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[175] An Bord des »Kaiser Wilhelm der Grosse.« Mai 1900.


Nun sind wir schon weit draussen auf dem Atlantischen Ozean. Während der ersten Stunden, so lang wir uns dem Lande noch nahe befanden, war die See etwas bewegt, aber je weiter wir fahren, desto stiller wird sie. Ganz glatt liegt sie jetzt vor uns – eine blassblaue Fläche – gerade in ihrer Ruhe so unendlich erscheinend und – so fremd. Denn wir Menschen führen seit Generationen ein so unnatürlich hastendes Leben, dass uns Unrast und Bewegung stets natürlich und begreiflich scheinen – die absolute Stille aber beängstigt uns – wir verstehen sie nicht mehr. Unser Riesenschiff gleitet durch die blauen Fluten, aber wir[175] merken seine rasende Geschwindigkeit kaum, denn das Meer scheint in seiner völligen Glätte gar keinen Widerstand zu leisten. Blauer Himmel, blaues Wasser zittern und flimmern ineinander über – es ist, als würden wir für alle Ewigkeit so weiter gleiten, so weiter schweben – ein dunkles Pünktchen in all der Bläue! Eine seltsame traumhafte Empfindung – als trügen mich regungslos ausgebreitete Schwingen durch die Weite.

Und in der grossen blauen Stille gedenk ich einer alten Sage vom Meer.

In ganz alten Zeiten, über die es keine Bücher gibt, von denen nur noch die Bewohner entfernter Küsten vom Hörensagen allerhand Geschichten kennen, war das Meer immer so still und blau wie heut, ein glatter Spiegel, drin Sonne, Mond und Sterne sich besahen und schön fanden. Niemand hatte damals je einen Sturm auf der See gesehen, man wusste noch nicht, was das sei. – Auf dem Festland lebten schon damals viele Menschen und je mehr ihrer wurden, desto grösser wurden auch Schmerz, Jammer und Elend aller Art. In ihrem Kampf und Leiden schauten sie oft sehnsuchtsvoll hinaus auf die ewig gleiche stille See. Und endlich wurde ihr Unglück so gross und ihr Wunsch nach Erlösung so heftig, dass sie riefen: »Wir können es nicht länger dulden, wir wollen hinausfahren über[176] das glatte, blaue Meer, dort werden wir wieder froh werden.« Da bauten sie ein grosses Schiff und nannten es »Meeresfreude«. Damit fuhren sie hinaus auf die klare blaue See. Aber die »Meeresfreude« war eine »Erdenleide«. Mit den Menschen waren Schmerz, Jammer, Elend und Unfriede auf das Schiff gestiegen. Es ward davon so schwer, dass sogar das starke Meer es nicht tragen konnte und als es ein Stück weit hinausgefahren war, versank das Schiff, und die blauen Fluten schlossen sich über all dem Erdenleiden. – Aber tief unten auf dem Meeresgrunde begann es nun zu wühlen und die Menschen, die auf dem Festland geblieben, sahen staunend, dass das ewig gleiche Meer sich veränderte. Es ward unruhig, sein tiefes Blau verwandelte sich in trübes Grau, auf nachtschwarzem Abgrund schoss weisser Gischt dahin, es hob sich in riesigen Wellen, die donnernd gegen das Ufer schlugen, es kämpfte, es zürnte, es raste – es war wie die friedlosen Menschen selbst geworden – und sie verstanden es, denn sie erkannten in ihm all ihre eigenen Leidenschaften.

Seitdem hat es immer Stürme auf dem Meere gegeben, und immer wieder kämpft das Meer mit all dem fremden Leid auf seinem Grunde, kämpft, um die alte verlorene Ruhe zurückzugewinnen. Aber die kehrt nie wieder. Auch an stillen klaren[177] Tagen wie heute steigt ein banges Seufzen aus der blauen Tiefe.


P.S. New York.


Die ganze Überfahrt ist so glatt und still geblieben – wie eine wohltuende Pause im Leben, eine sechs Tage lange Parenthese! Wie Musik schläferte das Rauschen der langen, trägen Wogen manch alten Schmerz ein. – Musik und weite Reisen sind so recht, was wir arme moderne Menschen brauchen, denn sie beruhigen und lehren vergessen. Während das Schiff unaufhaltsam weiter glitt, hatte ich beständig die Empfindung, dass etwas Furchtbares, das lange Zeiten Gewalt über mich gehabt, nun endlich und für immer hinter mir zurückblieb. – Wie vielen ist diese selbe Reise über den Atlantischen Ozean schon eine Flucht gewesen vor der Vergangenheit! Auch ich hatte das Gefühl des Entfliehens und Abschüttelns. – Als ob Schranken und Fesseln gefallen seien, war mir, als ich heute früh erwachte, und da stand sie auch schon auf ihrem Felsen, die riesengrosse Freiheit, die den Belasteten aller Länder mit ihrer Leuchte Hoffnung zuzuwinken scheint.

Die Freiheit als Wahrzeichen eines Weltteils und als Willkommen für alle aufzustellen – das macht den Amerikanern doch niemand nach![178]

Quelle:
Elisabeth von Heyking: Briefe, die ihn nicht erreichten, Berlin 521903, S. 175-179.
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