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[230] New York, den 27. Juni 1900.


Seit wann weiss ich eigentlich, was Sie meinem armen, in frühem Morgensturm entwurzelten Leben geworden sind? Hab ich es dort in Peking schon geahnt? Hab ich es jetzt erst allmählich entdeckt? Ich weiss es nicht mehr. Mir ist, als hätte es nie anders sein können. – Wir haben es uns nie so ganz gesagt – aber wir beide wussten es doch wohl immer. So vieles lag zwischen uns, hemmend und trennend. – Wozu da reden? Und sind wir nordische Menschen nicht alle etwas Stumme des Himmels? Es ist, als hindere uns eine gewisse Scheu, unsere tiefsten Gefühle auszusprechen. Mit der Feder sind wir viel beredter, da fühlen wir uns allein und frei, als könne niemand hören, was wir lautlos dem Papier anvertrauen.

Äusseren Schicksalszwanges hat es bedurft,[230] um klar zu sehen, der Angst, die die Schleier zerriss. Wenn ich an meine jungen Jahre denke, die des Lebens schönste sein sollten, so habe ich immer nur die eine Erinnerung an eine Last, die über meine Kräfte ging, die ich weiter trug, weil ich mir nicht zu helfen wusste, weil ich im Ertragen nicht schwach war, aber wohl viel zu schwach und öffentlichkeitsscheu, um selbst mein Schicksal in die Hände zu nehmen und es nach eigenem Willen umzuwandeln. Ich trug es wie es nun einmal war.

Ich habe einige Frauen vom Übermenschtypus gesehen, die dasjenige einfach abschüttelten, was sie in der freien Entfaltung ihres Ichs hinderte; die schicksalsstark waren und selbstgestaltend in ihr Leben eingegriffen; denen die eigene Person das Idol war, vor dem sich alles beugen musste. Ich habe auch Frauen gekannt, die zwei getrennte Leben führten, ein Leben vor aller Augen offen, kalt, grau, von unendlicher Langeweile; und daneben ein anderes, verstecktes, voll süsser Geheimnisse, voll erstohlenen Glücks, das die Leere und Öde des ersteren ersetzen musste. Beide Arten von Frauen habe ich angestaunt, vielleicht auch etwas beneidet, aber ich hätte keine je nachahmen können – es wäre allzusehr meiner innersten Natur zuwider gewesen.[231]

Ich habe gewartet. Gleich vielen Frauen, die ihr Leben lang nichts tun als warten.

Die Wandlungen in meinem Leben sind immer von aussen gekommen.

Nach Jahren, in denen die goldene Jugend schwand, ward mir die allzu schwere Last, ohne mein Dazutun, wenigstens teilweise abgenommen. Aber sie hatte mir ihren Stempel gelassen. Das Gebücktsein war mir geblieben, wie den Bäumen, die sich jahrelang vor dem Nordsturm beugen mussten. Alle Schwungkraft hatte ich verloren. Hoffnungslos schaute ich um mich. Was konnte das Leben noch enthalten?

Wanderjahre folgten und brachten etwas äussere Zerstreuung. In mir war es ganz still geworden. Ich hielt es für Todesstille, die ja für so viele lange vor dem Tode kommt.

So kam ich nach Peking.

Damals wähnte ich, des Lebens Kampf sei überwunden, und wunschlos lebte ich hin in wachem Traume. Wie blasse Nebelbilder glitten die Tage an mir vorüber. Müde, müde war ich, gleich allen, die nur noch des Endes harren.

Da kamen Sie.

Wie soll ich das schildern, was unbewusst, ungesucht geworden, woran ich nie rührte, was ich nicht sehen wollte. Die wir viel gelitten, wir[232] scheuen uns davor, die dunkelsten, verborgensten Tiefen des eigenen Herzens zu durchleuchten, wir gehen rasch an diesen Schlupfwinkeln alter und neuer Leiden vorbei, wie Kinder schnell durch ein finsteres Zimmer laufen. Das Leben hat uns Angst vor dem Unbekannten gelehrt, wir wissen, dass es meist neues Weh bedeutet, drum rühren wir nicht daran, schreiten vorsichtig und reden leise. Mutlos war ich geworden. Wollte nicht sehen, dass wir nach allem Erlebten, doch immer noch Träger vieler Möglichkeiten sind, die verborgen in uns ruhen, harrend nur einer gewaltigen Kraft, die sie unter Schmerzen ins Leben rufe.

Ich wähnte, mein Tag ginge schon zur Neige, und es ward noch einmal Licht. Ist es eine gütige, wärmende Sonne, die den Abend reicher und goldener bescheinen wird als es der ganze müde Tag je gewesen? Ist es ein grell sengender Blitz, der aus dunklem Gewölk niederfährt und das verwüstete Land noch einmal fahl bescheint? Ich weiss es nicht. Weiss nicht, welch Himmelszeichen über uns steht. Kann nicht der Zukunft Schleier durchdringen. Aber die gewaltige Kraft, die Verborgenes, Schlummerndes ins Leben ruft, sie ist gekommen in Sorgen und Bangen; sie drückt mir die Feder in die Hand zu Worten, die ewig ungeschrieben geblieben wären, ohne diese Angst um Sie![233]

Äusseren Schicksalszwanges hat es bedurft, der Not dieser Tage, die mich in mir sehen lehrten. Heute weiss ich, was Sie mir geworden.

Quelle:
Elisabeth von Heyking: Briefe, die ihn nicht erreichten, Berlin 521903, S. 230-234.
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