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[182] Tuxedo Park, Mai 1900.


Das Bridgewatersche Haus hier in Tuxedo gefällt mir beinah noch besser als ihr Stadthaus. Es heimelt mich an mit seiner hessischen Bauart. Steinerner Unterbau bis zur Höhe des ersten Stockes und darüber weisser Bewurf, von dem sich die Balken des Fachwerks in warmen, braunen Holztönen abheben. Dazu weit vorspringende Dächer und Giebel über einigen Zimmern, deren Fenster besonders schöne Blicke auf See und Wälder haben. Alte zopfige Engelchen aus grauem Stein sind an einem Balkon verwendet und man sieht, dass alles, was das Haus schmückt, von dem spanischen, eingelegten Täfelwerk des Speisezimmers bis zum schmiedeeisernen Geländer der Treppe, mit Liebe und Verständnis auf langen Reisen gesammelt worden ist.

Der Turm, der einen Vorsprung in dem Haupthof bildet, ist auf einer Seite mit einem Relief geschmückt, das den heiligen Georg, den Drachentöter[182] darstellt. Es stammt aus einem alten bayerischen Bauernhaus. Wenn heute eine Drachensage geschrieben würde, müsste sie ganz anders lauten, als diese alte vom schönen, ritterlichen Georg, der nur die Welt vom bösen Ungeheuer befreien wollte. Heute ziehen viele magere Wichtelmännchen gegen den Drachen aus, der im fernen Cathay seine Heimat hat, aber sie alle wollen nicht etwa den Lindwurm erlegen, sondern durch ihn fett werden. Der moderne heilige Georg legt dem Ungeheuer Ketten an, auf dass es still halte und sich melken lasse.

Die Südseite des Turmes sieht noch ein bisschen leer aus, und Mr. Bridgewater will dort eine Uhr anbringen. Er bat mich, ihm etwas zu skizzieren, was dort oben um die Uhr auf die Wand gemalt werden könnte, wie man es gerade in alten bayerischen Häusern so oft sieht. Ich habe nun um die Uhr eine zwölfstrahlige goldene Sonne entworfen. Die Strahlen entsprechen den Stunden, und auf jede der spitzen goldenen Strahlenzacken ist in gotischen Lettern ein Wort gemalt. Sie lauten in der Reihenfolge: I beginnen, II wollen, III lernen, IV gehorchen, V lieben, VI hoffen, VII suchen, VIII leiden, IX warten, X verzeihen, XI entsagen, XII enden. Der vorrückende Zeiger bezeichnet die Stunde mit dem Wort. Viele sind es, über die man schnell hinwegmöchte,[183] um bei andern lange zu verweilen – aber wir müssen alle Stunden nehmen, wie sie sich unerbittlich folgen auf der grossen Lebensuhr, gute und schlimme.

Was für Zeichen mögen wohl über Ihren Zukunftsstunden stehen, lieber Freund? Ich sinne nach und möchte den Schleier so gern etwas lüften können, und dann wieder denk ich, es ist besser, nicht zu fragen und zu forschen und sich nur der gegenwärtigen Frühlingsstunde zu freuen, wie die Mückenschwärme, die über dem See in der Sonne tanzen. Ich wünsche, dass viele, viele und nur schöne Stunden Ihrer harren mögen und diesen Wunsch sollen die wirklichen, warmen, goldigen Sonnenstrahlen mitnehmen und Ihnen bringen, wenn sie heute Abend meinen Blicken entschwinden, um Ihnen zu scheinen, auf der anderen Hälfte unserer schönen Frühlingswelt!

Quelle:
Elisabeth von Heyking: Briefe, die ihn nicht erreichten, Berlin 521903, S. 182-184.
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