfer von unsern biedern Musikverlegern als deutsche Nachtigallen, als Nachfolger, ja als Nebenbuhler von Schubert gepriesen werden. Die Popularität Schuberts ist sehr groß in Paris, und sein Name wird in der unverschämtesten Weise ausgebeutet. Der miserabelste Liederschund erscheint hier unter dem fingierten Namen Camille Schubert, und die Franzosen, die gewiß nicht wissen, daß der Vorname des echten Musikers Franz ist, lassen sich solchermaßen täuschen. Armer Schubert! Und welche Texte werden seiner Musik untergeschoben![475] Es sind namentlich die von Schubert komponierten Lieder von Heinrich Heine, welche hier am beliebtesten sind, aber die Texte sind so entsetzlich übersetzt, daß der Dichter herzlich froh war, als er erfuhr, wie wenig die Musikverleger sich ein Gewissen daraus machen, den wahren Autor verschweigend, den Namen eines obskuren französischen Paroliers auf das Titelblatt jener Lieder zu setzen. Es geschah vielleicht auch aus Pfiffigkeit, um nicht an droits d'auteur zu erinnern. Hier in Frankreich gestatten diese dem Dichter eines komponierten Liedes immer die Hälfte des Honorars. Wäre diese Mode in Deutschland eingeführt, so würde ein Dichter, dessen »Buch der Lieder« seit zwanzig Jahren von allen deutschen Musikhändlern ausgebeutet wird, wenigstens von diesen Leuten einmal ein Wort des Dankes erhalten haben. – Es ist ihm aber von den vielen hundert Kompositionen seiner Lieder, die in Deutschland erschienen, nicht ein einziges Freiexemplar geschickt worden! Möge auch einmal für Deutschland die Stunde schlagen, wo das geistige Eigentum des Schriftstellers ebenso ernsthaft anerkannt werde wie das baumwollene Eigentum des Nachtmützenfabrikanten. Dichter werden aber bei uns als Nachtigallen betrachtet, denen nur die Luft angehöre; sie sind rechtlos, wahrhaft vogelfrei!
Ich will diesen Artikel mit einer guten Handlung beschließen. Wie ich höre, soll sich Herr Schindler in Köln, wo er Musikdirektor ist, sehr darüber grämen, daß ich in einem meiner Saisonberichte sehr wegwerfend von seiner weißen Krawatte gesprochen und von ihm selbst behauptet habe, auf seiner Visitenkarte sei unter seinem Namen der Zusatz »ami de Beethoven« zu lesen gewesen. Letzteres stellt er in Abrede; was die Krawatte betrifft, so hat es damit ganz seine Richtigkeit, und ich habe nie ein fürchterlich weißeres und steiferes Ungeheuer gesehen; doch in betreff der Karte muß ich aus Menschenliebe gestehen, daß ich selber daran zweifle, ob jene Worte wirklich darauf gestanden. Ich habe die Geschichte nicht erfunden, aber vielleicht mit zu großer Zuvorkommenheit geglaubt, wie es denn bei allem in der Welt mehr auf die Wahrscheinlichkeit[476] als auf die Wahrheit selbst ankommt. Erstere beweist, daß man den Mann einer solchen Narrheit fähig hielt, und bietet uns das Maß seines wirklichen Wesens, während ein wahres Faktum an und für sich nur eine Zufälligkeit ohne charakteristische Bedeutung sein kann. Ich habe die erwähnte Karte nicht gesehen; dagegen sah ich dieser Tage mit leiblich eignen Augen die Visitenkarte eines schlechten italienischen Sängers, der unter seinem Namen die Worte »neveu de M. Rubini« hatte drucken lassen.
Paris, 5. Mai 1843
Die eigentliche Politik lebt jetzt zurückgezogen in ihrem Hôtel auf dem Boulevard des Capucines. Industrielle und artistische Fragen sind unterdessen an der Tagesordnung, und man streitet jetzt, ob das Zuckerrohr oder die Runkelrübe begünstigt werden solle, ob es besser sei, die Nordeisenbahn einer Kompanie zu überlassen oder sie ganz auf Kosten des Staates auszubauen, ob das klassische System in der Poesie durch den Sukzeß von »Lucretia« wieder auf die Beine kommen werde; die Namen, die man in diesem Augenblick am häufigsten nennt, sind Rothschild und Ponsard.
Die Untersuchung über die Wahlen bildet ein kleines Intermezzo in der Kammer. Der voluminöse Bericht über diese betrübsame Angelegenheit enthält sehr wunderliche Details. Der Verfasser ist ein gewisser Lanyer, den ich vor zwölf Jahren als einen äußerst ungeschickten Arzt bei seinem einzigen Patienten antraf und der seitdem zum Besten der Menschheit den Äskulapstab an den Nagel gehängt hat. Sobald die enquête beseitigt, beginnen die Debatten über die Zuckerfrage, bei welcher Gelegenheit Herr von Lamartine die Interessen des Kolonialhandels und der französischen Marine gegen den kleinlichen Krämersinn vertreten wird. Die Gegner des Zuckerrohrs sind entweder beteiligte Industrielle, die das Heil Frankreichs nur vom Standpunkt ihrer Bude beurteilen, oder es sind[477] alte abgelebte Bonapartisten, die an der Runkelrübe, der Lieblingsidee des Kaisers, mit einer gewissen Pietät festhalten. Diese Greise, die seit 1814 geistig stehengeblieben, bilden immer ein wehmütig komisches Seitenstück zu unsern überrheinischen alten Deutschtümlern, und wie diese einst für die deutsche Eiche und den Eichelkaffee, so schwärmen jene für die Gloire und den Runkelrübenzucker. Aber die Zeit rollt rasch vorwärts, unaufhaltsam, auf rauchenden Dampfwagen, und die abgenutzten Helden der Vergangenheit, die alten Stelzfüße abgeschlossener Nationalität, die Invaliden und Inkurabeln, werden wir bald aus den Augen verlieren.
Die Eröffnung der beiden neuen Eisenbahnen, wovon die eine nach Orléans, die andere nach Rouen führt, verursacht hier eine Erschütterung, die jeder mitempfindet, wenn er nicht etwa auf einem sozialen Isolierschemel steht. Die ganze Bevölkerung von Paris bildet in diesem Augenblick gleichsam eine Kette, wo einer dem andern den elektrischen Schlag mitteilt. Während aber die große Menge verdutzt und betäubt die äußere Erscheinung der großen Bewegungsmächte anstarrt, erfaßt den Denker ein unheimliches Grauen, wie wir es immer empfinden, wenn das Ungeheuerste, das Unerhörteste geschieht, dessen Folgen unabsehbar und unberechenbar sind. Wir merken bloß, daß unsre ganze Existenz in neue Gleise fortgerissen, fortgeschleudert wird, daß neue Verhältnisse, Freuden und Drangsale uns erwarten, und das Unbekannte übt seinen schauerlichen Reiz, verlockend und zugleich beängstigend. So muß unsern Vätern zumut gewesen sein, als Amerika entdeckt wurde, als die Erfindung des Pulvers sich durch ihre ersten Schüsse ankündigte, als die Buchdruckerei die ersten Aushängebogen des göttlichen Wortes in die Welt schickte. Die Eisenbahnen sind wieder ein solches providentielles Ereignis, das der Menschheit einen neuen Umschwung gibt, das die Farbe und Gestalt des Lebens verändert; es beginnt ein neuer Abschnitt in der Weltgeschichte, und unsre Generation darf sich rühmen, daß sie dabeigewesen. Welche Veränderungen müssen jetzt eintreten in unsrer Anschauungsweise und in[478] unsern Vorstellungen! Sogar die Elementarbegriffe von Zeit und Raum sind schwankend geworden. Durch die Eisenbahnen wird der Raum getötet, und es bleibt uns nur noch die Zeit übrig. Hätten wir nur Geld genug, um auch letztere anständig zu töten! In vierthalb Stunden reist man jetzt nach Orléans, in ebensoviel Stunden nach Rouen. Was wird das erst geben, wenn die Linien nach Belgien und Deutschland ausgeführt und mit den dortigen Bahnen verbunden sein werden! Mir ist, als kämen die Berge und Wälder aller Länder auf Paris angerückt. Ich rieche schon den Duft der deutschen Linden; vor meiner Türe brandet die Nordsee.
Es haben sich nicht bloß für die Ausführung der Nordeisenbahn, sondern auch für die Anlage vieler andern Linien große Gesellschaften gebildet, die das Publikum in gedruckten Zirkularen zur Teilnahme auffordern. Jede versendet einen Prospektus, an dessen Spitze in großen Zahlen das Kapital paradiert, das die Kosten der Unternehmung decken wird. Es beträgt immer einige funfzig bis hundert, ja sogar mehre hundert Millionen Francs; es werden, sobald die zur Subskription limitierte Zeit verflossen, keine Subskribenten mehr angenommen; auch wird bemerkt, daß, im Fall die Summe des limitierten Gesellschaftskapitals vor jenem Termin erreicht ist, niemand mehr zur Subskription zugelassen werden kann. Ebenfalls mit kolossalen Buchstaben stehen obenangedruckt die Namen der Personen, die das Comité de surveillance der Sozietät bilden; es sind nicht bloß Namen von Finanziers, Bankiers, Receveurs-généraux, Usineninhabern und Fabrikanten, sondern auch Namen von hohen Staatsbeamten, Prinzen, Herzögen, Marquis, Grafen, die zwar meist unbekannt, aber mit ihrer offiziellen und feudalistischen Titulatur gar prachtvoll klingen, so daß man glaubt, die Trompetenstöße zu vernehmen, womit Bajazzo auf dem Balkon einer Marktbude das verehrungswürdige Publikum zum Hereintreten einladet. On ne paie qu'en entrant. Wer traute nicht einem solchen Comité de surveillance, das aber keineswegs, wie viele glauben, eine solidarische Garantie versprochen haben will und keine feste[479] Stütze ist, sondern als Karyatide figuriert. Ich bemerkte einem meiner Freunde meine Verwunderung, daß unter den Mitgliedern der Komitees sich auch Marineoffiziere befänden, ja daß ich auf vielen Prospektuszirkularen als Präsidenten der Sozietät die Namen von Admirälen gedruckt sähe. So z.B. sähe ich den Namen des Admirals Rosamel, nach welchem sogar die ganze Gesellschaft und sogar ihre Aktien genannt werden. Mein Freund, der sehr lachlustig, meinte, eine solche Beigesellung von Seeoffizieren sei eine sehr kluge Vorsichtsmaßregel der respektiven Gesellschaften, für den Fall, daß sie mit der Justiz in eine fatale Kollision kämen und von einer Jury zu den Galeeren verurteilt würden; die Mitglieder der Gesellschaft hätten alsdann immer einen Admiral bei sich, was ihnen zu Toulon oder Brest, wo es viel zu rudern gibt, von Nutzen sein möchte. Mein Freund irrt sich. Jene Leute haben nicht zu befürchten, in Toulon oder in Brest ans Ruder zu kommen; das Ruder, das ihren Händen einst anheimfällt oder zum Teil schon anheimgefallen, gehört einer ganz andern Örtlichkeit, es ist das Staatsruder, dessen sich die herrschende Geldaristokratie täglich mehr und mehr bemächtigt. Jene Leute werden bald nicht sowohl das Comité de surveillance der Eisenbahnsozietät, sondern auch das Comité de surveillance unserer ganzen bürgerlichen Gesellschaft bilden, und sie werden es sein, die uns nach Toulon oder Brest schicken.
Das Haus Rothschild, welches die Konzession der Nordeisenbahn soumissioniert und sie aller Wahrscheinlichkeit nach erhalten wird, bildet keine eigentliche Sozietät, und jede Beteiligung, die jenes Haus einzelnen Personen gewährt, ist eine Vergünstigung, ja, um mich ganz bestimmt auszudrücken, sie ist ein Geldgeschenk, das Herr von Rothschild seinen Freunden angedeihen läßt. Die eventuellen Aktien, die sogenannten Promessen des Hauses Rothschild, stehen nämlich schon mehre hundert Franken über pari, und wer daher solche Aktien al pari von dem Baron James de Rothschild begehrt, bettelt im wahren Sinne des Wortes. Aber die ganze Welt bettelt jetzt bei ihm, es regnet Bettelbriefe, und da die Vornehmsten mit dem würdigen[480] Beispiel vorangehen, ist jetzt das Betteln keine Schande mehr. Herr von Rothschild ist daher der Held des Tages, und er spielt überhaupt in der Geschichte unsrer heutigen misère eine so große Rolle, daß ich ihn oft und so ernsthaft als möglich besprechen muß. Er ist in der Tat eine merkwürdige Person. Ich kann seine finanzielle Fähigkeit nicht beurteilen, aber nach Resultaten zu schließen, muß sie sehr groß sein. Eine eigentümliche Kapazität ist bei ihm die Beobachtungsgabe oder der Instinkt, womit er die Kapazitäten andrer Leute in jeder Sphäre, wo nicht zu beurteilen, doch herauszufinden versteht. Man hat ihn ob solcher Begabnis mit Ludwig XIV. verglichen; und wirklich, im Gegensatz zu seinen Herren Kollegen, die sich gern mit einem Generalstab von Mittelmäßigkeiten umgeben, sahen wir Hrn. James von Rothschild immer in intimster Verbindung mit den Notabilitäten jeder Disziplin: wenn ihm auch das Fach ganz unbekannt war, so wußte er doch immer, wer darin der beste Mann. Er versteht vielleicht keine Note Musik, aber Rossini war beständig sein Hausfreund. Ary Scheffer ist sein Hofmaler; Carême war sein Koch. Hr. v. Rothschild weiß sicher kein Wort Griechisch, aber der Hellenist Letronne ist der Gelehrte, den er am meisten auszeichnet. Sein Leibarzt war der geniale Dupuytren, und es herrschte zwischen beiden die brüderlichste Zuneigung. Den Wert eines Crémieux, des großen Juristen, dem eine große Zukunft bevorsteht, hat Hr. v. Rothschild schon frühe begriffen, und er fand in ihm seinen treuen Anwalt. In gleicher Weise hat er die politischen Fähigkeiten Ludwig Philipps gleich von Anfang gewürdigt, und er stand immer auf vertrautem Fuße mit diesem Großmeister der Staatskunst. Den Émile Péreire, den Pontifex maximus der Eisenbahnen, hat Hr. v. Rothschild ganz eigentlich entdeckt, er machte denselben gleich zu seinem ersten Ingenieur, und durch ihn gründete er die Eisenbahn nach Versailles. Die Poesie, sowohl die französische wie die deutsche, ist ebenfalls in der Gunst des Hrn. v. Rothschild sehr würdig vertreten, doch will es mich bedünken, als ob hier nur eine liebenswürdige Courtoisie im Spiele und als ob der Herr Baron für unsre heutigen[481] lebenden Dichter nicht so schwärmerisch begeistert sei wie für die großen Toten, z.B. für Homer, Sophokles, Dante, Cervantes, Shakespeare, Goethe, lauter verstorbene Poeten, verklärte Genien, die, geläutert von allen irdischen Schlacken, jeder Erdennot entrückt sind und keine Nordeisenbahnaktien verlangen.
In diesem Augenblick ist der Stern Rothschild im Zenit seines Glanzes. Ich weiß nicht, ob ich mir nicht einen Mangel an Devotion zuschulden kommen lasse, indem ich Hrn. v. Rothschild nur einen Stern nannte. Doch er wird mir nicht darob grollen, wie jener andre, Ludwig XIV., der einst über einen armen Dichter in Zorn geriet, weil er die Impertinenz hatte, ihn mit einem Stern zu vergleichen, ihn, der gewohnt war, die Sonne genannt zu werden, und auch diesen Himmelskörper als sein offizielles Sinnbild angenommen.
Ich will heute, um ganz sicher zu gehen, Hrn. v. Rothschild dennoch mit der Sonne vergleichen, erstens kostet es mir nichts, und dann, wahrhaftig, ich kann es mit gutem Fug in diesem Augenblick, wo jeder ihm huldigt, um von seinen goldnen Strahlen gewärmt zu werden. – Unter uns gesagt, diese Furor der Verehrung ist für die arme Sonne keine geringe Plage, und sie hat keine Ruhe vor ihren Anbetern, worunter manche gehören, die wahrlich nicht wert sind, von der Sonne beschienen zu werden; diese Pharisäer psalmodieren am lautesten ihr Lob und Preis, und der arme Baron wird von ihnen so sehr moralisch torquiert und abgehetzt, daß man ein Mitleid mit ihm haben möchte. Ich glaube überhaupt, das Geld ist für ihn mehr ein Unglück als ein Glück; hätte er ein hartes Naturell, so würde er weniger Ungemach ausstehen, aber ein gutmütiger, sanfter Mensch, wie er ist, muß er viel leiden von dem Andrang des vielen Elends, das er lindern soll, von den Ansprüchen, die man beständig an ihn macht, und von dem Undank, der jeder seiner Wohltaten auf dem Fuße folgt. Überreichtum ist vielleicht schwerer zu ertragen als Armut. Jedem, der sich in großer Geldnot befindet, rate ich, zu Hrn. v. Rothschild zu gehen; nicht um bei ihm zu borgen (denn ich zweifle, daß er[482] etwas Erkleckliches bekömmt), sondern um sich durch den Anblick jenes Geldelends zu trösten. Der arme Teufel, der zuwenig hat und sich nicht zu helfen weiß, wird sich hier überzeugen, daß es einen Menschen gibt, der noch weit mehr gequält ist, weil er zuviel Geld hat, weil alles Geld der Welt in seine kosmopolitische Riesentasche geflossen und weil er eine solche Last mit sich herumschleppen muß, während rings um ihn her der große Haufen von Hungrigen und Dieben die Hände nach ihm ausstreckt. Und welche schreckliche und gefährliche Hände! – »Wie geht es Ihnen?« frug einst ein deutscher Dichter den Herrn Baron. »Ich bin verrückt«, erwiderte dieser. »Ehe Sie nicht Geld zum Fenster hinauswerfen«, sagte der Dichter, »glaube ich es nicht.« Der Baron fiel ihm aber seufzend in die Rede: »Das ist eben meine Verrücktheit, daß ich nicht manchmal das Geld zum Fenster hinauswerfe.«
Wie unglücklich sind doch die Reichen in diesem Leben – und nach dem Tode kommen sie nicht einmal in den Himmel! »Ein Kamel wird eher durch ein Nadelöhr gehen, als daß ein Reicher ins Himmelreich käme« – dieses Wort des göttlichen Kommunisten ist ein furchtbares Anathema und zeugt von seinem bittern Haß gegen die Börse und Hautefinance von Jerusalem. Es wimmelt in der Welt von Philanthropen, es gibt Tierquälergesellschaften, und man tut wirklich sehr viel für die Armen. Aber für die Reichen, die noch viel unglücklicher sind, geschieht gar nichts. Statt Preisfragen über Seidenkultur, Stallfütterung und Kantsche Philosophie aufzugeben, sollten unsre gelehrten Sozietäten einen bedeutenden Preis aussetzen zur Lösung der Frage, wie man ein Kamel durch ein Nadelöhr fädeln könne. Ehe diese große Kamelfrage gelöst ist und die Reichen eine Aussicht gewinnen, ins Himmelreich zu kommen, wird auch für die Armen kein durchgreifendes Heil begründet. Die Reichen würden weniger hartherzig sein, wenn sie nicht bloß auf Erdenglück angewiesen wären und nicht die Armen beneiden müßten, die einst dort oben in floribus sich des ewigen Lebens gaudieren. Sie sagen: »Warum sollen wir hier auf Erden für das Lumpengesindel etwas tun, da es ihm doch einst[483] besser geht als uns und wir jedenfalls nach dem Tode nicht mit demselben zusammentreffen.« Wüßten die Reichen, daß sie dort oben wieder in aller Ewigkeit mit uns gemeinsam hausen müssen, so würden sie sich gewiß hier auf Erden etwas genieren und sich hüten, uns gar zu sehr zu mißhandeln. Laßt uns daher vor allem die große Kamelfrage lösen.
Hartherzig sind die Reichen, das ist wahr. Sie sind es sogar gegen ihre ehemaligen Kollegen, wenn sie etwas heruntergekommen sind. Da bin ich jüngst dem armen August Leo begegnet, und das Herz blutete mir beim Anblick des Mannes, der ehemals mit den Häuptern der Börse, mit der Aristokratie der Spekulanten, so intim verbunden und sogar selbst ein Stück Bankier war. Aber sagt mir doch, ihr hochmögenden Herren, was hat euch der arme Leo getan, daß ihr ihn so schnöde ausgestoßen habt aus der Gemeinde? – ich meine nicht aus der jüdischen, ich meine aus der Finanzgemeinde. Ja, der Ärmste genießt seit einiger Zeit die Ungunst seiner Genossen in so hohem Grade, daß man ihn von allen verdienstlichen Unternehmungen, d.h. von allen Unternehmungen, woran etwas verdient wird, wie einen Misselsüchtigen ausschließt. Auch von dem letzten emprunt hat man ihm nichts zufließen lassen, und auf Beteiligung bei neuen Eisenbahn-Entreprisen muß er gänzlich verzichten, seitdem er bei der Versailler Eisenbahn der rive gauche eine so klägliche Schlappe erlitten und seine Leute in so schreckliche Verluste hineingerechnet hat. Keiner will mehr etwas von ihm wissen, jeder stößt ihn zurück, und sogar sein einziger Freund (der, beiläufig gesagt, ihn nie ausstehen konnte), sogar sein Jonathan, der Stockjobber Läusedorf, verläßt ihn und läuft jetzt beständig hinter dem Baron Mecklenburg einher und kriecht demselben fast zwischen die Rockschöße hinein. – Beiläufig bemerke ich ebenfalls, daß genannter Baron Mecklenburg, einer unserer eifrigsten Agioteure und Industriellen, keineswegs ein Israelite ist, wie man gewöhnlich glaubt, weil man ihn mit Abraham Mecklenburg verwechselt oder weil man ihn immer unter den Starken Israels sieht, unter den Krethi und Plethi der Börse, wo sie sich um[484] ihn versammeln; denn sie lieben ihn sehr. Diese Leute sind keine religiösen Fanatiker, wie man sieht, und ihr Unmut gegen den armen Leo ist daher keinen intoleranten Ursachen beizumessen; sie grollen ihm nicht wegen seiner Abtrünnigkeit von der schönen jüdischen Religion, und sie zuckten nur mitleidig die Achsel über die schlechten Religionswechselgeschäfte des armen Leo, der in dem protestantischen Bethaus der Rue des Billettes jetzt das Amt eines Marguilliers versieht – das ist gewiß ein bedeutendes Ehrenamt, aber ein Mann wie August Leo wäre mit der Zeit auch in der Synagoge zu großen Würden emporgestiegen, man hätte vielleicht bei Beschneidungsfeierlichkeiten das Kind, dem die Vorhaut abgeschnitten wird, oder das Messerchen, womit solches geschieht, seinen Händen anvertraut, oder man hätte ihn auch bei Lesung der Thora mit den kostspieligsten Tageswürden überhäuft, ja, da er sehr musikalisch ist und gar für Kirchenmusik soviel Sinn besitzt, wäre ihm vielleicht am Neujahrsfeste der jüdischen Kirche das Blasen mit dem Schofar, dem heiligen Horne, zuteil geworden. Nein, er ist nicht das Opfer eines religiösen oder moralischen Unwillens starrköpfiger Pharisäer, es sind nicht Fehler des Herzens, welche dem armen Leo zur Last gelegt werden, sondern Rechnungsfehler, und verlorene Millionen verzeiht selbst kein Christ. Aber habt doch endlich Erbarmen mit dem armen Gefallenen, mit der gesunkenen Größe, nehmt ihn wieder auf in Gnaden, laßt ihn wieder teilnehmen an einem guten Geschäfte, gönnt ihm einmal wieder einen kleinen Profit, woran sich sein gebrochenes Herz erlabe, date obolum Belisario – gebt einen Obolus einem Belisar, der zwar kein großer Feldherr, aber blind gewesen und nie im Leben irgendeinem Bedürftigen einen Obolus gegeben hat!
Auch patriotische Gründe gibt es, welche die Erhaltung des armen Leo wünschenswert machen. Gekränktes Selbstgefühl und die großen Verluste nötigen, wie ich höre, den einst so wohlhabenden Mann, das sehr teure Paris zu verlassen und sich auf das Land zurückzuziehen, wo er, wie Cincinnatus, seinen selbstgepflanzten Kohl verspeisen oder, wie einst Nebukadnezar,[485] auf seinen eigenen Wiesen grasen kann. Das wäre nun ein großer Verlust für die deutsche Landsmannschaft. Denn alle deutsche Reisende zweiten und dritten Ranges, die hierher nach Paris kamen, fanden im Hause des Herrn Leo eine gastliche Aufnahme, und manche, die in der frostigen Franzosenwelt ein Unbehagen empfanden, konnten sich mit ihrem deutschen Herzen hierher flüchten und mit gleichgesinnten Gemütern wieder heimisch fühlen. An kalten Winterabenden fanden sie hier eine warme Tasse Tee, etwas homöopathisch zubereitet, aber nicht ganz ohne Zucker. Sie sahen hier Herrn von Humboldt, nämlich in effigie an der Wand hängend, als Lockvogel. Hier sahen sie den Nasenstern in natura. Auch eine deutsche Gräfin fand man hier. Es zeigten sich hier auch die vornehmsten Diplomaten von Krähwinkel, nebst ihren kräh- und schiefwinklichten Gemahlinnen. Hier hörte man mitunter sehr ausgezeichnete Klavierspieler und Geiger, neuangekommene Virtuosen, die von Seelenverkäufern an das Haus Leo empfohlen worden und sich in seinen Soireen musikalisch ausbeuten ließen. Es waren die holden Klänge der Muttersprache, sogar der Großmuttersprache, welche hier den Deutschen begrüßten. Hier ward die Mundart des Hamburger Dreckwalls am reinsten gesprochen, und wer diese klassischen Laute vernahm, dem ward zumute, als röche er wieder die Twieten des Mönckedamms. Wenn aber gar die »Adelaide« von Beethoven gesungen wurde, flossen hier die sentimentalsten Tränen! Ja, jenes Haus war eine Oase, eine sehr aasige Oase deutscher Gemütlichkeit in der Sandwüste der französischen Verstandswelt, es war eine Lauberhütte des traulichsten Cancans, wo man ruddelte wie an den Ufern des Mains, wo man klingelte wie im Weichbilde der hil'gen Stadt Köln, wo dem vaterländischen Klatsch manchmal auch zur Erfrischung ein Gläschen Bier beigesellt ward – deutsches Herz, was verlangst du mehr? Es wäre jammerschade, wenn diese Klatschbude geschlossen würde.
[486] Paris, 6. Mai 1843
Die kostbare Zeit wird leichtsinnig verzettelt. Ich sage die kostbare Zeit, und ich verstehe darunter die Friedensjahre, die uns durch die Regierung Ludwig Philipps verbürgt sind. An dem Lebensfaden desselben hängt die Ruhe Frankreichs, und der Mann ist alt, und unerbittlich ist die Schere der Parze. Statt diese Zeit zu benutzen und den Knäuel der innern und äußern Mißverständnisse zu entwirren, sucht man die Verwickelungen und Schwierigkeiten noch zu steigern. Nichts als geschminkte Komödie, und Ränke hinter den Kulissen. Durch dieses Kleintreiben kann Frankreich wirklich an den Rand des Abgrunds geraten. Die Wetterfahnen verlassen sich auf ihr berühmtes Talent der Vielseitigkeit in der Bewegung; sie fürchten nicht die ärgsten Stürme, da sie immer verstanden, sich nach jedem Luftzug zu drehen. Ja, der Wind kann euch nicht brechen, denn ihr seid noch beweglicher wie der Wind. Aber ihr bedenkt nicht, daß ihr trotz eurer windigen Versatilität dennoch kläglich aus eurer Höhe herabpurzelt, wenn der Turm niederstürzt, auf dessen Spitze ihr gestellt seid! Fallen müßt ihr mit Frankreich, und dieser Turm ist untergraben, und im Norden hausen sehr böswillige Wettermacher. Die Schamanen an der Newa sind in diesem Augenblick nicht in der Ekstase des Sturmbeschwörens; aber hier hängt doch alles von Laune ab, von der absoluten Laune erhabenster Willkür. Wie gesagt, mit dem Ableben Ludwig Philipps verschwindet alle Bürgschaft der Ruhe; dieser größere Hexenmeister hält die Stürme gebunden durch seine geduldige Klugheit. Wer ruhig schlafen will, muß in seinem Nachtgebet den König von Frankreich allen Schutzengeln des Lebens empfehlen.
Guizot wird sich noch geraume Zeit halten, was gewiß wünschenswert, da eine ministerielle Krisis immer mit unvorhergesehenen Fatalitäten verbunden ist. Ein Ministerwechsel ist bei den veränderungsüchtigen Franzosen vielleicht ein Surrogat für den periodischen Dynastienwechsel. Aber diese Umwälzungen im Personal der höchsten Staatsbeamten sind darum[487] nicht minder ein Unglück für ein Land, das mehr als jedes andere der Stabilität bedürftig ist. Wegen ihrer prekären Stellung können die Minister sich in keine weitausgreifende Plane einlassen, und der nackte Erhaltungstrieb absorbiert alle ihre Kräfte. Ihr schlimmstes Mißgeschick ist nicht sowohl ihre Abhängigkeit vom königlichen Willen, der meistens verständig und heilsam ist, sondern ihre Abhängigkeit von den sogenannten Konservativen, jenen konstitutionellen Janitscharen, welche hier nach Laune die Minister absetzen und einsetzen. Erregt einer derselben ihre Ungnade, so versammeln sie sich in ihren parlamentarischen Ortas und pauken los auf ihre Kessel. Die Ungnade dieser Leute entspringt aber gewöhnlich aus wirklichen Suppenkesselinteressen: sie sind es nämlich, welche in Frankreich eigentlich regieren, indem kein Minister ihnen etwas verweigern darf, keinerlei Amt oder Vergünstigung, weder ein Konsulat für den ältesten Sohn ihres Herrn Schwagers noch ein Tabaksprivilegium für die Witwe ihres Portiers. Es ist unrichtig, wenn man von dem Regiment der Bourgeoisie im allgemeinen spricht, man sollte nur von dem Regimente der konservativen Deputierten reden; diese sind es, welche das jetzige Frankreich ausbeuten, in ihrem Privatinteresse, wie einst der Geburtsadel. Letzterer ist von der konservativen Partei keineswegs bestimmt gesondert, und wir begegnen manchem alten Namen unter den parlamentarischen Tagesherrschern. Der Name »Konservative« ist aber eigentlich ebenfalls keine richtige Bezeichnung, da es gewiß nicht allen, die wir solchermaßen benamsen, um die Konservation der politischen Zustände zu tun ist und manche daran sehr gern ein bißchen rütteln möchten; ebenso wie es in der Opposition sehr viele Männer gibt, die das Bestehende um alles in der Welt willen nicht umstürzen möchten und gar besonders vor dem Krieg eine Todesscheu hegen. Die meisten jener Oppositionsmänner wollen nur ihre Partei ans Regiment bringen, um dieses, gleich den Konservativen, in ihrem Privatinteresse auszubeuten. Die Prinzipien sind auf beiden Seiten nur Losungsworte ohne Bedeutung; es handelt sich im Grunde nur darum, welche von[488] beiden Parteien die materiellen Vorteile der Herrschaft erwerbe. In dieser Beziehung haben wir hier denselben Kampf, der sich jenseits des Kanals, unter den Namen Whigs und Tories, seit zwei Jahrhunderten hinschleppt.
Die englische konstitutionelle Regierungsform war, wie männiglich bekannt, das große Muster, wonach sich das jetzige französische parlamentarische Gemeinwesen gebildet; namentlich die Doktrinäre haben dieses Vorbild bis zur Pedanterie nachzuäffen gesucht, und es wäre nicht unwahrscheinlich, daß die allzu große Nachgiebigkeit, womit das heutige Ministerium die Usurpationen der Konservativen erduldet und sich von denselben ausbeuten läßt, am Ende aus einer gelehrten Gründlichkeit hervorginge, die ihr reiches, durch mühsame Studien erworbenes Wissen getreulichst dokumentieren möchte. Der 29. Oktober, d.h. der Herr Professor, den die Opposition mit jenem Monatsdatum bezeichnet, kennt das Räderwerk der englischen Staatsmaschine besser als irgend jemand, und wenn er glaubt, daß eine solche Maschine auch diesseits des Kanals nicht anders fungieren könne als durch die unsittlichen Mittel, in deren Anwendung Walpole ein Meister und Robert Peel keineswegs ein Stümper war, so ist eine solche Ansicht gewiß sehr zu beklagen, aber wir können ihr nicht mit hinlänglicher Gelehrsamkeit und Geschichtskenntnis widersprechen. Wir müssen sagen, die Maschine selbst taugt nichts; aber fehlt uns dieser Mut, so können wir den dirigierenden Maschinenmeister keiner allzu herben Kritik unterwerfen. Und wozu nützte am Ende diese Kritik? Was hülfe es, in Augsburg zu rügen, wenn an der Seine gesündigt wird? Die Opposition eines Ausländers in ausländischen Blättern, wo es sich um Gebreste der innern Verwaltung Frankreichs handelt, wäre eine Rodomontade, die ebenso ungeziemend wie närrisch. Nicht die innere Administration, sondern nur Akte der Politik, die auch auf unser eignes Vaterland einen Einfluß üben könnten, soll ein Korrespondent besprechen. Ich werde daher die jetzige Korruption, das Bestechungssystem, womit meine Kollegen in deutschen Zeitungen so viele Kolonnen anfüllen, weder in Frage stellen noch[489] rechtfertigen. Was geht das uns an, wer in Frankreich die besten Ämter, die fettesten Sinekuren, die prachtvollsten Orden erschleicht oder an sich reißt? Was kümmert es uns, ob es ein Schnapphahn der Rechten oder ein Schnapphahn der Linken ist, der die goldenen Gedärme des Budgets einsteckt? Wir haben nur dafür zu sorgen, daß wir uns selbst in der respektiven Heimat von unsern heimischen Tories oder Whigs durch kein Ämtchen, durch keinen Titel, durch kein Bändchen erkaufen lassen, wenn es gilt, für die Interessen des deutschen Volks zu reden oder zu stimmen! Warum sollen wir jetzt über den Splitter, den wir in französischen Augen bemerkt, soviel Zeter schreien, wenn wir uns über den Balken in den blauen Augen unsrer deutschen Behörden entweder gar nicht oder sehr kleinlaut äußern dürfen? Wer könnte übrigens in Deutschland beurteilen, ob der Franzose, dem das französische Ministerium eine Stelle oder Gunst gewährt, dieselbe verdienter- oder unverdienterweise empfing? Die Ämterjägerei wird nicht aufhören unter einem Ministerium Thiers oder Barrot, wenn Guizot fällt. Kämen gar die Republikaner ans Ruder, so würde die Korruption sich mehr im Gewande der Hypokrisie zeigen, statt daß sie jetzt ohne Schminke, schier naiv zynisch auftritt. Die Partei wird immer den Männern der Partei die große Schüssel vorsetzen. Einen entsetzlich grauenhaften Anblick böte uns gewiß die Stunde, »wo sich das Laster erbricht und die Tugend zu Tische setzt!« Mit welcher Wolfsgier würden die armen Hungerleider der Tugend nach der langen Fastenzeit sich über die guten Speisen herstürzen! Wie mancher Cato würde sich bei dieser Gelegenheit den Magen verderben! Wehe den Verrätern, die sich satt gegessen und sogar Rebhühner und Trüffeln gegessen und Champagner getrunken während unsrer jetzigen Zeit der Verderbnis, der Bestechung, der Guizotschen Korruption!
Ich will nicht untersuchen, von welcher Beschaffenheit diese sogenannte Guizotsche Korruption ist und welche Beklagnisse die verletzten Interessen anführen. Muß der große Puritaner wirklich seiner Selbsterhaltung wegen zu dem anglikanischen[490] Bestechungssystem seine Zuflucht nehmen, so ist er gewiß sehr zu bedauern; eine Vestalin, welche einer Maison de tolérance vorstehen müßte, befände sich gewiß in keiner minder unpassenden Lage. Vielleicht besticht ihn selbst der Gedanke, daß von seiner Selbsterhaltung auch der Fortbestand des ganzen jetzigen gesellschaftlichen Zustandes von Frankreich abhängig sei. Das Zusammenbrechen desselben ist für ihn der Beginn aller möglichen Schrecknisse. Guizot ist der Mann des geregelten Fortschrittes, und er sieht die teuern, blutteuern Erworbenheiten der Revolution jetzt mehr als je gefährdet durch ein düster heranziehendes Weltgewitter. Er möchte gleichsam Zeit gewinnen, um die Garben der Ernte unter Dach zu bringen. In der Tat, die Fortdauer jener Friedensperiode, wo die gereiften Früchte eingescheuert werden können, ist unser erstes Bedürfnis. Die Saat der liberalen Prinzipien ist erst grünlich abstrakt emporgeschossen, und das muß erst ruhig einwachsen in die konkret knorrigste Wirklichkeit. Die Freiheit, die bisher nur hie und da Mensch geworden, muß auch in die Massen selbst, in die untersten Schichten der Gesellschaft, übergehen und Volk werden. Diese Volkwerdung der Freiheit, dieser geheimnisvolle Prozeß, der, wie jede Geburt, wie jede Frucht, als notwendige Bedingnis Zeit und Ruhe begehrt, ist gewiß nicht minder wichtig, als es jene Verkündigung der Prinzipien war, womit sich unsre Vorgänger beschäftigt haben. Das Wort wird Fleisch, und das Fleisch blutet. Wir haben eine geringere Arbeit, aber größeres Leid als unsre Vorgänger, welche glaubten, alles sei glücklich zu Ende gebracht, nachdem die heiligen Freiheits- und Gleichheitsgesetze feierlich proklamiert und auf hundert Schlachtfeldern sanktioniert worden. Ach! das ist noch jetzt der leidige Irrtum so vieler Revolutionsmänner, welche sich einbilden, die Hauptsache sei, daß ein Fetzen Freiheit mehr oder weniger abgerissen werde von dem Purpurmantel der regierenden Macht; sie sind zufrieden, wenn nur die Ordonnanz, die irgendein demokratisches Grundgesetz promulgiert, recht hübsch, schwarz auf weiß, abgedruckt steht im »Moniteur«. Da erinnere ich mich, als ich vor zwölf Jahren[491] den alten Lafayette besuchte, drückte derselbe mir beim Fortgehen ein Papier in die Hand, und er hatte dabei ganz die überzeugte Miene eines Wunderdoktors, der uns ein Universalelixier überreicht. Es war die bekannte Erklärung der Menschenrechte, die der Alte vor sechzig Jahren aus Amerika mitgebracht und noch immer als die Panazee betrachtete, womit man die ganze Welt radikal kurieren könne. Nein, mit dem bloßen Rezept ist dem Kranken noch nicht geholfen, obgleich jenes unerläßlich ist: er bedarf auch der Tausendmischerei des Apothekers, der Sorgfalt der Wärterin, er bedarf der Ruhe, er bedarf der Zeit.
August 1854
Als ich in obigem Berichte, vielleicht etwas zu beschaulich indifferent, aber mit gutem Gewissen, ganz ohne heuchlerische Tugendgrämelei, über die sogenannte Guizotsche Korruption schrieb, kam es mir wahrlich nicht in den Sinn, daß ich selber, fünf Jahre später, als Teilnehmer einer solchen Korruption angeklagt werden sollte! Die Zeit war sehr gut gewählt, und die Verleumdung hatte freien Spielraum in der Sturm-und-Drang-Periode vom Februar 1848, wo alle politischen Leidenschaften, plötzlich entzügelt, ihren rasenden Veitstanz begannen. Es herrschte überall eine Verblendung, wie sie nur bei den Hexen auf dem Blocksberg oder bei dem Jakobinismus in seinen rohesten Schreckenstagen vorgekommen. Es gab wieder unzählige Klubs, wo von den schmutzigsten Lippen der unbescholtenste Leumund angespuckt ward; die Mauern aller Gebäude waren mit Schmähungen, Denunziationen, Aufruhrpredigten, Drohungen, Invektiven, in Versen und in Prosa, besudelt: eine schmierige Mordbrandliteratur. Sogar Blanqui, der inkarnierte Terrorismus und der bravste Kerl unter der Sonne, ward damals der gemeinsten Angeberei und eines Einverständnisses mit der Polizei bezüchtigt. – Keine honette Person verteidigte sich mehr. Wer einen schönen Mantel besaß, verhüllte darin das Antlitz. In der ersten Revolution mußte der Name Pitt[492] dazu dienen, die besten Patrioten als verkaufte Verräter zu beflecken – Danton, Robespierre, ja sogar Marat, denunzierte man als besoldet von Pitt. Der Pitt der Februarrevolution hieß Guizot, und den lächerlichsten Verdächtigungen mußte der Name Guizot Vorschub leisten. Erregte man den Neid eines jener Tageshelden, die schwach von Geist waren, aber lange in Sainte-Pélagie oder gar auf dem Mont Saint-Michel gesessen, so konnte man darauf rechnen, nächstens in seinem Klub als ein Helfershelfer Guizots, als ein feiler Söldner des Guizotschen Bestechungssystems angeklagt zu werden. Es gab damals keine Guillotine, womit man die Kopfe abschnitt, aber man hatte eine Guizotine erfunden, womit man uns die Ehre abschnitt. Auch der Name des Schreibers dieser Blätter entging nicht der Verunglimpfung in jener Tollzeit, und ein Korrespondent der »Allgemeinen Zeitung« entblödete sich nicht, in einem anonymen Artikel von den unwürdigsten Stipulationen zu sprechen, wodurch ich für eine namhafte Summe meine literarische Tätigkeit den gouvernementalen Bedürfnissen des Ministeriums Guizot verkauft hätte.
Ich enthalte mich jeder Beleuchtung der Person jenes fürchterlichen Anklägers, dessen rauhe Tugend durch die herrschende Korruption so sehr in Harnisch geraten; ich will diesem mutigen Ritter nicht das Visier seiner Anonymität abreißen, und nur beiläufig bemerke ich, daß er kein Deutscher, sondern ein Italiener ist, der, in Jesuitenschulen erzogen, seiner Erziehung treu blieb und zu dieser Stunde in den Bureaux der österreichischen Gesandtschaft zu Paris eine kleine Anstellung genießt. Ich bin tolerant, gestatte jedem, sein Handwerk zu treiben, wir können nicht alle ehrliche Leute sein, es muß Käuze von allen Farben geben, und wenn ich mir etwa eine Rüge gestatte, so ist es nur die raffinierte Treulosigkeit, womit mein ultramontaner Brutus sich auf die Autorität eines französischen Flugblattes berief, das, der Tagesleidenschaft dienend, nicht rein von Entstellungen und Mißdeutungen jeder Art war, aber in bezug auf mich selbst sich auch kein Wort zuschulden kommen ließ, welches obige Bezüchtigung rechtfertigen[493] konnte. Wie es kam, daß die sonst so behutsame »Allgemeine Zeitung« ein Opfer solcher Mystifikation wurde, will ich später andeuten. Ich begnüge mich hier, auf die Augsburger »Allgemeine Zeitung« vom 23. Mai 1848, Außerordentliche Beilage, zu verweisen, wo ich in einer öffentlichen Erklärung über die saubere Insinuation ganz unumwunden, nicht der geringsten Zweideutigkeit Raum lassend, mich aussprach. Ich unterdrückte alle verschämten Gefühle der Eitelkeit, und in öffentlicher »Allgemeinen Zeitung« machte ich das traurige Geständnis, daß auch mich am Ende die schreckliche Krankheit des Exils, die Armut, heimgesucht hatte und daß auch ich meine Zuflucht nehmen mußte zu jenem »großen Almosen, welches das französische Volk an so viele Tausende von Fremden spendete, die sich durch ihren Eifer für die Sache der Revolution in ihrer Heimat mehr oder minder glorreich kompromittiert hatten und an dem gastlichen Herde Frankreichs eine Freistätte suchten«.
Dieses waren meine nackten Worte in der besagten Erklärung, ich nannte die Sache bei ihrem betrübsamsten Namen. Obgleich ich wohl andeuten konnte, daß die Hülfsgelder, welche mir als eine »allocation annuelle d'une pension de secours« zuerkannt worden, auch wohl als eine hohe Anerkennung meiner literarischen Reputation gelten mochten, wie man mir mit der zartesten Courtoisie notifiziert hatte, so setzte ich doch jene Pension unbedingt auf Rechnung der Nationalgroßmut, der politischen Bruderliebe, welche sich hier ebenso rührend schön kundgab, wie es die evangelische Barmherzigkeit jemals getan haben mag. Es gab hochfahrende Gesellen unter meinen Exilkollegen, welche jede Unterstützung nur Subvention nannten; bettelstolze Ritter, welche alle Verpflichtung haßten, nannten sie ein Darlehn, welches sie später wohlverzinst den Franzosen zurückzahlen würden – ich jedoch demütigte mich vor der Notwendigkeit und gab der Sache ihren wahren Namen. In der erwähnten Erklärung hatte ich hinzugesetzt: »Ich nahm solche Hülfsgelder in Anspruch kurz nach jener Zeit, als die bedauerlichen Bundestagsdekrete erschienen, die mich, als den[494] Chorführer eines sogenannten Jungen Deutschlands, auch finanziell zu verderben suchten, indem sie nicht bloß meine vorhandenen Schriften, sondern auch alles, was späterhin aus meiner Feder fließen würde, im voraus mit Interdikt belegten und mich solchermaßen meines Vermögens und meiner Erwerbsmittel beraubten, ohne Urteil und Recht.«
Ja, »ohne Urteil und Recht«. – Ich glaube mit Fug solchermaßen ein Verfahren bezeichnen zu dürfen, das unerhört war in den Annalen absurder Gewalttätigkeit. Durch ein Dekret meiner heimischen Regierung wurden nicht bloß alle Schriften verboten, die ich bisher geschrieben, sondern auch die künftigen, alle Schriften, welche ich hinfüro schreiben würde; mein Gehirn wurde konfisziert, und meinem armen unschuldigen Magen sollten durch dieses Interdikt alle Lebensmittel abgeschnitten werden. Zugleich sollte auch mein Name ganz ausgerottet werden aus dem Gedächtnis der Menschen, und an alle Zensoren meiner Heimat erging die strenge Verordnung, daß sie sowohl in Tagesblättern wie in Broschüren und Büchern jede Stelle streichen sollten, wo von mir die Rede sei, gleichviel, ob günstig oder nachteilig. Kurzsichtige Toren! solche Beschlüsse und Verordnungen waren ohnmächtig gegen einen Autor, dessen geistige Interessen siegreich aus allen Verfolgungen hervorgingen, wenn auch seine zeitlichen Finanzen sehr gründlich zugrunde gerichtet wurden, so daß ich noch heute die Nachwirkung der kleinlichen Nücken verspüre. Aber verhungert bin ich nicht, obgleich ich in jener Zeit von der bleichen Sorge hart genug bedrängt ward. Das Leben in Paris ist so kostspielig, besonders wenn man hier verheiratet ist und keine Kinder hat. Letztere, diese liebe kleine Puppen, vertreiben dem Gatten und zumal der Gattin die Zeit, und da brauchen sie keine Zerstreuung außer dem Hause zu suchen, wo dergleichen so teuer. Und dann habe ich nie die Kunst gelernt, wie man die Hungrigen mit bloßen Worten abspeist, um so mehr, da mir die Natur ein so wohlhabendes Äußere verliehen, daß niemand an meine Dürftigkeit geglaubt hätte. Die Notleidenden, die bisher meine Hülfe reichlich genossen, lachten,[495] wenn ich sagte, daß ich künftig selber darben müsse. War ich nicht der Verwandte aller möglichen Millionäre? Hatte nicht der Generalissimus aller Millionäre, hatte nicht dieser Millionärissimus mich seinen Freund genannt, seinen Freund? Ich konnte nie meinen Klienten begreiflich machen, daß der große Millionärissimus mich eben deshalb seinen Freund nenne, weil ich kein Geld von ihm begehre; verlangte ich Geld von ihm, so hätte ja gleich die Freundschaft ein Ende! Die Zeiten von David und Jonathan, von Orestes und Pylades seien vorüber. Meine armen, hülfsbedürftigen Dummköpfe glaubten, daß man so leicht etwas von den Reichen erhalten könne. Sie haben nicht, wie ich, gesehen, mit welchen schrecklichen eisernen Schlössern und Stangen ihre großen Geldkisten verwahrt sind. Nur von Leuten, welche selbst wenig haben, läßt sich allenfalls etwas erborgen, denn erstens sind ihre Kisten nicht von Eisen, und dann wollen sie reicher scheinen, als sie sind.
Ja, zu meinen sonderbaren Mißgeschicken gehörte auch, daß nie jemand an meine eignen Geldnöten glauben wollte. In der Magna Charta, welche, wie uns Cervantes berichtet, der Gott Apollo den Poeten oktroyiert hat, lautet freilich der erste Paragraph: »Wenn ein Poet versichert, daß er kein Geld habe, solle man ihm auf sein bloßes Wort glauben und keinen Eidschwur verlangen« – ach! ich berief mich vergebens auf dieses Vorrecht meines Poetenstandes. So geschah es auch, daß die Verleumdung leichtes Spiel hatte, als sie die Motive, welche mich bewogen, die in Rede stehende Pension anzunehmen, nicht den natürlichsten Nöten und Befugnissen zuschrieb. Ich erinnere mich, als damals mehre meiner Landsleute, darunter der entschiedenste und geistreichste, Dr. Marx, zu mir kamen, um ihren Unwillen über den verleumderischen Artikel der »Allgemeinen Zeitung« auszusprechen, rieten sie mir, kein Wort darauf zu antworten, indem sie selbst bereits in deutschen Blättern sich dahin geäußert hätten, daß ich die empfangene Pension gewiß nur in der Absicht angenommen, um meine ärmern Parteigenossen tätiger unterstützen zu können. Solches[496] sagten mir sowohl der ehemalige Herausgeber der »Neuen Rheinischen Zeitung« als auch die Freunde, welche seinen Generalstab bildeten; ich aber dankte für die liebreiche Teilnahme, und ich versicherte diesen Freunden, daß sie sich geirrt, daß ich gewöhnlich jene Pension sehr gut für mich selbst brauchen konnte und daß ich dem böswilligen anonymen Artikel der »Allgemeinen Zeitung« nicht indirekt durch meine Freunde, sondern direkt mit eigner Namensunterschrift entgegentreten müsse.
Bei dieser Gelegenheit will ich auch erwähnen, daß die Redaktion des französischen Flugblattes, die »Revue rétrospective«, auf welches sich der Korrespondent der »Allgemeinen Zeitung« berief, ihren Unwillen über eine solche Zitation in einer bestimmten Abwehr bezeugen wollte, die übrigens ganz überflüssig gewesen wäre, da der flüchtigste Anblick auf jenes französische Blatt hinlänglich dartat, daß dasselbe an jeder Verunglimpfung meines Namens unschuldig; doch die Existenz jenes Blattes, welches in zwanglosen Lieferungen erschien, war sehr ephemer, und es ward von dem tollen Tagesstrudel verschlungen, bevor es die projektierte Abwehr bringen konnte. Der Redakteur en chef jener retrospektiven Revue war der Buchhändler Paulin, ein wackerer, ehrlicher Mann, der sich mir seit zwei Dezennien immer sehr teilnehmend und dienstwillig erwiesen; durch Geschäftsbezüge und gemeinschaftliche intime Freunde hatten wir Gelegenheit, uns wechselseitig hochschätzen und achten zu lernen. Paulin war der Associé meines Freundes Dubochet, er liebt wie einen Bruder meinen vielberühmten Freund Mignet, und er vergöttert Thiers, welcher, unter uns gesagt, die »Revue rétrospective« heimlich patronisierte; jedenfalls ward sie von Personen seiner Koterie gestiftet und geleitet, und diesen Personen konnte es wohl nicht in den Sinn kommen, einen Mann zu verunglimpfen, von welchem sie wußten, daß ihr Gönner ihn mit seiner besondern Vorliebe beehrte.
Die Redaktion der »Allgemeinen Zeitung« hatte in keinem Fall jenes französische Blatt gekannt, ehe sie den saubern[497] Korruptionsartikel druckte. In der Tat, der flüchtigste Anblick hätte ihr die abgefeimte Arglist ihres Korrespondenten entdeckt. Diese bestand darin, daß er mir eine Solidarität mit Personen auflud, die von mir gewiß ebenso entfernt und ebenso verschieden waren wie ein Chesterkäse vom Monde. Um zu zeigen, wie das Guizotsche Ministerium nicht bloß durch Ämterverteilung, sondern auch durch bare Geldspenden sein Korruptionssystem übte, hatte die erwähnte französische Revue das Budget, Einnahme und Ausgabe des Departements, dem Guizot vorstand, abgedruckt, und hier sahen wir allerdings jedes Jahr die ungeheuersten Summen verzeichnet für ungenannte Ausgaben, und das anklagende Blatt hatte gedroht, in spätern Nummern die Personen namhaft zu machen, in deren Säckel jene Schätze geflossen. Durch das plötzliche Eingehen des Blattes kam die Drohung nicht zur Ausführung, was uns sehr leid war, da jeder alsdann sehen konnte, wie wir bei solcher geheimen Munifizenz, welche direkt vom Minister oder seinem Sekretär ausging und eine Gratifikation für bestimmte Dienste war, niemals beteiligt gewesen. Von solchen sogenannten bons du ministre, den wirklichen Geheimfonds, sind sehr zu unterscheiden die Pensionen, womit der Minister sein Budget schon belastet vorfindet, zugunsten bestimmter Personen, denen jährlich bestimmte Summen als Unterstützung zuerkannt worden. Es war eine sehr ungroßmütige, ich möchte sagen eine sehr unfranzösische Handlung, daß das retrospektive Flugblatt, nachdem es in Bausch und Bogen die verschiedenen Gesandtschaftsgehalte und Gesandtschaftsausgaben angegeben, auch die Namen der Personen druckte, welche Unterstützungspensionen genossen, und wir müssen solches um so mehr tadeln, da hier nicht bloß in Dürftigkeit gesunkene Männer des höchsten Ranges vorkamen, sondern auch große Damen, die ihre gefallene Größe gern unter einigen Putzflittern verbargen und jetzt mit Kummer ihr vornehmes Elend enthüllt sahen. Von zarterem Takte geleitet, wird der Deutsche dem unartigen Beispiel der Franzosen nicht folgen, und wir verschweigen hier die Nomenklatur der hochadligen[498] und durchlauchtigen Frauen, die wir auf der Liste der Pensionsfonds im Departemente Guizots verzeichnet fanden. Unter den Männern, welche auf derselben Liste mit jährlichen Unterstützungssummen genannt waren, sahen wir Exulanten aus allen Weltgegenden, Flüchtlinge aus Griechenland und St. Domingo, Armenien und Bulgarien, aus Spanien und Polen, hochklingende Namen von Baronen, Grafen, Fürsten, Generälen und Exministern, von Priestern sogar, gleichsam eine Aristokratie der Armut bildend, während auf den Listen der Kassen andrer Departemente minder brillante arme Teufel paradierten. Der deutsche Poet brauchte sich wahrlich seiner Genossenschaft nicht zu schämen, und er befand sich in Gesellschaften von Berühmtheiten des Talentes und des Unglücks, deren Schicksal erschütternd. Dicht neben meinem Namen auf der erwähnten Pensionsliste, in derselben Rubrik und in derselben Kategorie, fand ich den Namen eines Mannes, der einst ein Reich beherrschte, größer als die Monarchie des Ahasverus, der da König war von Haude bis Kusch, von Indien bis an die Mohren, über hundertundsiebenundzwanzig Länder; – es war Godoy, der Prince de la paix, der unumschränkte Günstling Ferdinands VII. und seiner Gattin, die sich in seine Nase verliebt hatte. – Nie sah ich eine umfangreichere, kurfürstlichere Purpurnase, und ihre Füllung mit Schnupftabak muß gewiß dem armen Godoy mehr gekostet haben, als sein französisches Jahrgehalt betrug. Ein anderer Name, den ich neben dem meinigen erblickte und der mich mit Rührung und Ehrfurcht erfüllte, war der meines Freundes und Schicksalsgenossen, des ebenso glorreichen wie unglücklichen Augustin Thierry, des größten Geschichtschreibers unserer Zeit. Aber anstatt neben solchen respektabeln Leuten meinen Namen zu nennen, wußte der ehrliche Korrespondent der »Allgemeinen Zeitung« aus den erwähnten Budgetlisten, wo freilich auch pensionierte diplomatische Agenten verzeichnet standen, just zwei Namen der deutschen Landsmannschaft herauszuklauben, welche Personen gehörten, die gewiß besser sein mochten als ihr Ruf, aber jedenfalls dem meinigen schaden mußten, wenn[499] man mich damals mit ihnen zusammenstellte. Der eine war ein deutscher Gelehrter aus Göttingen, ein Legationsrat, der von jeher der Sündenbock der liberalen Partei gewesen und das Talent besaß, durch eine zur Schau getragene diplomatische Geheimtuerei für das Schlimmste zu gelten. Begabt mit einem Schatz von Kenntnissen und einem eisernen Fleiße, war er für viele Kabinette ein sehr brauchbarer Arbeiter gewesen, und so arbeitete er später gleichfalls in der Kanzlei Guizots, welcher ihn auch mit verschiedenen Missionen betraute, und diese Dienste rechtfertigen seine Besoldung, die sehr bescheiden war. Die Stellung des andern Landsmanns, mit welchem der ehrliche Korruptionskorrespondent mich zusammen nannte, hatte mit der meinigen ebensowenig Analogie wie die des ersteren: er war ein Schwabe, der bisher als unbescholtener Spießbürger in Stuttgart lebte, aber jetzt in einem fatal zweideutigen Lichte erschien, als man sah, daß er auf dem Budget Guizots mit einer Pension verzeichnet stand, die fast ebenso groß war wie das Jahrgehalt, das aus derselben Kasse der Oberst Gustavson, Exkönig von Schweden, bezog; ja sie war drei- oder viermal so groß wie die auf demselben Guizotschen Budget eingezeichneten Pensionen des Baron von Eckstein und des Hrn. Capefigue, welche beide, nebenbei gesagt, seit undenklicher Zeit Korrespondenten der »Allgemeinen Zeitung« sind. Der Schwabe konnte in der Tat seine fabelhaft große Pension durch kein notorisches Verdienst rechtfertigen, er lebte nicht als Verfolgter in Paris, sondern, wie gesagt, in Stuttgart als ein stiller Untertan des Königs von Württemberg, er war kein großer Dichter, er war kein Lumen der Wissenschaft, kein Astronom, kein berühmter Staatsmann, kein Heros der Kunst, er war überhaupt kein Heros, im Gegenteil, er war sehr unkriegerisch, und als er einst die Redaktion der »Allgemeinen Zeitung« beleidigt hatte und diese letztere spornstreichs von Augsburg nach Stuttgart reiste, um den Mann auf Pistolen herauszufordern: – da wollte der gute Schwabe kein Bruderblut vergießen (denn die Redaktion der »Allgemeinen Zeitung« ist von Geburt eine Schwäbin), und[500] er lehnte das Pistolenduell noch aus dem ganz besondern Sanitätsgrunde ab, weil er keine bleiernen Kugeln vertragen könne und sein Bauch nur an gebackene Schaletkugeln und schwäbische Knödeln gewöhnt sei.
Korsen, nordamerikanische Indianer und Schwaben verzeihen nie; und auf diese schwäbische Vendetta rechnete der Jesuitenzögling, als er seinen korrupten Korruptionsartikel der »Allgemeinen Zeitung« einschickte; und die Redaktion derselben ermangelte nicht, brühwarm eine Pariser Korrespondenz abzudrucken, welche den guten Leumund des unerschossenen schwäbischen Landsmanns den unheimlichsten und schändlichsten Hypothesen und Konjekturen überlieferte. Die Redaktion der »Allgemeinen Zeitung« konnte ihre Unparteilichkeit bei der Aufnahme dieses Artikels um so glänzender zur Schau stellen, da darin einer ihrer befreundeten Korrespondenten nicht minder bedenklich bloßgestellt war. Ich weiß nicht, ob sie der Meinung gewesen, daß sie mir durch den Abdruck schmählicher, aber haltloser Beschuldigungen einen Dienst erweise, indem sie mir dadurch Gelegenheit böte, jedem unwürdigen Gerede, jeder im Nebel schleichenden Insinuation mit einer bestimmten Erklärung entgegenzutreten – genug, die Redaktion der »Allgemeinen Zeitung« druckte den eingesandten Korruptionsartikel, doch sie begleitete denselben mit einer Note, worin sie in bezug auf meine Pension die Bemerkung machte, »daß ich dieselbe in keinem Falle für das, was ich schrieb, sondern nur für das, was ich nicht schrieb, empfangen haben könne«.
Ach, diese gewiß wohlgemeinte, aber wegen ihrer allzu witzigen Abfassung sehr verunglückte Ehrenrettungsnote war ein wahres pavé, ein Pflasterstein, wie die französischen Journalisten in ihrer Koteriesprache eine ungeschickte Verteidigung nennen, welche den Verteidigten totschlägt, wie es der Bär in der Fabel tat, als er von der Stirn des schlafenden Freundes eine Schmeißfliege verscheuchen wollte und mit dem Quaderstein, den er auf sie schleuderte, auch das Hirn des Schützlings zerschmetterte.[501]
Das augsburgische pavé mußte mich empfindlicher verletzen als der Korrespondenzartikel der armseligen Schmeißfliege, und in der Erklärung, die ich damals, wie oben erwähnt, in der »Allgemeinen Zeitung« drucken ließ, sagte ich darüber folgende Worte: »Die Redaktion der ›Allgemeinen Zeitung‹ begleitet jene Korrespondenz mit einer Note, worin sie vielmehr die Meinung ausspricht, daß ich nicht für das, was ich schrieb, jene Unterstützung empfangen haben möge, sondern für das, was ich nicht schrieb. Die Redaktion der ›Allgemeinen Zeitung‹, die seit zwanzig Jahren nicht sowohl durch das, was sie von mir druckte, als vielmehr durch das, was sie nicht druckte, hinlänglich Gelegenheit hatte, zu merken, daß ich nicht der servile Schriftsteller bin, der sich sein Stillschweigen bezahlen läßt – besagte Redaktion hätte mich wohl mit jener levis nota verschonen können.«
Zeit, Ort und Umstände erlaubten damals keine weitern Erörterungen, doch heute, wo alle Rücksichten erloschen, ist es mir erlaubt, noch viel tatsächlicher darzutun, daß ich weder für das, was ich schrieb, noch für das, was ich nicht schrieb, vom Ministerium Guizot bestochen sein konnte. Für Menschen, die mit dem Leben abgeschlossen, haben solche retrospektive Rechtfertigungen einen sonderbar wehmütigen Reiz, und ich überlasse mich demselben mit träumerischer Indolenz. Es ist mir zu Sinne, als ob ich einem Längstverstorbenen eine fromme Genugtuung verschaffe; jedenfalls stehen hier am rechten Platze die folgenden Erläuterungen über französische Zustände zur Zeit des Ministeriums Guizot.
Das Ministerium vom 29. November 1840 sollte man eigentlich nicht das Ministerium Guizot, sondern vielmehr das Ministerium Soult nennen, da letzterer Präsident des Ministerkonseils war. Aber Soult war nur dessen Titularoberhaupt, ungefähr wie der jedesmalige König von Hannover immer den Titel eines Rektors der Universität Georgia Augusta führt, während Se. Magnifizenz, der zeitliche Prorektor zu Göttingen, die wirkliche Rektoratsgewalt ausübt. Trotz der offiziellen Machtvollkommenheit Soults war von ihm nie die Rede;[502] nur daß zuweilen die liberalen Blätter, wenn sie mit ihm zufrieden waren, ihn den Sieger von Toulouse nannten; hatte er aber ihr Mißfallen erregt, so verhöhnten sie ihn, steif und fest behauptend, daß er die Schlacht bei Toulouse nicht gewonnen habe. Man sprach nur von Guizot, und dieser stand während mehren Jahren im Zenit seiner Popularität bei der Bourgeoisie, die von der Kriegslust seines Vorgängers ins Bockshorn gejagt worden; es versteht sich von selbst, daß der Nachfolger von Thiers noch größere Sympathie jenseits des Rheins erregte. Wir Deutschen konnten dem Thiers nicht verzeihen, daß er uns aus dem Schlaf getrommelt, aus unserm gemütlichen Pflanzenschlaf, und wir rieben uns die Augen und riefen: »Vivat Guizot!« Besonders die Gelehrten sangen das Lob desselben, in Pindarschen Hymnen, wo auch die Prosodie, das antike Silbenmaß, treu nachgeahmt war, und ein hier durchreisender deutscher Professor der Philologie versicherte mir, daß Guizot ebensogroß sei wie Thiersch. Ja, ebensogroß wie mein lieber, menschenfreundlicher Freund Thiersch, der Verfasser der besten griechischen Grammatik! Auch die deutsche Presse schwärmte für Guizot, und nicht bloß die zahmen Blätter, sondern auch die wilden, und diese Begeisterung dauerte sehr lange; ich erinnere mich, noch kurz vor dem Sturz des vielgefeierten Lieblings der Deutschen fand ich im radikalsten deutschen Journal, in der »Speyerer Zeitung«, eine Apologie Guizots aus der Feder eines jener Tyrannenfresser, deren Tomahawk und Skalpiermesser keine Barmherzigkeit jemals kannte. Die Begeisterung für Guizot ward in der »Allgemeinen Zeitung« fürnehmlich vertreten von meinem Kollegen mit dem Venuszeichen und von meinem Kollegen mit dem Pfeil; ersterer schwang das Weihrauchfaß mit sazerdotaler Weihe, letzterer bewahrte selbst in der Ekstase seine Süße und Zierlichkeit: beide hielten aus bis zur Katastrophe.
Was mich betrifft, so hatte ich, seitdem ich mich ernstlich mit französischer Literatur beschäftigt, die ausgezeichneten Verdienste Guizots immer erkannt und begriffen, und meine Schriften zeugen von meiner frühen Verehrung des weltberühmten[503] Mannes. Ich liebte mehr seinen Nebenbuhler Thiers, aber nur seiner Persönlichkeit wegen, nicht ob seiner Geistesrichtung, die eine borniert nationale ist, so daß er fast ein französischer Altdeutscher zu nennen wäre, während Guizots kosmopolitische Anschauungsweise meiner eignen Denkungsart näherstand. Ich liebte vielleicht in ersterem manche Fehler, deren man mich selber zieh, während die Tugenden des andern beinahe abstoßend auf mich wirkten. Erstern mußte ich oft tadeln, doch geschah es mit Widerstreben; wenn mir letzterer Lob abzwang, so erteilte ich es gewiß erst nach strengster Prüfung. Wahrlich nur mit unabhängiger Wahrheitsliebe besprach ich den Mann, welcher damals den Mittelpunkt aller Besprechungen bildete, und ich referierte immer getreu, was ich hörte. Es war für mich eine Ehrensache, die Berichte, worin ich den Charakter und die gouvernementalen Ideen (nicht die administrativen Akte) des großen Staatsmannes am wärmsten würdigte, hier in diesem Buche ganz unverändert abzudrucken, obgleich dadurch manche Wiederholungen entstehen mußten. Der geneigte Leser wird bemerken, diese Besprechungen gehen nicht weiter als bis gegen Ende des Jahres 1843, wo ich überhaupt aufhörte, politische Artikel für die »Allgemeine Zeitung« zu schreiben, und mich darauf beschränkte, dem Redakteur derselben in unserer Privatkorrespondenz manchmal freundschaftliche Mitteilungen zu machen; nur dann und wann veröffentlichte ich einen Artikel über Wissenschaft und schöne Künste.
Das ist nun das Schweigen, das Nichtschreiben, wovon die »Allgemeine Zeitung« spricht und das mir als einen Verkauf meiner Redefreiheit ausgedeutet werden sollte. Lag nicht viel näher die Annahme, daß ich um jene Zeit in meinem Glauben an Guizot schwankend, überhaupt an ihm irre geworden sein mochte? Ja, das war der Fall, doch im März 1848 geziemte mir kein solches Geständnis. Das erlaubten damals weder Pietät noch Anstand. Ich mußte mich darauf beschränken, der treulosen Insinuation, welche mein plötzliches Verstummen der Bestechung zuschrieb, in der erwähnten Erklärung bloß das[504] rein Faktische meines Verhältnisses zum Guizotschen Ministerio entgegenzustellen. Ich wiederhole hier diese Tatsachen. Vor dem 29. November 1840, wo Herr Guizot das Ministerium übernahm, hatte ich nie die Ehre gehabt, denselben zu sehen. Erst einen Monat später machte ich ihm einen Besuch, um ihm dafür zu danken, daß die Komptabilität seines Departements von ihm die Weisung erhalten hatte, mir auch unter dem neuen Ministerium meine jährliche Unterstützungspension nach wie vor in monatlichen Terminen auszuzahlen. Jener Besuch war der erste und zugleich der letzte, den ich in diesem Leben dem illustren Manne abstattete. In der Unterredung, womit er mich beehrte, sprach er mit Tiefsinn und Wärme seine Hochschätzung für Deutschland aus, und diese Anerkennung meines Vaterlandes sowie auch die schmeichelhaften Worte, welche er mir über meine eignen literarischen Erzeugnisse sagte, waren die einzige Münze, mit welcher er mich bestochen hat. Nie fiel es ihm ein, irgendeinen Dienst von mir zu verlangen. Und am allerwenigsten mochte es dem stolzen Manne, der nach Impopularität lechzte, in den Sinn kommen, eine kümmerliche Lobspende in der französischen Presse oder in der Augsburger »Allgemeinen Zeitung« von mir zu verlangen, von mir, der ihm bisher ganz fremd war, während weit gravitätischere und also zuverlässigere Leute, wie der Baron von Eckstein oder der Historiograph Capefigue, welche beide, wie oben bemerkt, ebenfalls Mitarbeiter der »Allgemeinen Zeitung« waren, mit Herrn Guizot in vieljährigem gesellschaftlichen Verkehr gestanden und gewiß ein delikates Vertrauen verdient hätten. Seit der erwähnten Unterredung habe ich Herrn Guizot nie wieder gesehen; nie sah ich seinen Sekretär oder sonst jemand, der in seinem Bureau arbeitete. Nur zufällig erfuhr ich einst, daß Herr Guizot von transrhenanischen Gesandtschaften oft und dringend angegangen worden, mich aus Paris zu entfernen. Nicht ohne Lachen konnte ich dann an die ärgerlichen Gesichter denken, welche jene Reklamanten geschnitten haben mochten, als sie entdeckten, daß der Minister, von welchem sie meine Ausweisung verlangt, mich[505] obendrein durch ein Jahrgehalt unterstützte. Wie wenig derselbe wünschte, dieses edle Verfahren divulgiert zu sehen, begriff ich ohne besondern Wink, und diskrete Freunde, denen ich nichts verhehlen kann, teilten meine Schadenfreude.
Für diese Belustigung und die Großmut, womit er mich behandelt, war ich Herrn Guizot gewiß zu großem Dank verpflichtet. Doch als ich in meinem Glauben an seine Standhaftigkeit gegen königliche Zumutungen irre ward, als ich ihn vom Willen Ludwig Philipps allzu verderblich beherrscht sah und den großen, entsetzlichen Irrtum dieses autokratischen Starrwillens, dieses unheilvollen Eigensinns begriff: da würde wahrlich nicht der psychische Zwang der Dankbarkeit mein Wort gefesselt haben, ich hätte gewiß mit ehrfurchtsvoller Betrübnis die Mißgriffe gerügt, wodurch das allzu nachgiebige Ministerium, oder vielmehr der betörte König, das Land und die Welt dem Untergang entgegenführte. Aber es knebelten meine Feder auch brutale physische Hindernisse, und diese reelle Ursache meines Schweigens, meines Nichtschreibens, kann ich erst heute öffentlich enthüllen.
Ja, im Fall ich auch das Gelüste empfunden hätte, in der »Allgemeinen Zeitung« gegen das unselige Regierungssystem Ludwig Philipps nur eine Silbe drucken zu lassen, so wäre mir solches unmöglich gewesen, aus dem ganz einfachen Grunde: weil der kluge König schon vor dem 29. November gegen einen solchen verbrecherischen Korrespondenteneinfall, gegen ein solches Attentat, seine Maßregeln genommen, indem er höchstselbst geruhte, den damaligen Zensor der »Allgemeinen Zeitung« zu Augsburg nicht bloß zum Ritter, sondern sogar zum Offizier der französischen Ehrenlegion zu ernennen. So groß auch meine Vorliebe für den seligen König war, so fand doch der Augsburger Zensor, daß ich nicht genug liebte, und er strich jedes mißliebige Wort, und sehr viele meiner Artikel über die königliche Politik blieben ganz ungedruckt. Aber kurz nach der Februarrevolution, wo mein armer Ludwig Philipp ins Exil gewandert war, erlaubte mir weder die Pietät noch der Anstand die Veröffentlichung einer solchen Tatsache,[506] selbst im Fall der Augsburger Zensor ihr sein Imprimatur verliehen hätte.
Ein anderes, ähnliches Geständnis gestattete damals nicht die Zensur des Herzens, die noch weit ängstlicher als die der »Allgemeinen Zeitung«. Nein, kurz nach dem Sturze Guizots durfte ich nicht öffentlich eingestehen, daß ich vorher auch aus Furcht schwieg. Ich mußte mir nämlich Anno 1844 gestehen, daß, wenn Herr Guizot von meiner Korrespondenz erführe und die darin enthaltene Kritik ihm einigermaßen mißfiele, der leidenschaftliche Mann wohl fähig gewesen wäre, die Gefühle der Großmut überwindend, dem unbequemen Kritiker in einer sehr summarischen Weise das Handwerk zu legen. Mit der Ausweisung des Korrespondenten aus Paris hätte auch seine Pariser Korrespondenz notwendigerweise ein Ende gehabt. In der Tat, Se. Magnifizenz hatte die Fasces der Gewalt in Händen, er konnte mir zu jeder Zeit das Consilium abeundi erteilen, und ich mußte dann auf der Stelle den Ranzen schnüren. Seine Pedelle in blauer Uniform mit zitronengelben Aufschlägen hätten mich bald meinen Pariser kritischen Studien entrissen und bis an jene Pfähle begleitet, »die wie das Zebra sind gestreift«, wo mich andere Pedelle mit noch viel fataleren Livreen und germanisch ungeschliffenern Manieren in Empfang genommen hätten, um mir die Honneurs des Vaterlandes zu machen – –
Aber, unglücklicher Poet, warst du nicht durch deine französische Naturalisation hinlänglich geschützt gegen solche Ministerwillkür?
Ach, die Beantwortung dieser Frage entreißt mir ein Geständnis, das vielleicht die Klugheit geböte zu verschweigen. Aber die Klugheit und ich, wir haben schon lange nicht mehr aus derselben Kumpe gegessen – und ich will heute rücksichtslos bekennen, daß ich mich nie in Frankreich naturalisieren ließ und meine Naturalisation, die für eine notorische Tatsache gilt, dennoch nur ein deutsches Märchen ist. Ich weiß nicht, welcher müßige oder listige Kopf dasselbe ersonnen. Mehre Landsleute wollten freilich aus authentischer Quelle diese Naturalisation[507] erschnüffelt haben; sie referierten darüber in deutschen Blättern, und ich unterstützte den irrigen Glauben durch Schweigen. Meine lieben literarischen und politischen Gegner in der Heimat, und manche sehr einflußreiche intime Feinde hier in Paris, wurden dadurch irregeleitet und glaubten, ich sei durch ein französisches Bürgerrecht gegen mancherlei Vexationen und Machinationen geschützt, womit der Fremde, der hier einer exzeptionellen Jurisdiktion unterworfen ist, so leicht heimgesucht werden kann. Durch diesen wohltätigen Irrtum entging ich mancher Böswilligkeit und auch mancher Ausbeutung von Industriellen, die in geschäftlichen Konflikten ihre Bevorrechtung benutzt hätten. Ebenso widerwärtig wie kostspielig wird auf die Länge in Paris der Zustand des Fremden, der nicht naturalisiert ist. Man wird geprellt und geärgert, und zumeist eben von naturalisierten Ausländern, die am schäbigsten darauf erpicht sind, ihre erworbenen Befugnisse zu mißbrauchen. Aus mißmütiger Fürsorge erfüllte ich einst die Formalitäten, die zu nichts verpflichten und uns doch in den Stand setzen, nötigstenfalls die Rechte der Naturalisation ohne Zögernis zu erlangen. Aber ich hegte immer eine unheimliche Scheu vor dem definitiven Akt. Durch dieses Bedenken, durch diese tiefeingewurzelte Abneigung gegen die Naturalisation, geriet ich in eine falsche Stellung, die ich als die Ursache aller meiner Nöten, Kümmernisse und Fehlgriffe während meinem dreiundzwanzigjährigen Aufenthalt in Paris betrachten muß. Das Einkommen eines guten Amtes hätte hier meinen kostspieligen Haushalt und die Bedürfnisse einer nicht sowohl launischen als vielmehr menschlich freien Lebensweise hinreichend gedeckt – aber ohne vorhergehende Naturalisation war mir der Staatsdienst verschlossen. Hohe Würden und fette Sinekuren stellten mir meine Freunde lockend genug in Aussicht, und es fehlte nicht an Beispielen von Ausländern, die in Frankreich die glänzendsten Stufen der Macht und der Ehre erstiegen – Und ich darf es sagen, ich hätte weniger als andere mit einheimischer Scheelsucht zu kämpfen gehabt, denn nie hatte ein Deutscher in so hohem Grade wie ich die Sympathie der Franzosen gewonnen,[508] sowohl in der literarischen Welt als auch in der hohen Gesellschaft, und nicht als Gönner, sondern als Kamerad pflegte der Vornehmste meinen Umgang. Der ritterliche Prinz, der dem Throne am nächsten stand und nicht bloß ein ausgezeichneter Feldherr und Staatsmann war, sondern auch das »Buch der Lieder« im Original las, hätte mich gar zu gern in französischen Diensten gesehen, und sein Einfluß wäre groß genug gewesen, um mich in solcher Laufbahn zu fördern. Ich vergesse nicht die Liebenswürdigkeit, womit einst im Garten des Schlosses einer fürstlichen Freundin der große Geschichtschreiber der französischen Revolution und des Empires, welcher damals der allgewaltige Präsident des Konseils war, meinen Arm ergriff und, mit mir spazierengehend, lange und lebhaft in mich drang, daß ich ihm sagen möchte, was mein Herz begehre, und daß er sich anheischig mache, mir alles zu verschaffen. – Im Ohr klingt mir noch jetzt der schmeichlerische Klang seiner Stimme, in der Nase prickelt mir noch der Duft des großen blühenden Magnoliabaums, dem wir vorübergingen und der mit seinen alabasterweißen vornehmen Blumen in die blauen Lüfte emporragte, so prachtvoll, so stolz, wie damals, in den Tagen seines Glückes, das Herz des deutschen Dichters!
Ja, ich habe das Wort genannt. Es war der närrische Hochmut des deutschen Dichters, der mich davon abhielt, auch nur pro forma ein Franzose zu werden. Es war eine ideale Grille, wovon ich mich nicht losmachen konnte. In bezug auf das, was wir gewöhnlich Patriotismus nennen, war ich immer ein Freigeist, doch konnte ich mich nicht eines gewissen Schauers erwehren, wenn ich etwas tun sollte, was nur halbweg als ein Lossagen vom Vaterlande erscheinen mochte. Auch im Gemüte des Aufgeklärtesten nistet immer ein kleines Alräunchen des alten Aberglaubens, das sich nicht ausbannen läßt; man spricht nicht gern davon, aber es treibt in den geheimsten Schlupfwinkeln unsrer Seele sein unkluges Wesen. Die Ehe, welche ich mit Unserer Lieben Frau Germania, der blonden Bärenhäuterin, geführt, war nie eine glückliche gewesen. Ich erinnere mich wohl noch einiger schönen Mondscheinnächte, wo sie mich[509] zärtlich preßte an ihren großen Busen mit den tugendhaften Zitzen – doch diese sentimentalen Nächte lassen sich zählen, und gegen Morgen trat immer eine verdrießlich gähnende Kühle ein und begann das Keifen ohne Ende. Auch lebten wir zuletzt getrennt von Tisch und Bett. Aber bis zu einer eigentlichen Scheidung sollte es nicht kommen. Ich habe es nie übers Herz bringen können, mich ganz loszusagen von meinem Hauskreuz. Jede Abtrünnigkeit ist mir verhaßt, und ich hätte mich von keiner deutschen Katze lossagen mögen, nicht von einem deutschen Hund, wie unausstehlich mir auch seine Flöhe und Treue. Das kleinste Ferkelchen meiner Heimat kann sich in dieser Beziehung nicht über mich beklagen. Unter den vornehmen und geistreichen Säuen von Périgord, welche die Trüffeln erfunden und sich damit mästen, verleugnete ich nicht die bescheidenen Grünzlinge, die daheim im Teutoburger Wald nur mit der Frucht der vaterländischen Eiche sich atzen aus schlichtem Holztrog, wie einst ihre frommen Vorfahren, zur Zeit, als Arminius den Varus schlug. Ich habe auch nicht eine Borste meines Deutschtums, keine einzige Schelle an meiner deutschen Kappe eingebüßt, und ich habe noch immer das Recht, daran die schwarzrotgoldene Kokarde zu heften. Ich darf noch immer zu Maßmann sagen: »Wir deutsche Esel!« Hätte ich mich in Frankreich naturalisieren lassen, würde mir Maßmann antworten können: »Nur ich bin ein deutscher Esel, du aber bist es nicht mehr« – und er schlüge dabei einen verhöhnenden Burzelbaum, der mir das Herz bräche. Nein, solcher Schmach habe ich mich nicht ausgesetzt. Die Naturalisation mag für andere Leute passen; ein versoffener Advokat aus Zweibrücken, ein Strohkopf mit einer eisernen Stirn und einer kupfernen Nase, mag immerhin, um ein Schulmeisteramt zu erschnappen, ein Vaterland aufgeben, das nichts von ihm weiß und nie etwas von ihm erfahren wird – aber dasselbe geziemt sich nicht für einen deutschen Dichter, welcher die schönsten deutschen Lieder gedichtet hat. Es wäre für mich ein entsetzlicher, wahnsinniger Gedanke, wenn ich mir sagen müßte, ich sei ein deutscher Poet und zugleich ein naturalisierter Franzose.[510] – Ich käme mir selber vor wie eine jener Mißgeburten mit zwei Köpfchen, die man in den Buden der Jahrmärkte zeigt. Es würde mich beim Dichten unerträglich genieren, wenn ich dächte, der eine Kopf finge auf einmal an, im französischen Truthahnpathos die unnatürlichsten Alexandriner zu skandieren, während der andere in den angebornen wahren Naturmetren der deutschen Sprache seine Gefühle ergösse. Und ach! unausstehlich sind mir, wie die Metrik, so die Verse der Franzosen, dieser parfümierte Quark – kaum ertrage ich ihre ganz geruchlosen besseren Dichter. – Wenn ich jene sogenannte poésie lyrique der Franzosen betrachte, erkenne ich erst ganz die Herrlichkeit der deutschen Dichtkunst, und ich könnte mir alsdann wohl etwas darauf einbilden, daß ich mich rühmen darf, in diesem Gebiete meine Lorbeern errungen zu haben. – Wir wollen auch kein Blatt davon aufgeben, und der Steinmetz, der unsre letzte Schlafstätte mit einer Inschrift zu verzieren hat, soll keine Einrede zu gewärtigen haben, wenn er dort eingräbt die Worte: »Hier ruht ein deutscher Dichter.«
Paris, 7. Mai 1843
Die Gemäldeausstellung erregt dieses Jahr ungewöhnliches Interesse, aber es ist mir unmöglich, über die gepriesenen Vorzüglichkeiten dieses Salons nur ein halbweg vernünftiges Urteil zu fällen. Bis jetzt empfand ich nur ein Mißbehagen sondergleichen, wenn ich die Gemächer des Louvre durchwandelte. Diese tollen Farben, die alle zu gleicher Zeit auf mich loskreischen, dieser bunte Wahnwitz, der mich von allen Seiten angrinst, diese Anarchie in goldnen Rahmen macht auf mich einen peinlichen, fatalen Eindruck. Ich quäle mich vergebens, dieses Chaos im Geiste zu ordnen und den Gedanken der Zeit darin zu entdecken oder auch nur den verwandtschaftlichen Charakterzug, wodurch diese Gemälde sich als Produkte unsrer Gegenwart kundgeben. Alle Werke einer und derselben Periode haben nämlich einen solchen Charakterzug, das Malerzeichen[511] des Zeitgeistes. Zum Beispiel auf der Leinwand des Watteau oder des Boucher oder des Vanloo spiegelt sich ab das graziöse gepuderte Schäferspiel, die geschminkte, tändelnde Leerheit, das süßliche Reifrockglück des herrschenden Pompadourtums: überall hellfarbig bebänderte Hirtenstäbe, nirgends ein Schwert. In entgegengesetzter Weise sind die Gemälde des David und seiner Schüler nur das farbige Echo der republikanischen Tugendperiode, die in den imperialistischen Kriegsruhm überschlägt, und wir sehen hier eine forcierte Begeisterung für das marmorne Modell, einen abstrakten frostigen Verstandesrausch, die Zeichnung korrekt, streng, schroff, die Farbe trüb, hart, unverdaulich: Spartanersuppen. Was wird sich aber unsern Nachkommen, wenn sie einst die Gemälde der heutigen Maler betrachten, als die zeitliche Signatur offenbaren? Durch welche gemeinsame Eigentümlichkeiten werden sich diese Bilder gleich beim ersten Blick als Erzeugnisse aus unsrer gegenwärtigen Periode ausweisen? Hat vielleicht der Geist der Bourgeoisie, der Industrialismus, der jetzt das ganze soziale Leben Frankreichs durchdringt, auch schon in den zeichnenden Künsten sich dergestalt geltend gemacht, daß allen heutigen Gemälden das Wappen dieser neuen Herrschaft aufgedrückt ist? Besonders die Heiligenbilder, woran die diesjährige Ausstellung so reich ist, erregen in mir eine solche Vermutung. Da hängt im langen Saal eine Geißelung, deren Hauptfigur, mit ihrer leidenden Miene, dem Direktor einer verunglückten Aktiengesellschaft ähnlich sieht, der vor seinen Aktionären steht und Rechnung ablegen soll; ja letztere sind auch auf dem Bilde zu sehen, und zwar in der Gestalt von Henkern und Pharisäern, die gegen den Ecce homo schrecklich erbost sind und an ihren Aktien sehr viel Geld verloren zu haben scheinen. Der Maler soll in der Hauptfigur seinen Oheim porträtiert haben. Die Gesichter auf den eigentlich historischen Bildern, welche heidnische und mittelalterliche Geschichten darstellen, erinnern ebenfalls an Kramladen, Börsenspekulation, Merkantilismus, Spießbürgerlichkeit. Da ist ein Wilhelm der Eroberer zu sehen, dem man nur eine Bärenmütze aufzusetzen brauchte,[512] und er verwandelte sich in einen Nationalgardisten, der mit musterhaftem Eifer die Wache bezieht, seine Wechsel pünktlich bezahlt, seine Gattin ehrt und gewiß das Ehrenlegionskreuz verdient. Aber gar die Porträts! Die meisten haben einen so pekuniären, eigennützigen, verdrossenen Ausdruck, den ich mir nur dadurch erkläre, daß das lebendige Original in den Stunden der Sitzung immer an das Geld dachte, welches ihm das Porträt kosten werde, während der Maler beständig die Zeit bedauerte, die er mit dem jämmerlichen Lohndienst vergeuden mußte.
Unter den Heiligenbildern, welche von der Mühe zeugen, die sich die Franzosen geben, recht religiös zu tun, bemerkte ich eine Samaritanerin am Brunnen. Obgleich der Heiland dem feindseligen Stamme der Juden angehört, übt sie dennoch an ihm Barmherzigkeit. Sie bietet dem Durstigen ihren Wasserkrug, und während er trinkt, betrachtet sie ihn mit einem sonderbaren Seitenblick, der ungemein pfiffig und mich an die gescheite Antwort erinnerte, welche einst eine kluge Tochter Schwabens dem Herrn Superintendenten gab, als dieser die Schuljugend im Religionsunterricht examinierte. Er frug nämlich, woran das Weib aus Samaria erkannt hatte, daß Jesus ein Jude war. »An der Beschneidung« – antwortete keck die kleine Schwäbin.
Das merkwürdigste Heiligenbild des Salons ist von Horaz Vernet, dem einzigen großen Meister, welcher dies Jahr ein Gemälde zur Ausstellung geliefert. Das Sujet ist sehr verfänglich, und wir müssen, wo nicht die Wahl, doch gewiß die Auffassung desselben bestimmt tadeln. Dieses Sujet, der Bibel entlehnt, ist die Geschichte Judas und seiner Schwiegertochter Thamar. Nach unsern modernen Begriffen und Gefühlen erscheinen uns beide Personen in einem sehr unsittlichen Lichte. Jedoch nach der Ansicht des Altertums, wo die höchste Aufgabe des Weibes darin bestand, daß sie Kinder gebar, daß sie den Stamm ihres Mannes fortpflanze – (zumal nach der althebräischen Denkweise, wo der nächste Anverwandte die Witwe eines Verstorbenen heiraten mußte, wenn derselbe[513] kinderlos starb, nicht bloß, damit durch solche postume Nachkommenschaft die Familiengüter, sondern damit auch das Andenken der Toten, ihr Fortleben in den Spätergebornen, gleichsam ihre irdische Unsterblichkeit, gesichert werde) –, nach solcher antiken Anschauungsweise war die Handlung der Thamar eine höchst sittliche, fromme, gottgefällige Tat, naiv schön und fast so heroisch wie die Tat der Judith, die unsern heutigen Patriotismusgefühlen schon etwas nähersteht. Was ihren Schwiegervater Juda betrifft, so vindizieren wir für ihn eben keinen Lorbeer, aber wir behaupten, daß er in keinem Falle eine Sünde beging. Denn erstens war die Beiwohnung eines Weibes, das er an der Landstraße fand, für den Hebräer der Vorzeit ebensowenig eine unerlaubte Handlung wie der Genuß einer Frucht, die er von einem Baume an der Straße abgebrochen hätte, um seinen Durst zu löschen; und es war gewiß ein heißer Tag im heißen Mesopotamien, und der arme Erzvater Juda lechzte nach einer Erfrischung. Und dann trägt seine Handlung ganz den Stempel des göttlichen Willens, sie war eine providentielle: ohne jenen großen Durst hätte Thamar kein Kind bekommen; dieses Kind aber wurde der Ahnherr Davids, welcher als König über Juda und Israel herrschte, und es ward also zugleich auch der Stammvater jenes noch größern Königs mit der Dornenkrone, den jetzt die ganze Welt verehrt, Jesus von Nazareth.
Was die Auffassung dieses Sujets betrifft, so will ich, ohne mich in einen allzu homiletischen Tadel einzulassen, dieselbe mit wenigen Worten beschreiben. Thamar, die schöne Person, sitzt an der Landstraße und offenbart bei dieser Gelegenheit ihre üppigsten Reize. Fuß, Bein, Knie usw. sind von einer Vollendung, die an Poesie grenzt. Der Busen quillt hervor aus dem knappen Gewand, blühend, duftig, verlockend, wie die verbotene Frucht im Garten Eden. Mit der rechten Hand, die ebenfalls entzückend trefflich gemalt ist, hält sich die Schöne einen Zipfel ihres weißen Gewandes vors Gesicht, so daß nur die Stirn und die Augen sichtbar. Diese großen schwarzen Augen sind verführerisch wie die Stimme der glatten Satansmuhme.[514] Das Weib ist zu gleicher Zeit Apfel und Schlange, und wir dürfen den armen Juda nicht deswegen verdammen, daß er ihr die verlangten Pfänder: Stab, Ring und Gürtel, sehr hastig hinreicht. Sie hat, um dieselben in Empfang zu nehmen, die linke Hand ausgestreckt, während sie, wie gesagt, mit der rechten das Gesicht verhüllt. Diese doppelte Bewegung der Hände ist von einer Wahrheit, wie sie die Kunst nur in ihren glücklichsten Momenten hervorbringt. Es ist hier eine Naturtreue, die zauberhaft wirkt. Dem Juda gab der Maler eine begehrliche Physiognomie, die eher an einen Faun als an einen Patriarchen erinnern dürfte, und seine ganze Bekleidung besteht in jener weißen wollenen Decke, die seit der Eroberung Algiers auf so vielen Bildern eine große Rolle spielt. Seit die Franzosen mit dem Orient in unmittelbarste Bekanntschaft getreten, geben ihre Maler auch den Helden der Bibel ein wahrhaftes morgenländisches Kostüm. Das frühere traditionelle Idealkostüm ist in der Tat etwas abgenutzt durch dreihundertjährigen Gebrauch, und am allerwenigsten wäre es passend, nach dem Beispiel der Venezianer, die alten Hebräer in einer modernen Tagestracht zu vermummen. Auch Landschaft und Tiere des Morgenlandes behandeln seitdem die Franzosen mit größerer Treue in ihren Historienbildern, und dem Kamele, welches sich auf dem Gemälde des Horaz Vernet befindet, sieht man es wohl an, daß der Maler es unmittelbar nach der Natur kopiert und nicht, wie ein deutscher Maler, aus der Tiefe seines Gemüts geschöpft hat. Ein deutscher Maler hätte vielleicht hier in der Kopfbildung des Kamels, das Sinnige, das Vorweltliche, ja das Alttestamentalische hervortreten lassen. Aber der Franzose hat nur eben ein Kamel gemalt, wie Gott es erschaffen hat, ein oberflächliches Kamel, woran kein einzig symbolisches Haar ist und welches, sein Haupt hervorstreckend über die Schulter des Juda, mit der größten Gleichgültigkeit dem verfänglichen Handel zuschaut. Diese Gleichgültigkeit, dieser Indifferentismus, ist ein Grundzug des in Rede stehenden Gemäldes, und auch in dieser Beziehung trägt dasselbe das Gepräge unsrer Periode. Der Maler tauchte seinen Pinsel weder[515] in die ätzende Böswilligkeit Voltairescher Satire noch in die liederlichen Schmutztöpfe von Parny und Konsorten; ihn leitet weder Polemik noch Immoralität; die Bibel gilt ihm soviel wie jedes andere Buch, er betrachtet dasselbe mit echter Toleranz, er hat gar kein Vorurteil mehr gegen dieses Buch, er findet es sogar hübsch und amüsant, und er verschmäht es nicht, demselben seine Sujets zu entlehnen. In dieser Weise malte er Judith, Rebekka am Brunnen, Abraham und Hagar, und so malte er auch Juda und Thamar, ein vortreffliches Gemälde, das wegen seiner lokalartigen Auffassung ein sehr passendes Altarbild wäre für die Pariser neue Kirche von Notre-Dame de Lorette, im Lorettenquartier.
Horaz Vernet gilt bei der Menge für den größten Maler Frankreichs, und ich möchte dieser Ansicht nicht widersprechen. Jedenfalls ist er der nationalste der französischen Maler, und er überragt sie alle durch das fruchtbare Können, durch die dämonische Überschwenglichkeit, durch die ewig blühende Selbstverjüngung seiner Schöpferkraft. Das Malen ist ihm angeboren wie dem Seidenwurm das Spinnen, wie dem Vogel das Singen, und seine Werke erscheinen wie Ergebnisse der Notwendigkeit. Kein Stil, aber Natur. Fruchtbarkeit, die ans Lächerliche grenzt. Eine Karikatur hat den Horaz Vernet dargestellt, wie er auf einem hohen Rosse, mit einem Pinsel in der Hand, vor einer ungeheuer lang ausgespannten Leinwand hinreitet und im Galopp malt; sobald er ans Ende der Leinwand anlangt, ist auch das Gemälde fertig. Welche Menge von kolossalen Schlachtstücken hat er in der jüngsten Zeit für Versailles geliefert! In der Tat, mit Ausnahme von Österreich und Preußen, besitzt wohl kein deutscher Fürst so viele Soldaten, wie deren Horaz Vernet schon gemalt hat! Wenn die fromme Sage wahr ist, daß am Tage der Auferstehung jeden Menschen auch seine Werke nach der Stätte des Gerichtes begleiten, so wird gewiß Horaz Vernet am Jüngsten Tage in Begleitung von einigen hunderttausend Mann Fußvolk und Kavallerie im Tale Josaphat anlangen. Wie furchtbar auch die Richter sein mögen, die dorten sitzen werden, um die Lebenden und Toten zu richten,[516] so glaube ich doch nicht, daß sie den Horaz Vernet ob der Ungebührlichkeit, womit er Juda und Thamar behandelte, zum ewigen Feuer verdammen werden. Ich glaube es nicht. Denn erstens, das Gemälde ist so vortrefflich gemalt, daß man schon deshalb den Beklagten freisprechen müßte. Zweitens ist der Horaz Vernet ein Genie, und dem Genie sind Dinge erlaubt, die den gewöhnlichen Sündern verboten sind. Und endlich, wer an der Spitze von einigen hunderttausend Soldaten anmarschiert kömmt, dem wird ebenfalls viel verziehen, selbst wenn er zufälligerweise kein Genie wäre.
Paris, 1. Juni 1843
Der Kampf gegen die Universität, der von klerikaler Seite noch immer fortgesetzt wird, sowie auch die entschiedene Gegenwehr, wobei sich besonders Michelet und Quinet hervortaten, beschäftigt noch immer das große Publikum. Vielleicht wird dieses Interesse bald wieder verdrängt von irgendeiner neuen Tagesfrage; aber der Zwist selbst wird so bald nicht geschlichtet sein, denn er wurzelt in einem Zwiespalt, der Jahrhunderte alt ist und vielleicht als der letzte Grund aller Umwälzungen im französischen Staatsleben betrachtet werden dürfte. Es handelt sich hier weder um Jesuiten noch um Freiheit des Unterrichts; beides sind nur Losungsworte, sie sind keineswegs der Ausdruck dessen, was die kriegführenden Parteien denken und wollen. Etwas ganz anderes, als man zu gestehen wagt, wo nicht gar das Gegenteil der innern Überzeugung, wird auf beiden Seiten ausgesprochen. Man schlägt manchmal auf den Sack und meint den Esel, heißt das altdeutsche Sprichwort. Wir hegen eine zu gute Meinung von dem Verstande der Universitätsprofessoren, als daß wir annehmen dürften, sie polemisierten im vollsten Ernste gegen den toten Ritter Ignaz von Loyola und seine Grabesgenossen. Wir schenken hingegen dem Liberalismus der Gegner zuwenig Glauben, als daß wir ihre radikalen Grundsätze in betreff der[517] Lehrfreiheit, ihre eifrige Anpreisung der Freiheit des Unterrichts, für bare Münze nehmen möchten. Das öffentliche Feldgeschrei ist hier im Widerspruch mit dem geheimen Gedanken. Gelehrte List und fromme Lüge. Die wahre Bedeutung dieser Zwiste ist nichts anderes als die uralte Opposition zwischen Philosophie und Religion, zwischen Vernunfterkenntnis und Offenbarungsglauben, eine Opposition, die, von den Männern der Wissenschaft geleitet, sowohl im Adel wie in der Bürgerschaft beständig gärte und in den neunziger Jahren den Sieg erfocht. Ja bei einigen überlebenden Akteurs der französischen Staatstragödie, bei Politikern von tiefster Erinnerung, erlauschte ich nicht selten das Bekenntnis, daß die ganze französische Revolution zuletzt doch nur durch den Haß gegen die Kirche entstanden sei und daß man den Thron zertrümmerte, weil er den Altar schützte. Die konstitutionelle Monarchie hätte sich, ihrer Meinung nach, schon unter Ludwig XVI. festsetzen können; aber man fürchtete, daß der strenggläubige König der neuen Verfassung nicht treu bleiben könne aus frommen Gewissensskrupeln, man fürchtete, daß ihm seine religiösen Überzeugungen höher gelten würden als seine irdischen Interessen – und Ludwig XVI. ward das Opfer dieser Furcht, dieses Argwohns, dieses Verdachtes! Il était suspect; das war in jener Schreckenszeit ein Verbrechen, worauf die Todesstrafe stand.
Obgleich Napoleon die Kirche in Frankreich wiederherstellte und begünstigte, so galt doch sein eiserner Willenstolz für eine hinlängliche Bürgschaft, daß die Geistlichkeit unter seiner Regierung sich nicht allzusehr überheben oder gar zur Herrschaft emporschwingen würde: er hielt sie ebensosehr im Zaum wie uns andre, und seine Grenadiere, welche mit blankem Gewehr neben der Prozession einhermarschierten, schienen weniger die Ehrengarde als vielmehr die Gefangenschaftseskorte der Religion zu sein. Der gewaltige Imperator wollte allein regieren, wollte auch mit dem Himmel seine Gewalt nicht teilen, das wüßte jeder. Im Beginn der Restauration wurden schon die Gesichter länger, und die Männer der Wissenschaft fühlten[518] wieder ein geheimes Grauen. Aber Ludwig XVIII. war ein Mann ohne religiöses Bewußtsein, ein Witzling, der sehr dick war, schlechte lateinische Verse machte und gute Leberpasteten aß; das beruhigte das Publikum. Man wußte, daß er Krone und Haupt nicht gefährden werde, um den Himmel zu gewinnen, und je weniger man ihn als Mensch achtete, desto größeres Vertrauen flößte er ein als König von Frankreich: seine Frivolität war eine Garantie, diese schützte ihn selbst vor dem Verdacht, den schwarzen Erbfeind zu begünstigen, und wäre er am Leben geblieben, so hätten die Franzosen keine neue Revolution gemacht. Diese machten sie unter der Regierung Karls X., eines Königs, der persönlich die höchste Achtung verdiente und von dem man im voraus überzeugt war, daß er, dem Heile seiner Seele alle Erdengüter opfernd, mit ritterlichem Mute bis zum letzten Atemzuge für die Kirche kämpfen werde, gegen Satan und die revolutionären Heiden. Man stürzte ihn vom Thron, eben weil man ihn für einen edlen, gewissenhaften, ehrlichen Mann hielt. Ja, er war es, ebenso wie Ludwig XVI., aber 1830 wäre der bloße Verdacht ebenfalls hinreichend gewesen, um Karl X. dem Untergang zu widmen. Dieser Verdacht ist auch der wahre Grund, weshalb sein Enkel in Frankreich keine Zukunft hat: man weiß, daß ihn die Geistlichkeit erzogen, und das Volk nannte ihn immer »le petit jésuite«.
Es war ein wahres Glück für die Juliusdynastie, daß sie durch Zufall und Zeitumstände diesem tödlichen Verdachte entgangen ist. Der Vater Ludwig Philipps war wenigstens kein Frömmler; das gestehen selbst seine ärgsten Verleumder. Er gestattete dem Sohne die freie Ausbildung seines Geistes, und dieser hat mit der Ammenmilch die Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts eingesogen. Auch lautet der Refrain aller legitimistischen Klagen, daß der jetzige König nicht gottesfürchtig genug sei, daß er immer ein liberaler Freigeist gewesen und daß er sogar seine Kinder in Unglauben heranwachsen lasse. In der Tat, seine Söhne sind ganz die Söhne des neuen Frankreichs, in dessen öffentlichen Kollegien sie ihren[519] Unterricht genossen. Der verstorbene Herzog von Orleans war der Stolz der jungen Generation, die mit ihm in die Schule gegangen und wahrhaftig viel gelernt hatte. Der Umstand, daß die Mutter des Kronprinzen von Frankreich eine Protestantin, ist von unabsehbarer Wichtigkeit. Der Verdacht der Bigotterie, der der ältern Dynastie so fatal geworden, wird die Orleans nicht treffen.
Der Kampf gegen die Kirche wird nichtsdestoweniger seine große politische Bedeutung behalten. Wie gewaltig auch die Macht des Klerus in der letzten Zeit emporblühte, wie bedeutend auch seine Stellung in der Gesellschaft, wie sehr er auch gedeiht, so sind doch die Gegner immer gerüstet, ihm die Stirne zu bieten, und wenn bei nächtlichem Überfall der Liberalismus sein »Bursche heraus!« ruft, kommen gleich an allen Fenstern die Lichter zum Vorschein, und jung und alt rennt heran mit allen möglichen Schlägern, wo nicht gar mit den Piken des Jakobinismus. Der Klerus will, wie er es immer wollte, in Frankreich zur Oberherrschaft gelangen, und wir sind unparteiisch genug, um seine geheimen und öffentlichen Bestrebungen nicht den kleinen Trieben des Ehrgeizes, sondern den uneigennützigsten Besorgnissen für das Seelenheil des Volkes zuzuschreiben. Die Erziehung der Jugend ist ein Mittel, wodurch der heilige Zweck am klügsten befördert wird, auch ist auf diesem Wege schon das Unglaublichste geschehen, und der Klerus mußte notwendigerweise mit den Befugnissen der Universität in Kollision geraten. Um die Oberaufsicht des vom Staat organisierten liberalen Unterrichts zu vernichten, suchte man die revolutionären Antipathien gegen Privilegien jeder Art ins Interesse zu ziehen, und die Männer, welche, gelangten sie zur Herrschaft, nicht einmal die Freiheit des Denkens erlauben würden, schwärmen jetzt mit begeisterten Phrasen für Lehrfreiheit und klagen über Geistesmonopol. Der Kampf mit der Universität war also kein zufälliges Scharmützel und mußte früh oder spät ausbrechen; der Widerstand war ebenfalls ein Akt der Notwendigkeit, und obgleich wider Willen und Lust, mußte dennoch die Universität den Fehdehandschuh[520] aufnehmen. Aber selbst den Gemäßigtsten stieg bald das kochende Blut der Leidenschaft zu Häupten, und es war Michelet, der weiche, mondscheinsanfte Michelet, welcher plötzlich wild wurde und im öffentlichen Auditorium des Collège de France die Worte ausrief: »Um euch fortzujagen, haben wir eine Dynastie gestürzt, und ist es nötig, so werden wir noch sechs Dynastien umstürzen, um euch fortzujagen!« – Daß eben Menschen wie Michelet und sein wahlverwandter Freund Edgar Quinet als die heftigsten Kämpen aufgetreten gegen die Klerisei, ist eine merkwürdige Erscheinung, die ich mir nie träumen ließ, als ich zuerst die Schriften dieser Männer las, Schriften, die auf jeder Seite Zeugnis geben von tiefster Sympathie für das Christentum. Ich erinnere mich einer rührenden Stelle der »Französischen Geschichte« von Michelet, wo der Verfasser von der Liebesangst spricht, die ihn ergreife, wenn er den Verfall der Kirche zu besprechen habe: es sei ihm dann zumute wie damals, als er seine alte Mutter pflegte, die auf ihrem Krankenbette sich durchgelegen hatte, so daß er nur mit aller ersinnlichen Schonung ihren wunden Leib zu berühren wagte. Es zeugt gewiß nicht von jener Klugheit, die man sonst als Jesuitismus bezeichnet hat, daß man Leute wie Michelet und Quinet zum zornigsten Widerstand aufstachelte. Der Ernst möchte uns schier verlassen, indem wir diesen Mißgriff hervorheben, zumal in bezug auf Michelet. Dieser Michelet ist ein geborner Spiritualist, niemand hegt einen tiefern Abscheu vor der Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts, vor dem Materialismus, vor der Frivolität, vor jenen Voltairianern, deren Name noch immer Legion ist und mit denen er sich jetzt dennoch verbündete. Er hat sogar zur Logik seine Zuflucht nehmen müssen! Hartes Schicksal für einen Mann, der sich nur in den Fabelwäldern der Romantik heimisch fühlt, der sich am liebsten auf mystisch blauen Gefühlswogen schaukelt und sich ungern mit Gedanken abgibt, die nicht symbolisch vermummt! Über seine Sucht der Symbolik, über sein beständiges Hinweisen auf das Symbolische habe ich im Quartier latin zuweilen sehr anmutig scherzen hören, und Michelet heißt dort[521] Monsieur Symbole. Die Vorherrschaft der Phantasie und des Gemütes übt aber einen gewaltigen Reiz auf die studierende Jugend, und ich habe mehrmals vergebens versucht, beim Monsieur Symbole im Collège de France zu hospitieren; ich fand den Hörsaal immer überfüllt von Studenten, die mit Begeisterung sich um den Gefeierten drängten. Seine Wahrheitsliebe und strenge Redlichkeit ist vielleicht ebenfalls der Grund, warum man ihn so ehrt und liebt. Als Schriftsteller behauptet Michelet den ersten Rang. Seine Sprache ist die holdseligste, die man sich denken kann, und alle Edelsteine der Poesie glänzen in seiner Darstellung. Soll ich einen Tadel aussprechen, so möchte ich zunächst den Mangel an Dialektik und Ordnung bedauern: wir begegnen hier einer bis zur Fratze gesteigerten Abenteuerlichkeit, einem berauschten Übermaß, wo das Erhabene überschlägt ins Skurrile und das Sinnige ins Läppische. Ist er ein großer Historiker? Verdient er neben Thiers, Mignet, Guizot und Thierry, diesen ewigen Sternen, genannt zu werden? Ja, er verdient es, obgleich er die Geschichte in einer ganz andern Weise schreibt. Soll der Historiker, nachdem er geforscht und gedacht, uns die Vorfahren und ihr Treiben, die Tat der Zeit zur Anschauung bringen; soll er durch die Zaubergewalt des Wortes die tote Vergangenheit aus dem Grabe beschwören, daß sie lebendig vor unsre Seele tritt – ist dieses die Aufgabe, so können wir versichern, daß Michelet sie vollständig löst. Mein großer Lehrer, der selige Hegel, sagte mir einst: »Wenn man die Träume aufgeschrieben hätte, welche die Menschen während einer bestimmten Periode geträumt haben, so würde einem aus der Lektüre dieser gesammelten Träume ein ganz richtiges Bild vom Geiste jener Periode aufsteigen.« Michelets »Französische Geschichte« ist eine solche Kollektion von Träumen, ein solches Traumbuch: das ganze träumende Mittelalter schaut daraus hervor mit seinen tiefen leidenden Augen, mit dem gespenstigen Lächeln, und wir erschrecken fast ob der grellen Wahrheit der Farbe und Gestalt. In der Tat, für die Schilderung jener somnambulen Zeit paßte eben ein somnambuler Geschichtschreiber wie Michelet.[522]
In derselben Weise wie gegen Michelet hat gegen Quinet sowohl die klerikale Partei als auch die Regierung ein höchst unkluges Verfahren eingeschlagen. Daß erstere, die Männer der Liebe und des Friedens, sich in ihrem frommen Eifer weder klug noch sanftmütig zeigen würden, setzt mich nicht in Verwunderung. Aber eine Regierung, an deren Spitze ein Mann der Wissenschaft, hätte sich doch milder und vernünftiger benehmen können. Ist der Geist Guizots ermüdet von den Tageskämpfen? Oder hätten wir uns in ihm geirrt, als wir ihn für den Kämpen hielten, der die Eroberungen des menschlichen Geistes gegen Lug und Klerisei am standhaftesten verteidigen würde? Als er, nach dem Sturz von Thiers, ans Ruder kam, schwärmten für ihn alle Schulmeister Germanias, und wir machten Chorus mit dem aufgeklärten Gelehrtenstand. Diese Hosiannatage sind vorüber, und es ergreift uns eine Verzagnis, ein Zweifel, ein Mißmut, der nicht auszusprechen weiß, was er nur dunkel empfindet und ahndet, und der sich endlich in ein grämliches Stillschweigen versenkt. Da wir wirklich nicht recht wissen, was wir sagen sollen, da wir an dem alten Meister irre geworden, so dürfte es wohl am ratsamsten sein, von andern Dingen zu schwatzen als von der Tagespolitik im gelangweilten, schläfrigen und gähnenden Frankreich. – Nur über das Verfahren gegen Edgar Quinet wollen wir noch unsre unmaßgebliche Rüge aussprechen. Wie den Michelet hätte man auch den Edgar Quinet nicht so schnöde reizen dürfen daß auch dieser jetzt, ganz seinem innersten Naturell zuwider getrieben ward, das Christkind mitsamt dem Bade auszuschütten und in die Reihen jener Kohorten zu treten, welche die äußerste Linke der revolutionären Armada bilden. Spiritualisten sind alles fähig, wenn man sie rasend macht, und sie können alsdann sogar in den nüchtern vernünftigsten Rationalismus überschnappen. Wer weiß, ob nicht Michelet und Quinet am Ende die krassesten Jakobiner werden, die tollsten Vernunftanbeter, fanatische Nachfrevler von Robespierre und Marat.
Michelet und Quinet sind nicht bloß gute Kameraden, getreue[523] Waffenbrüder, sondern auch wahlverwandte Geistesgenossen. Dieselben Sympathien, dieselben Antipathien. Nur ist das Gemüt des einen weicher, ich möchte sagen indischer; der andere hat hingegen in seinem Wesen etwas Derbes, etwas Gotisches. Michelet mahnt mich an die großblumig starkgewürzten Riesengedichte des »Mahabharata«; Quinet erinnert vielmehr an die ebenso ungeheuerlichen, aber schrofferen und felsenhafteren Lieder der »Edda«. Quinet ist eine nordische Natur, man kann sagen eine deutsche, sie hat ganz den deutschen Charakter, im guten wie im üblen Sinne; Deutschlands Odem weht in allen seinen Schriften. Wenn ich den »Ahasver« oder andre Quinetsche Poesien lese, wird mir ganz heimatlich zumute, ich glaube die vaterländischen Nachtigallen zu vernehmen, ich rieche den Duft der Gelbveiglein, wohlbekannte Glockentöne summen mir ums Haupt, auch die wohlbekannten Schellenkappen höre ich klingeln: deutschen Tiefsinn, deutschen Denkerschmerz, deutsche Gemütlichkeit, deutsche Maikäfer, mitunter sogar ein bißchen deutsche Langeweile finde ich in den Schriften unseres Edgar Quinet. Ja, er ist der unsrige, er ist ein Deutscher, eine gute deutsche Haut, obgleich er sich in jüngster Zeit als ein wütender Germanenfresser gebärdete. Die rauhe, etwas täppische Weise, womit er in der »Revue des deux mondes« gegen uns loszog, war nichts weniger als französisch, und eben an dem tüchtigen Faustschlag und der echten Grobheit erkannten wir den Landsmann. Edgar ist ganz ein Deutscher, nicht bloß dem Geiste, sondern auch der äußern Erscheinung nach, und wer ihm auf den Straßen von Paris begegnet, hält ihn gewiß für irgendeinen Halleschen Theologen, der eben durchs Examen gefallen und, um sich zu erholen, nach Frankreich gedämmert. Eine kräftige, vierschrötige, ungekämmte Gestalt. Ein liebes, ehrliches, wehmütiges Gesicht. Grauer, schlottriger Oberrock, den Jung-Stilling genäht zu haben scheint. Stiefel, die vielleicht einst Jakob Böhm besohlte.
Quinet hat lange Zeit jenseits des Rheines gelebt, namentlich in Heidelberg, wo er studierte und sich täglich in Creuzers[524] »Symbolik« berauschte. Er durchwanderte ganz Deutschland zu Fuß, besah alle unsere gotischen Ruinen und schmollierte dort mit den ausgezeichnetsten Gespenstern. Im Teutoburger Walde, wo Hermann den Varus schlug, hat er westfälischen Schinken mit Pumpernickel gegessen; auf dem Sonnenstein gab er seine Karte ab. Ob er auch zu Mölln Eulenspiegels Grab besuchte, kann ich nicht behaupten. Was ich aber ganz bestimmt weiß, das ist: es gibt jetzt in der ganzen Welt keine drei Dichter, die soviel Phantasie, Ideenreichtum und Genialität besitzen wie Edgar Quinet.
Paris, 21. Juni 1843
Alle Jahre besuche ich regelmäßig die feierliche Sitzung in der Rotunde des Palais Mazarin, wo man sich stundenlang vorher einfinden muß, um Platz zu finden, unter der Elite der Geistesaristokratie, wozu glücklicherweise die schönsten Damen gehören. Nach langem Warten kommen endlich durch eine Seitentür die Herren Akademiker, die Mehrzahl aus Leuten bestehend, die sehr alt oder wenigstens nicht sehr gesund sind; Schönheit darf hier nicht gesucht werden. Sie setzen sich auf ihre langen, harten Holzbänke; man spricht zwar von den Fauteuils der Akademie, aber diese existieren nicht in der Wirklichkeit und sind nur eine Fiktion. Die Sitzung beginnt mit einer langen, langweiligen Rede über die Jahresarbeiten und die eingegangenen Preisschriften, die der temporäre Präsident zu halten pflegt. Hierauf erhebt sich der Sekretär, der perpetuelle, dessen Amt ein ewiges ist, wie das Königtum. Die Sekretäre der Akademie und Ludwig Philipp sind Personen, die nicht durch Minister- oder Kammerlaune abgesetzt werden können. Leider ist Ludwig Philipp schon hochbejahrt, und wir wissen noch nicht, ob sein Nachfolger uns mit gleichem Talent die schöne Friedensruhe erhalten wird. Aber Mignet ist noch jung, oder, was noch besser, er ist der Typus der Jugendlichkeit selbst, er bleibt verschont von der Hand der[525] Zeit, die uns andern die Haare weiß färbt, wo nicht gar ausrauft und die Stirne so häßlich fältelt: der schöne Mignet trägt noch seine goldlockichte Frisur wie vor zwölf Jahren, und sein Antlitz ist noch immer blühend wie das der Olympier. Sobald der Perpetuelle auf die Rednerbühne getreten, nimmt er seine Lorgnette und beäugelt das Publikum.
Er zählt die Häupter seiner Lieben,
Und sieh, es fehlt kein teures Haupt.
Hierauf betrachtet er auch die um ihn her sitzenden Kollegen, und wenn ich boshaft wäre, würde ich seinen Blick ganz eigen kommentieren. Er kommt mir in solchen Momenten immer vor wie ein Hirt, der seine Herde mustert. Sie gehören ihm ja alle, ihm, dem Perpetuellen, der sie alle überleben und sie früh oder spät in seinen »Précis historiques« sezieren und einbalsamieren wird. Er scheint eines jeden Gesundheitszustand zu prüfen, um sich zu der künftigen Rede vorbereiten zu können. Der alte Ballanche sieht sehr krank aus, und Mignet schüttelt den Kopf. Da jener arme Mann gar kein Leben gelebt und auf dieser Erde gar nichts anderes getan hat, als daß er zu den Füßen von Madame Récamier saß und Bücher schrieb, die niemand liest und jeder lobt, so wird Mignet wirklich seine Not haben, ihm in seinem »Précis historique« eine menschliche Seite abzugewinnen und ihn genießbar zu machen.
In der heurigen Sitzung war der verstorbene Daunou der Gegenstand, den Mignet behandelte. Zu meiner Schande gestehe ich, daß letzterer mir unbegreiflich wenig bekannt war, daß ich nur mit Mühe einige seiner Lebensmomente in meinem Gedächtnisse wiederfand. Auch bei anderen, besonders bei der jüngeren Generation, begegnete ich einer großen Unwissenheit in bezug auf Daunou. Und dennoch hatte dieser Mann während einem halben Jahrhundert an dem großen Rad gedreht, und dennoch hatte er unter der Republik und dem Kaisertume die wichtigsten Ämter bekleidet, und dennoch war er bis an sein Lebensende ein tadelloser Verfechter der Menschheitsrechte, ein unbeugsamer Kämpe gegen Geistesknechtschaft,[526] einer jener hohen Organisatoren der Freiheit, die gut sprachen, aber noch besser handelten und das schöne Wort in die heilsame Tat umschufen. Warum aber ist er trotz aller seiner Verdienste, trotz seiner rastlosen politischen und literarischen Tätigkeit dennoch nicht berühmt geworden? Warum glüht in unsrer Erinnerung sein Name nicht so farbig wie die Namen so mancher seiner Kollegen, die eine minder bedeutende Rolle gespielt? Was fehlte ihm, um zur Berühmtheit zu gelangen? Ich will es mit einem Worte sagen: die Leidenschaft. Nur durch irgendeine Manifestation der Leidenschaft werden die Menschen auf dieser Erde berühmt. Hier genügt eine einzige Handlung, ein einziges Wort, aber sie müssen das leidenschaftliche Gepräge tragen. Ja, sogar die zufällige Begegnung mit großen Ereignissen der Leidenschaft gewährt unsterblichen Nachruhm. Der selige Daunou war aber ein stiller Mönch, der den klösterlichen Frieden im Gemüte trug, während alle Stürme der Revolution um ihn her raseten, der sein Tagwerk vollbrachte ruhig und furchtlos, unter Robespierre wie unter Napoleon, und der ebenso bescheiden starb, wie er bescheiden lebte. Ich will nicht sagen, daß seine Seele nicht glühte, aber es war eine Glut ohne Flamme, ohne Geprassel, ohne Spektakel.
Trotz dem scheinlosen Leben des Mannes wußte Mignet doch Interesse für diesen stillen Helden zu erregen, und da dieser das höchste Lob verdiente, konnte es ihm auch in reichem Maße gezollt werden. Aber wäre auch Daunou keineswegs ein so rühmenswerter Mensch gewesen, hätte er gar zu jenen charakterlosen Fröschen gehört, deren so mancher im Sumpf (marais) des Konventes saß und schweigsam fortlebte, während die Bessern sich um den Kopf sprachen, ja, er hätte sogar ein Lump sein können, so würde ihn dennoch der Weihrauchkessel des offiziellen Lobes sattsam eingequalmt haben. Obgleich Mignet seine Reden »Précis historiques« nennt, so sind sie doch noch immer die alten éloges, und es sind noch dieselben Komplimente aus der Zeit Ludwigs XIV., nur daß sie jetzt nicht mehr in gepuderten Allongeperücken stecken,[527] sondern sehr modern frisiert sind. Und der jetzige Secrétaire perpétuel der Akademie ist einer der größten Friseure unsrer Zeit und besitzt den rechten Schick für dieses edle Gewerbe. Selbst wenn an einem Menschen kein einzigs gutes Haar ist, weiß er ihm doch einige Löckchen des Lobes anzukräuseln und den Kahlkopf unter dem Toupet der Phrase zu verbergen. Wie glücklich sind doch diese französischen Akademiker! Da sitzen sie im süßesten Seelenfrieden auf ihren sichern Bänken, und sie können ruhig sterben, denn sie wissen, wie bedenklich auch ihre Handlungen gewesen, so wird sie doch der gute Mignet nach ihrem Tode rühmen und preisen. Unter den Palmen seines Wortes, die ewig grün wie die seiner Uniform, eingelullt von dem Geplätscher der oratorischen Antithesen, lagern sie hier in der Akademie wie in einer kühlen Oase. Die Karawane der Menschheit aber schreitet ihnen zuweilen vorüber, ohne daß sie es merkten oder etwas anders vernahmen als das Geklingel der Kamele.[528]
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