I. Entwickelung der ursprünglichen

Bestimmung der beiden Fähigkeiten der

menschlichen Seele,zu erkennen

und zu empfinden, und die allgemeinen Gesetze,

denen sie folgen

Erkennen und Empfinden scheinet für uns vermischte, zusammengesetzte Wesen in der Entfernung zweierlei; forschen wir aber näher, so läßt sich in unserm Zustande die Natur des einen ohne die Natur des andern nicht völlig begreifen. Sie müssen also vieles gemein haben oder am Ende gar einerlei sein.

1. Kein Erkennen ist ohne Empfindung, d.i. ohne Gefühl des Guten und Bösen, der Bejahung und Verneinung, des Vergnügens und Schmerzes: sonst könnte die Neugierde, erkennen, sehen zu wollen, weder dasein noch reizen. Die Seele muß fühlen, daß, indem sie erkennet, sie Wahrheit sehe, mithin sich genieße, ihre Kräfte des Erkennens wohl angewandt, sich also fortstrebend, sich vollkommner wisse: je inniger und unaufgehalten sie das gewahr wird, desto inniger empfindet sie Wohllust.

Setzt, die Seele erkenne nicht (ein Zustand, den wir zum Teil nur aus der Ohnmacht kennen), so ist Tod da: Lähmung. Die Seele hat ihr Dasein gleichsam, d.i. ihren Genuß an sich und der Welt, verloren.

Setzt, die Seele betrachte etwas, was Unding ist, als Wahrheit; so kann sie's nur so lange, als die dunkle Vermischung unvollständiger Ideen ihr noch den Schatten als Wahrheit vorhält. Sie kommt aber zu sich: die Ideen werden weniger, heller, tiefer: sie findet kein Vergnügen mehr am Wahne, weil sie inne wird, daß sie bei ihm nichts gedacht habe. Sie wirft ihn weg und wählt Wahrheit.[399]

Setzt endlich, die Seele erkenne, schreite fort; aber unsanft, ohne Maß dessen, was sie fassen soll zum Gebrauch ihrer Kräfte: die Arbeit wird ihr sauer, sie fühlt sich unwillig, bis sie zuletzt, wenn sie nicht durchbrechen kann, am Orte der größten Dunkelheit zu rückkehret. Sie hört über den Gegenstand zu denken auf, unter dem sie zu erliegen schien, der sie mit Schwarz umhüllte: sie hat ihre Lust zu erkennen an ihm gebüßet und wandert anderswohin aus!

Das Erkennen der Seele läßt sich also nicht ohne Gefühl des Wohl- und Übelseins, ohne die innigste geistige Empfindung der Wahrheit und Güte denken. Das Wort Neugierde, Verlangen nach neuen Erkenntnissen, sie auf die leichteste, beste Weise zu sehen, sagt's.

2. So läßt sich keine Empfindung ganz ohne Erkennung, d.i. wenigstens ohne dunkle Vorstellung der Vollkommenheit, und zwar fortrückender Volkommenheit, denken: selbst das Wort Empfindung sagt's. Man muß mit sich und seinem Zustande beschäftigt sein, sich also und seinen Zustand fühlen, im Wohlstande und in der Fortdauer oder im Gegenteil fühlen, d.i. dunkel erkennen, in der sanften Fortdauer eine Art Wachstum, Zunahme, Genuß mehrerer, längerer Vollkommenheit ahnden, d.i. dunkel voraussehn, oder es ist kein Zustand der Empfindung. Selbst wenn wir uns eine Pflanze empfindend denken: so ist's, wie der tiefste Grad von Empfindung, so auch der dunkelste Zustand der Selbsterkenntnis und dessen, was in dies Selbst einfließt. Wir können nach dem gemeinen Begriffe nicht umhin, selbst in Gott, in dem Wesen, was weder durchs Erkennen noch Empfinden wachsen kann, beide Zustände nach unsrer Analogie zu setzen, weil wir sonst keinen innern Zustand eines Wesens kennen. Ja wenn bei der Empfindung Tätigkeit sein soll, unsern Zustand zu ändern oder darin zu beharren, wie die Aufgabe mit Recht zum Grunde setzt, so ist beides nicht ohne Erkenntnis, und zwar einen sehr vorzüglichen Grad derselben, möglich.

Erkennen ist also nicht ohne Empfindung: Empfindung nicht ohne ein gewisses Erkennen. Laßt uns beide Fähigkeiten nun genauer bestimmen und in ihren Grundgesetzen entwickeln.

Vom Gefühl der Pflanze wissen wir nichts, und vom Phänomenon des Triebes der Bewegung im Steine noch minder; laßt uns also vom untersten Grad unsrer tierischen Empfindung anfangen: wir fahlen uns in einem sehr vielartigen und zu einem[400] Zwecke äußerst fein organisierten Körper lebend. Körperlich zu reden, fühlt sich die Seele, d.i. unsre Kraft, zu erkennen und zu wollen, selbst in ihren abgezogensten Verrichtungen mit dieser Masse, wenigstens mit Teilen derselben, verbunden, daß sie diesen Ort im Universum nicht verlassen kann, wohin sie sich von einer fremden Macht gesetzt siehet. Sie fühlt weiter ihre selbstgedachte und abgezogenste Kenntnisse als Resultate ihrer Verbindung mit dem Körper und (noch immer körperlich zu reden) als ein Werkzeug, oder vielmehr als ein Aggregat unzählbarer Werkzeuge, ihr Kenntnisse zu gewähren. Sie fühlt endlich, im weitesten Verstande, sich als Inwohnerin gleichsam in diesen Körper ausgegossen, daß sie mit allen Werkzeugen desselben empfinde, desselben körperliche und organische Kräfte brauche, dadurch immer eine Kraft von sich anwende, sich also im Gebrauch dieser Kraft fühle, wohlseind, daurend in sanftem Maß fortstrebend fahle – sich also in diesem Körper wie in einem Spiegel ihr[er] selbst erkenne. Dies ist unser Zustand, und daher kommt die innige Vereinigung der Kraft, zu erkennen und zu genießen, zu sehn und zu empfinden.

Diesen Zustand nun bis auf den tiefsten Abgrund uns innigst und doch deutlich vorzustellen ist nicht möglich, weil wir weder die Natur der Gedenkkraft noch der Empfindungs- und Körperteile aus dem Universum und aufs Universum hin erklären und beziehen können. Und schon aus dem Grunde sind alle Systeme über die Verbindung der Seele und des Körpers nichtig. Wir sind in eine Welt unendlicher Ideen und Würkungen gesetzt, an denen wir, aber nur als einzelne Wesen, teilnehmen, und wissen selbst nicht, wohin oder woher jede unsrer Ideen würke. Wie sollten wir nun wissen, auf welche Art wir einzelne Wesen wurden? wie sich aus der allgemeinen Natur der Dinge die Kraft zu erkennen mit der Masse Organisation zu Empfindungen gattete, daß sie, wenigstens dem Scheine nach, zusammen und ineinander würken? Wer begreift, wie in der raum- und zeitlosen Unendlichkeit Raum, Zeit und einzelne Dinge wurden? Niemand! Die Untereinanderordnung deutlicher klarer und dunkler, aber lebhafter und würksamer Ideen ist das Meisterstück der göttlichen Kraft und Weisheit, die in jedem einzelnen Punkt nicht anders als aus der Zusammenordnung des Ganzen eingesehen werden müßte.

Wir müssen hier also bloß bei der Erfahrung und bei klaren Begriffen bleiben, von denen es gnug ist einzusehen, warum sie[401] nicht vollständig werden konnten. Da finden wir nämlich die Kräfte der Seele gleichsam ausgebreitet in alle mannigfaltige Verrichtungen des organischen Leibes. Ohne gewisse Teile, fühlen wir, kann unser Denken nicht vor sich gehn: die Affekten regen verschiedne Gliedmaßen und Teile: die Sinnlichkeit hat ihre Werkzeuge: das organische Gefühl verbreitet sich über den ganzen Körper – alle Teile und Glieder also tragen auf die verschiedenste Weise zum Wohl der Seele bei, und dies Wohl kann sich nicht anders äußern, als daß sie sich in allen Teilen wohl fühle. Hiebei sollten wir nun stehnbleiben. Die Seele fühlt sich im Körper, und fühlt sich wohl, wenn sie fortdauret, ihre Verrichtungen tut und die Verrichtungen des Körpers ihr analog würken. Mens sana in corpore sano. Könnten wir tiefer hin fühlen und uns aus dem tiefen Traume der sinnlichsten Kräfte wecken: so würden wir ohne Zweifel inne, wie die Seele sich genau in allem fühle. Wie sie die Modulation des Geblütsumlaufs höre und auch eben der Modulation ähnlich denke! Wie das Othemholen durch seinen Druck auf die Maschine zugleich der Takt sei, der die Modulation der Gedanken regiere! Wie in jedem starken oder schwachen Gliede, nach Maß des Beitrags desselben zum Ganzen, die Seele sich schwächer oder stärker fahle, freudig würke, oder matte. Kurz, der Körper würde uns alsdenn deutlich, was er uns jetzt nur dunkel oder verworren ist, Analogon, Spiegel, ausgedrücktes Bild der Seele. Und hier liegt nun der Bestimmungsgrund unsrer ersten wichtigen Frage über die Natur des Erkennens und Empfindens: nämlich das Erkennen der Seele kann als ein deutliches Resultat all ihrer Empfindungszustände betrachtet wer den; die Empfindung also kann nichts anders sein als gleichsam der Körper, das Phänomenon des Erkennens, die anschaubare Formel, worin die Seele den Gedanken siehet. Dies ist die ursprüngliche Bestimmung beider Fähigkeiten, die sich in der Entwicklung aller merkbaren Fälle und Zustände zeiget.

Da hiezu das Bild des ganzen Körpers mit all seinen Empfindungen ein zu dunkles, vielartiges Bild wäre, sintemal er von zu vielem andern abhängt, ein Sklave des großen Laufs der Natur ist und der Seele nur unvollständig zugehöret: so lasset uns ihr eigentlicheres Gebiet, die Sinnlichkeit im engern Verstande, betrachten, und wir werden die ursprüngliche Bestimmung beider Fähigkeiten, des Erkennens und Empfindens, auf die angegebne Weise sehen.[402]

Immer nämlich ist jeder Sinn ein Organ, der Seele Empfindung und unter der Hülle derselben Erkenntnis zu geben Sie stellen ihr alle ein Mannigfaltes vor, wo ihr Macht und Amt gegeben wird, daraus ein Eins zu machen. Jeder Sinn auf seine Weise, aus seinen Gegenständen liefert ihr Schemata des Wahren und Guten, d.i. viele in eine Empfindung vermischte Ideen und Teile des Weltalls, die aber also vermischt der Sphäre des Sinnes angemessen sind, d.i. die der Seele also vorgestellt werden, daß sie auf solche Weise in ihrer Menge leicht gefaßt und bis zu dem Grade Klarheit und Deutlichkeit aufgelöst werden können, als es fürs Wohl des Ganzen itziger Zeit und in dem Zustande gehöret. Bei der Empfindung jedes Sinnes übt sich also die Seele im Erkennen, d.i. sie hat eine sinnliche Formel vor sich, die sie auf die möglich leichteste Weise entziffert und in ihr ein Resultat von Wahrheit und Güte suchet.

Beim Geschmack z.E. fühlet die Seele ein Mannigfaltes, das sie in eins verwandelt. Alles zu Einförmige im Geschmacke macht Ekel, Überdruß und, wenn's also einartig zu lange fortgesetzt wird, Erbrechen. Sind zu verschiedne Teile zusammengesetzt, die sich nicht auflösen lassen, so wird der Geschmack widrig, die Seele erliegt darunter, und im unausgeartet natürlichen Zustande war ein so widriger Geschmack auch Zeichen der Ungesundheit der Speise. D.i. die Seele erkannte dunkel aber lebhaft, daß der Leib die mit ihm oder unter sich zu verschiedenartige Teile nicht einigen, nicht mit ihm in dem Zustande unmühsam und zum Wohl des Ganzen assimilieren konnte; sie stieß sie also zurück und sehnte sich nach andern. Kann sie's aber, so wird das dolce piccante, das sanfte Vielförmige, die angenehme Reizbarkeit daraus, wo sich die Seele durch den Sinn sanft beschäftigt fühlt, wo sie leicht auflöset und ihrer Natur assimilieret, kurz, wo sie eine gewisse Formel der Wahrheit und Güte auf eine sanft gemischte Art entziffert und sich also würklich in einer der Erkenntnis analogen Handlung fühlet.

Der Geruch würkt schon tiefer und in einer zur Seele nähern Region. Orient, das Land der Düfte und Gerüche, fand die Ideen derselben schon so fein, daß sie sie zur Speise der Seele, der Genien und zur Nahrung der Götter machten, wenn sie ja Speise genössen. Das Pasten am Geruche war ihnen schwerer Hunger, und andre Sprachen sagten in einer andern Beziehung einen Menschen von verstopfter Nase für einen dummen Menschen[403] auch nicht umsonst. Der Geruch liefert schon seine Formeln der Erkenntnis in der Mischung von Düften; er ist gleichsam der Geist des Geschmacks, der ohne ihn tot ist, und eine nahe Pforte zu den feinern Sinnen. Die Seele schwimmt mit ihm in einem vielartigen Äther, den sie, wie Dissonanzen, leicht auflöset und in eins, die Natur ihres feinen Organs, verwandelt. Daher ist der Geruch so stärkend und ruft die Lebensgeister wieder: die Seele fühlt sich in ihm gleichsam in der Mittelregion zwischen Geist und Körper mit einer angenehmen Formel des Erkennens beschäftigt.

Gehör und Gesicht endlich sind die Spiegel- und Tonkammer der Seele. In der Tonkunst löst die Seele immer auf, nur dunkel, weil sie sonst das Mannigfaltige verlöre. Der Rameausche Erfahrungssatz zeigt, daß jeder Ton die aufsteigenden harmonischen Töne mit enthalte, und der Erfahrungssatz des großen Tartini zeiget, daß auch der Gang der Melodie als ein Resultat zweier gegebnen Töne schon mechanisch vorausgefühlt werden könne; aus welchen beiden Grundsätzen zusammengenommen sich der ganze Mechanismus der Tonkunst erkläret. In Harmonie und Melodie übet sich die Seele also an Formeln des Erkennens, der Reduktion vieles zu einem auf die angenehmste Weise. Nicht das aber bloß, sondern in der ganzen Natur liegen Materialien zum Wohllaute um uns, woran wir uns unaufhörlich üben. Um uns tönt ein großes, ewiges Konzert von Bewegung und Ruhe. Der Sturm oder das Säuseln der Lüfte, die Musik, die in jedem körperlichen Tone von seiner Anschwingung bis zu seinem Ersterben durch alle Grade der Bebung liegen muß, gibt unsrer Seele ewig ein fortstrebendes Geschäfte der Auflösung, Voraussicht, des Genusses ihr[er] selbst in jedem Tone. Die menschliche Stimme endlich vollendet alles. In jeder Periode tritt schon den Tönen nach uns eine Formel des Ausdrucks vor, eine Mannigfaltigkeit zur sanften Einheit, eine Modulation von Empfindungen, die sehr tief, uns unmittelbar gleichartig würken. Bei dem Gesicht wird alles am klärsten. Alle Farben und Flächen um unser Auge sind ihm harmonisch; das man bald fühlen kann, wenn man sich einen gelben Himmel, eine feuerrote Wiese, schwarzes oder schneeweißes Laub der Bäume zusammengedenket. Die Natur nahm die mittlern, sanftesten Farben und verteilte sie also, daß die Seele am längsten auf ihnen ruhen und sie am leichtesten auflösen konnte. Den Wechsel zwischen Tag und Nacht setzte sie[404] durch sanfte Übergänge, Morgen- und Abendröte zusammen, und wo sie konnte, lieferte sie Symmetrie, leicht zu fassende Wohlgestalt und Schönheit. Die Bäume wachsen in sanfter Verjüngung und sind das natürliche Muster der schönsten, festesten Formel der Baukunst. Ohne daß sie's weiß, umfaßt die Seele den Stamm, gleitet sanft umher und mit ihm in die Höhe, fühlet also dunkel das Streben aller Radien in demselben zum Mittelpunkte, d.i. Vollkommenheit des Zirkels, und das sanfte Fortstreben hinauf in gerader Linie auf seiner Wurzel, in seinem Kreise, bis zum Überfluß seiner Äste zum Nutzen und zur Notdurft. Nichts hat die Natur eckig gemacht, nichts, daß sich das Auge dran stoße. Wo ein Kleineres dem Druck des Größern unterliegt, ist's mit der größten Sparsamkeit, der mindesten Ausnahme. Die Pflanze richtet sich wieder in die Höhe, wenn sie dem pressenden Steine entkam; die umgekehrte Wurzel wendet sich selbst in der Erde, und der vom Winde gebogne Baum verjüngt sich noch in seiner gebeugten Stellung. Warum hat die Natur alle Gestalten der Tiere mit Symmetrie bekleidet? Inwendig in ihrem Baue sind sie's nicht, da arbeitete sie für die Notdurft und nicht für die feinere Notdurft einer durchs Auge gestaltsammlenden Seele. Im Meer und im Staube sind Geschöpfe, wo sie auch im Äußern noch der Bedürfnis unterlag; die Glieder der Berechnung ihrer Gestalten treten noch nicht helle hervor oder scheinen ungleichartig nebeneinander. Je näher sie dem Menschen kam, desto mehr bildete sie den Staub harmonisch. Vögel und Fische symmetrisch geschuppt und befriedet: die Tiere symmetrisch gefärbt und gebildet: endlich paßte sie diese Weisen wieder zusammen, und die Menschengestalt ward! Welche Formel von Wahrheit und Güte in jedem Gliede, in jedem Zuge! Ein Ausdruck unnennbarer Tiefe! eine Formel vom Weltall im leichtaufzulösendsten, umfaßbarsten, simpelsten Bilde. Dieser Formel, sehn wir offenbar, blieb die immer verändernde Mutter auch in den Geschlechtern hinter dem Menschen so lange treu, als sie's bleiben konnte, und lauter solche seelenvolle Bilder legte sie dem Gesichte des Menschen umher, daraus Seele, d.i. Wahrheit und Güte, unter jeder harmonischen Gestalt zu suchen und zu finden. Sie übt und sammlet das Erkennen unter lauter Empfindung: diese ist nichts als die leichteste, meistbeschäftigende, angenehmste Aufgabe zu jener.

Welche unabsehliche Weisheit, Güte und Wahrheit des Urhebers der Natur herrscht in dieser Einrichtung. Jeder Teil des[405] Weltall, der sein Bild ist, und also auch in so hohem Grad jede menschliche Seele ist mit jedem Sinne, unter jeder Gestalt, nichts als der Wahrheit und Güte fähig. Kein Sinn, als Sinn kann sie trügen: alle Vorstellungen, selbst die dunkelsten, sind prägnant von Wahrheit im Schoße der Empfindung: Irrtum ist nichts als eine Vermischung und Zusammenwerfung zu vieler Teile, deren Grund wir noch nicht sehen, also nichts als ein Übel unterwegens auf dem Gange zur Wahrheit. Und da es nun der natürliche Fortschritt ist vom Dunklen zum Hellern, vom Unvollständigen zur Vollständigkeit, welch ein schöner Weg ist jeder Seele bestimmt im Universum. Sie läutert und scheidet immer: jede sinnliche Empfindung, die Hülle der härtsten Notdurft übt sie und hält sie auf dem Wege: sie soll unter allen Gestalten nichts als Wahrheit und Güte ernten, die eins sind. Sie übt sich immer im Erkennen, indem sie empfindet.

Nun gab uns die Gottheit so viel Sinne, als sie uns auf dieser Stufe des Daseins, ohn uns zu überladen, geben konnte, oder vielmehr wir sind auf jede Weise, da wir's hier sein konnten, unendlicher, ganz Sinn. Wir sind z.B. nie ohne Gehör und hören gewissermaße den Schall der Sphären, den Wohlklang des Universum, in dunkler Tiefe; nur weil er uns übermannt, weil unser Ohr der Menge und Stärke unterliegt, hören wir gar nicht, wie ein Kind den Schall des Geschützes nicht vernimmt, wenn Erwachsne dafür erbeben. Auf einem Lichtstrahl gleiten wir bis in die fernsten Tiefen des Universum, bis unser Auge dunkel wird und sich der Himmel für uns bläuet. So mit allen Sinnen, und auch das ist wie weise Güte des Urhebers. So wird jedem Sinn seine Sphäre; worunter er erliegen würde, empfindet er gar nicht: da wird scheinbare Ruhe! da wölbt sich der Himmel! – Da ein Sinn also nicht das Universum durchdringen und ertragen konnte, so gab uns die Gottheit viele schwächere Sinne, um uns in Abwechslung an verschiednen Formeln der Wahrheit und Güte zu üben, von denen immer doch ein Resultat auf das Innere der Seelen zurückfallen sollte. Ein Blick in die Natur des Frühlings z.E., welche reiche Ernte für die Seele! Duft, Lied, schöne Farbe, Wohlgestalt – alles fließt zusammen und füllet die Empfindung – ein angenehmes Chaos von Schöpfersideen voll Weisheit und Güte, das auch das Bild Gottes die Schöpferin in uns, so viel und weit sie kann, nachempfindet und sich, soviel sie kann, zu einer Welt voll Wohlordnung für sich bildet. Jede Empfindung endlich liefert die Kenntnis auf[406] die fruchtbarste und leichteste Weise: das ist das Kriterium der Empfindung. Viel ist in ihr zusammengehüllt, das auf einmal in die Seele kommt, dadurch sie zur Entwicklung gelockt wird. Sie sieht sich auf einmal im Besitz eines solchen Schatzes und strebt den Schatz zu genießen; sie strebt aber auf eine so sanfte Weise, daß sie, wie die Aufgabe bemerket, nur mit sich selbst beschäftigt, nur genießen oder genießen zu wollen scheint, und eben damit rückt sie erkennend weiter. Sie unterhält sich selbst so unmühsam, als ob sie ganz von der Empfindung unterhalten würde und nicht wirkte, sondern genösse. In solcher Blüte von Notdurft und Liebe keimt das Erkennen, die Frucht! – Weise Güte des Vaters unsrer Empfindungen und Kenntnis!

3. Es ist leicht zu erachten, daß das sogenannte höhere Denken der Seele ganz auf dem Wege fortgehen müsse. Solang noch alles im Klumpen daliegt, heißt's Gedächtnis: da dies aber nur durch die Einbildung möglich ist, so sieht man, es ist nur das zurückgeworfne Bild, die vorige Formel, abgekürzt in der Seele, die andern Kräften zur Grundlage dienet. In allen Werken der Einbildung sehn wir nur zweite Abdrücke der Empfindung, und je natürlicher das Werk ist, desto mehr ist's für den Seelenforscher ein Spiegel der sinnlichen Kräfte des Urhebers. Welche Sinnen bei ihm geherrschet? welche stumpf oder verstümmelt waren? nach welchen Gesetzen er das Chaos so verschiedner Eindrücke ordnete? wie klar oder dunkel er in jedem die Wahrheit und Güte selbst oder nur ihr Kleid im Nebel fühlte? Das alles zeigt sich darin wie im Spiegel. Die Einbildung ordnet in sinnliche Bilder; da aber in einer menschlichen Seele sie nie ohne Verstand sein kann, in wie unmerklichem Grad er auch würke: so äußert sich immer wieder die vorige Kraft, die aus dem Chaos der Sinne, des Gedächtnisses, der Einbildung und Begierden Teile wählt und zu ihrem einen Zwecke ordnet. Hier wird also Naturlauf im kleinen; ein Gebrauch vieler Mittel zu einem – darauf beruht Kunst und Handlungsweise und alle Sittenlehre zur Glückseligkeit unsres Ganzen. Auch hier also bleibt die vorige Analogie sichtbar: daß unsre Verstandskräfte nämlich Gesetze der Natur, Regeln ihres Laufs aufsuchen und nachahmen, daß sie sich an solchen unter der Hülle jeder Empfindung üben und ebenso weiterwürken. Die Empfindung ist also wieder Blume des Erkenntnisses und der Handlung.

Lasset uns nämlich alle Affekten betrachten: was sind sie anders als sehr starke vielfassende und lebhafte Begriffe, Bilder,[407] Gestalten und Formeln dessen, was wir für gut oder böse halten? Die Natur hat sie als den leichtsten Weg gewählt, auf einmal so starke Eindrücke, so vielfache Kenntnisse und Eigenschaften in die Seele zu bringen, als auf dem Wege des deutlichen Erkennens nicht möglich wäre. Liebe und Haß, Furcht und Hoffnung, Glaube und Verzweiflung, Mitleiden und Barmherzigkeit, Fröhlichkeit und Reue, Bewundrung und Verachtung, Scham und Ehrbegierde usw., wie heftig würken sie ins Gemüt! malen den Gegenstand der Leidenschaft mit Feuerfarben tief in die Seele! erregen alle Winde und Neigungen derselben zum Wollen, zur Tat! Und da doch unter jeder derselben ein angebliches Gute enthalten ist, wonach die Seele fleucht: so sehn wir in ihnen dasselbe Gesetz würkend, was wir in jeder Handlung der Seele bemerkten, Erkenntnis nämlich im Schoß der Empfindung. Und hier mußte also, damit die Erkenntnis würksam werde, die Empfindung, das Symbol derselben, mit Feuercharakteren malen. Das Schiff des Lebens hatte, zum mindsten bei außerordentlichen Seelen, die Winde nötig.

Auch zeigt sich hier nun bei dieser Einhüllung ebendie vorige Regel der Richtigkeit, Wahrheit und Güte des Schöpfers. Was sich uns nicht durch die Empfindung, im höchsten und reinsten Umfange betrachtet, als gut empfiehlt, stößt die Seele von sich: es liegt schon in der Natur des fühlenden Wesens, daß es sich davon befreie. Scheint etwas gut, was es nicht ist: so ist der Irrtum nur durch den Nebel, durch die Zusammenfassung des übertäubenden Zuvielen, dessen Verknüpfung unter sich oder Beziehung auf uns wir nicht einsahen, entstanden. Die Eigenschaften rücken näher, lösen sich auf, und der Irrtum muß einen Ort haben, wo er verschwindet. Das Böse ist nur durch Irrtum und Schwäche entstanden: es muß nach der Analogie des Schöpfers einen Ort geben, wo, wenn jener weichet, diese Schwäche, die bloß aus dem Unterliegen unter zu vielem entstanden, sich in Kraft verwandele. Keine Empfindung kann und soll bis zu Ende trügen: die dunkelste und überwältigendste ist nur in einem langsamen Gange und größerm Kampfe der Weg zur hellen und um so reichern, richtigern Erkenntnis. Die menschliche Seele und das Universum für sie ist voll Anlagen zur Weisheit, Güte und Tugend in jeder Leidenschaft, in jeder Erscheinung.

Darauf beruht nun auch die ganze Sittenlehre. Die Seele nämlich zu leiten, daß sie sich nicht täusche, daß sie in jedem[408] Spiegel des Guten und Wahren auch nichts als diese reine Substanz erblicke, sich auch selbst in verworrenen Gestalten an sie gewöhne, damit sie nie eine Wolke für die Göttin umarme, sondern stets den graden Weg zur Freude und Glückseligkeit treffe. Sie wappnet uns also mit Vernunft und anerkannter Lehre der Weisheit in das Feld des Streits und übt uns, von dieser Lehre nicht zu weichen, bis wir überwunden. Wo die Seele schon eine üble Gewohnheit angenommen, falsch zu sehen und zu rechnen, d.i. falsche Größen zu substituieren, die nicht dastehn, und unter einem angewohnten schiefen Winkel die Gegenstände zu nehmen, damit sich ihre Gestalt verwirret: so setzt sie dieser übeln Gewohnheit Bollwerke, Affekt dem Affekt entgegen und bietet alles auf, der Seele freies Auge und freie Hand zu verschaffen, das Wahre und Gute in allen Phänomenen zu sehen, in allen Empfindungen zu umarmen und anzustreben mit allen Begierden. Da sind alsdenn Verstand und Wille eins! Handlung ist die lichte, freie Idee des Wahren und Empfindung ihr reines Bild, ihr starker allvermögender Ausdruck. Das ist das hohe Ideal der ursprünglichen Bestimmung beider Fähigkeiten, dem wir uns aber nur immer nähern.

Lasset uns nun nochmals die Reihe von Erfahrungen sammlen und ordnen, die uns beide Kräfte in ihrem Ursprunge zeigen; das Grundgesetz, darauf sie sich zurückführen, erhellet denn von selbst.

1. Die menschliche Seele als ein eingeschränktes Wesen hat auch keine unendliche Kraft, zu erkennen, und umfasset nicht das Weltall in seinem ersten Grunde. Der Schöpfer hat sie also an eine organische Materie als einen künstlichen Auszug des Weltall geknüpft, daß sie mittelst seiner erkenne und sich das Weltall nach Analogie desselben bilde. Das ist der Leib, ein Analogon ihrer Kräfte und ein Auszug, Symbol, ein vorstellender Spiegel des Universum für sie (à la portée d'elle).

2. Die Begriffe mittelst dieses Körpers sind Empfindungen, d.i. dunkel zusammengehüllte Vorstellungen des Weltalls nach einer leicht faßlichen, angenehmen Formel, d.i. für einen Sinn eingerichtet. Die Seele, die sich nicht mit dem Körper aus deutlichen Begriffen gesellet, sondern sich in solchen Zusammenstrom des Universum nur wie findet, kann nichts tun, als daß sie würke, d.i. die Empfindungen auflöse, wie sie ihr zuströmen. Ihre Natur ist eins, und sie bringt ein deutliches oder klares Eins in alle das Vielfache im Spiegel ihrer Organe. Ihre Natur[409] ist Wahrheit und Güte; sie bringt also dies Wesen in jedes Phänomenon, das ihr die Natur aufgibt. Sie erkennet, will, handelt.

3. Die allweise Natur, die sich überall gleich ist, hat's also so gefüget, daß ihr nichts zuströmen kann, was nicht Symbol der Wahrheit, Güte und Vollkommenheit sei, wenn sie's auflöset, d.i. klär und deutlich siehet. Um sie nun an diesem Geschäft unablässig zu üben, gab sie ihr die vielartigsten Probleme auf, d.i. sie gab ihr verschiedne Sinne, und in jedem denselben Empfang auf eine andre Weise. Sie schränkte aber diese Sinne für sie (à la portée d'elle) ein, damit sie keinem derselben unterläge, und gab ihr das Principium der Tätigkeit zur Natur, sich anderswohin zu wenden, wenn sie nicht mehr erkennete. Dies ist das Phänomenon der menschlichen Freiheit, das am tiefsten in der willkürlichen Aufmerksamkeit liegt, eine Seite des Weltalls zu verfolgen oder davon zu abstrahieren, wenn sie uns nichts mehr brächte oder wir sie nicht zu umfassen vermochten. Und da stiftete der Schöpfer eine so weise und gütige Zusammen-, Unter- und Nacheinanderordnung dieser Symbole des Weltalls, daß die Seele, das Steuerruder in der Hand, immer fortstrebe. Der größte Teil des Unendlichen muß noch dunkel bleiben, weil wir keinen Sinn dafür haben: eben deswegen ignorieren wir ihn auch und freuen uns schon jetzt, in jedem Sinn eine Formel zur Auflösung des Universum, ein Pfand der Gottheit und Symbol des Unendlichen an Wahrheit und Güte zu besitzen.

4. Schließen wir nun nach dieser Analogie weiter, so muß sich alles Gegebne in aller gegebnen Zeit zur Wahrheit und Güte auflösen und kein Punkt des Ganges müßig bleiben. Jeder Irrtum muß eine Wolke sein, die sich einmal zertrennet, und jede auch fehlgeschlagne Übung in Entwirrung der Symbole des Weltalls muß der Seele eine neue Formel geben, die sie witzige und beßre. Mit der Fortdauer der erkennenden Seele ist also auch immer Fortstreben verbunden. Sie umfaßt mit jedem Schritte ein größer Teil des Weltalls und wird immer mehr geübt, das Bild Gottes, Wahrheit und Güte, in allem zu entwickeln, immer mehr in wenigerer Zeit auf leichtere Weise in ihr Wesen zu assimilieren, das eben das Eins der Wahrheit und Güte ist, das sie in allem findet.

5. Das ist also das Hauptgesetz, wornach die Natur beide Kräfte geordnet: nämlich, daß Empfindung würke, wo noch[410] kein Erkennen sein kann: da diese vieles auf einmal dunkel in die Seele bringe, damit diese es sich bis zu einem Grad aufkläre und ein Resultat ihres Wesens darin Ende: daß dies auf die leichteste, angenehmste Art geschehe, damit das Meistmögliche in der kürzesten Zeit erkannt und die Seele sanft fortgeführet im Würken außer sich werde, als ob sie allein mit sich würkte und sich beschäftigte. Großes Meisterstück der mütterlichen Vorsehung, und ihm bleibt die Seele bei jedem Schritte des Daseins, selbst in Nebel und Irrtum, treu. – Es entwickelt sich aus den gegebnen Grundsätzen eine Philosophie der Seele, des Weltalls, der Gottheit, über die ich mir nichts Erhebenderes denke. In jedem kleinsten Teile des Unendlichen herrscht die Wahrheit, Weisheit, Güte des Ganzen: in jedem Erkenntnis wie in jeder Empfindung spiegelt sich das Bild Gottes, dort mit Strahlen oder Schimmer des reinen Lichtes, hier mit Farben, in die sich der Sonnenstrahl teilte. Erkennen ist Glanz der Sonne genießen, die sich in jedem Strahle abspiegelt: Empfindung ist ein Farbenspiel des Regenbogens, schön, wahr, aber nur als Abglanz der Sonne. Gehet diese klar auf am Firmament, so verschwindet der Regenbogen mit all seinen Farben.

Quelle:
Sturm und Drang. Weltanschauliche und ästhetische Schriften. Band 1, Berlin und Weimar 1978, S. 399-411.
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