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[224] New York, den 25. Juni 1900.


Mein Tagebuch ist mein einer grosser Trost. Ich vertiefe mich ganz in seine Lektüre. In ihm erlebe ich Vergangenes immer von neuem und vergesse zeitweise die qualvolle Gegenwart. Ich kann verstehen, was ganz alte Leute meinen, wenn sie von der grossen Freude sprechen, die es gewährt, einen Menschen zu treffen, der uns kannte, als wir jung waren. Mein Tagebuch ist mir wie jemand, der mich schon lange kennt, in dem ich mich wiederfinde, und vor allem ist es mir jemand, der Sie gekannt hat. Wie lang verweil ich doch bei den Seiten, in denen ich etwas von Ihnen wiederfinde!

Heute las ich von einem Morgen, an dem Sie mich abholten, um mir in chinesischen Läden bei[224] Besorgungen für das Häuschen zu helfen. Nur wenige Worte enthält mein Tagebuch darüber, aber die rufen mir alles wieder lebhaft vor Augen.

Ob Sie sich wohl auch noch daran erinnern? Es war Winter. Wir gingen durch das finstre Tor der Tatarenstadt und dann über die Bettlerbrücke, uns mühsam einen Weg bahnend zwischen langen Zügen mongolischer Kamele, zahllosen wirr durcheinanderfahrenden blauen Karren und einem Gewühl seltsam fremdartiger Menschen: Mongolen, in breitabstehenden Pelzmützen und dicken ockergelben und kupfrig roten Röcken; Chinesen, fröstelnd trotz ihrer vielen wattierten Gewänder, die Hände unter den lang überhängenden Ärmeln verborgen, auf dem Kopf einen spitz in die Höhe stehenden roten Baschlick, der fest um den Hals zugebunden war. Andere trugen über den Ohren kleine Pelzfutterale; man konnte sie oft mehrmals anrufen, sie hörten gar nichts und wurden beständig von Karren und Reitern angerannt.

Das waren die Wohlhabenden, die sich gegen die Kälte zu schützen vermochten, aber auf der Bettlerbrücke, zwischen den kleinen offenen Buden und Garküchen, drängte sich eine Menge grausiger Gestalten; halb nackt waren manche und die abgemagerten Körper zitterten vor Kälte; wir sahen eingefallene Gesichter, blaue Lippen, violette, halb[225] erfrorene Glieder, Wunden und Gebrechen aller Art, Haare struppig verfilzt, Augen, die wie im Wahnsinn starrten. Kaum menschliche Wesen waren sie zu nennen in ihrem Schmutz und ihrer namenlosen Verkommenheit. Und viele waren noch sehr jung, noch Kinder, und mussten doch auch mal eine Mutter gehabt haben! Und der Jammer dieser vielen, besser nie gelebten Leben erschien deshalb so entsetzlich, weil seine völlige Hoffnungslosigkeit so klar vor Augen lag.

Umringt von den Bettlern blieben wir an einer der kleinen Garküchen stehen, wo in alten, hundertfach gesprungenen und mit Draht kunstvoll geflickten Porzellannäpfen, namenlose, seltsam duftende Speisen feil geboten wurden. Heisshungrig schauten die Bettler nach der grossen Pfanne über dem offenen Feuer, auf der Fleischabfälle, zu Bällen geformt, in siedendem Fett gebraten wurden. Bläulich stieg der heisse Dunst auf in der kalten Winterluft und gierig sogen die Armen den Geruch brozelnden Fettes ein und drängten sich möglichst nahe an das Feuer. In ihres Daseins Hölle war eine warme Mahlzeit am Feuer einer Garküche wohl das Höchste, was die Erde zu bieten vermag – und Sie liessen allen zu essen geben und blieben dabei, damit auch jeder wirklich sein Teil bekam; denn die Bettler Pekings waren Ihre besonderen Schutzbefohlenen.[226] Wie oft habe ich Sie von dieser merkwürdigen Schar umringt gesehen, die wir Ihre Garde nannten!

Ich fragte Sie nach einigen der seltsamsten Gestalten, Sie kannten sie alle und sagten: »Auch unter diesen rechtlosesten aller Menschen bestehen noch Rechtsstreitigkeiten: Jeder darf nur in bestimmten Strassen betteln; alle zusammen bilden sie eine Gilde, an deren Spitze ein kaiserlicher Prinz steht, dem sie einen jährlichen Tribut entrichten müssen – denn nichts auf Erden wird mehr ausgebeutet, als das Elend, das sich nicht zu wehren vermag.«

Von der Bettlerbrücke bogen wir rechts in kleine Strassen ein. Ich weiss nicht, ob der Anblick all des Jammers um uns her uns darauf gebracht hatte, aber ich entsinne mich, dass wir auf dem Weg von dem geringen Mass an Glück sprachen, das auf Erden zu finden ist, und dass ich sagte: »und diesem bisschen Glück vermögen wir auch nicht mal voll ins Gesicht zu schauen, immer erscheint es uns im Profil, zurück in die Vergangenheit, oder hinaus in die Zukunft schauend.«

»Wär es denn wirklich gar nicht möglich, dem Glück in der Gegenwart kühn und entschlossen, voll ins Antlitz zu schauen?« sagten Sie leise vor sich hin, und der Klang Ihrer Stimme erschien mir[227] plötzlich beinah fremd, bebend, als benähme Ihnen die eisige Luft den Atem.

Ihre leisen Worte enthielten eine Frage. Aber ich vermochte nicht zu antworten – fürchtete das Zittern der eigenen Stimme. Fühlte Ihre Augen auf mir ruhen und wagte nicht aufzuschauen.

Ich schüttelte nur schweigend den Kopf. Der Wind pfiff eisig um die Ecken. Der Boden war hart gefroren. Der Winterhimmel hing schneeschwer herab. Es war, als laste uraltes Unheil auf der ganzen Welt. Fröstelnd empfand ich plötzlich die grosse Kälte. Eilend, wie vor Gespenstern fliehend, schritten wir weiter.

Wir sprachen beide nicht mehr.

Quelle:
Elisabeth von Heyking: Briefe, die ihn nicht erreichten, Berlin 521903, S. 224-228.
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