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[239] Bay View, den 16. Juli 1900.


Während der letzten Zeit bin ich viel krank gewesen. Es ist, als ob meine Kräfte ganz allmählich schwänden. Jeden Morgen fühle ich, dass mein[239] kleiner Vorrat an Widerstandskraft wiederum ein bisschen abgenommen hat. Die Hitze und Schwüle der Stadt seien schuld daran, meinte der Arzt, Seeluft würde mir gut tun. Ich weiss es anders. Die fortwährende namenlose Angst nagt an mir Tag und Nacht; und nur das, was wie ein Wunder wäre, kann mir noch helfen.

Aber mein Bruder wünschte so sehr, etwas für mich zu tun, für die doch nichts mehr zu tun ist. Da hab ich mich gefügt, und wir sind in dies nahe Seebad gezogen.

Ich bin so müde, so hoffnungslos. Warum noch irgend etwas? Warum irgend etwas nicht? Was kann noch Wert haben, wenn das Eine, Entsetzliche geschehen durfte? Es ist jetzt ja doch alles einerlei.

Das Eine aber, was ich nicht ertragen kann, ist, wenn fremde, wohlmeinende Menschen mir sagen: »Wie müssen Sie froh sein, dass Sie nicht in Peking sind!« Oder: »Es ist doch eine wahre Fügung Gottes, dass Sie wenige Monate vorher abgereist sind.«

O nein, ich bin nicht froh, fort zu sein! Wachend und träumend habe ich ja nur den einen Wunsch, in Peking zu sein, seitdem ich weiss, dass Sie dort sind. Dann wären wir doch zusammen – und was läge mir dann daran, alle Leiden erdulden zu müssen? Sie wären ja alle leichter zu ertragen als[240] getrennt sein und nichts von einander wissen. Und wenn es zum Schlimmsten käme und keine Rettung möglich wäre? Lebendig sollten uns die Wilden nicht bekommen; und in meinem letzten Blick würden Sie noch Glück und Dank lesen, Dank für Leben wie für Tod, für alles, was Sie mir gegeben.

Und warum soll es eine Fügung Gottes sein, dass ich gerettet bin, während vielleicht viele Frauen und kleine Kinder auf entsetzliche Weise umgekommen sind? Die waren doch so unschuldig wie ich an all der Verblendung, die allein das Furchtbare möglich gemacht hat. Welch ein Gott, der solcher Auswahl fähig wäre! Wir würden uns ja von jedem Menschen mit Abscheu wenden, der, in solch göttlicher Allmachtsstellung, nicht jeden Unschuldigen retten wollte. Der Gott so vieler Menschen erreicht in den Handlungen und Erwägungen, die sie ihm andichten, aber nicht einmal ein bescheidenes, menschliches Mittelmass – es ist eben nicht Gott, der die Menschen sich zum Bilde geschaffen, sondern die Menschen haben sich einen Gott konstruiert, nach dem Entsetzlichsten, was sie in der eigenen Natur fanden.

Ein Gott! der Tausende für die Fehler einzelner leiden lässt! Was muss in Peking während dieser letzten Wochen von Unschuldigen schon erduldet worden[241] sein, und was wird noch alles folgen? Von allen Ländern aus fahren jetzt Schiffe nach dem fernen Osten; sie sind voller Menschen, die bis vor wenigen Tagen von China vielleicht nur wussten, dass dort die Männer Zöpfe tragen und die Frauen auf winzigen Füssen einhertrippeln. Diese Kosaken und Franzosen, Engländer und Italiener, Söhne deutscher Gauen, Amerikaner, Japaner, sogar Inder – wozu ziehen sie aus? An einem entlegenen Erdenwinkel werden sie unbekannte gelbe Männer treffen, die ihrerseits von ihnen nie vorher gehört haben. Tausende von Meilen trennten sie bisher von einander, und sie konnten weder Freund noch Feind sein, denn sie wussten nicht einmal von der gegenseitigen Existenz. Trotzdem wird jetzt einer den andern umbringen, und man wird das schön und patriotisch nennen.

Wie sinnlos scheint es doch alles!

Viele ziehen jetzt aus jung und gesund und werden nie wiederkehren, durch Krankheiten mehr noch als durch Kugeln hingerafft. Andere werden wohl zurückkommen, aber wie? Und alles, um die Fehler anderer zu sühnen!

Und wenn man nun an die Chinesen denkt, an diese armen Unbekannten. Wie viel noch namenloseres Elend wird dort entstehen? Aber auch da wird es nicht die eigentlich Schuldigen treffen,[242] sondern auch wieder die, so sich nicht wehren können, jene Klasse Menschen, deren jahrtausendelanges Leiden in allen Ländern und bei allen Völkern gleichsam eine unterste Erdschicht bildet, auf der sich alles andere aufbaut, alles, worin wir es so herrlich weit gebracht.

Die jetzt also ausfahren, schliessen sich der grössten aller Flotten an, die in endlosen Schiffreihen hinaus segelt in verschleierte Fernen, zu unbekannten Häfen; jener Flotte, die bestanden hat, so lange es Menschengeschichte gegeben, deren Anfang in die nebligen Fernen urältester Vergangenheit reicht, die seit den Tagen der Ägypter, Perser und Griechen von Jahr zu Jahr gewachsen ist, die nimmer enden wird. Sie ist bemannt mit grauen Leidensgestalten, mit den Zahllosen, den Namenlosen, die von jeher die Schuld der Wenigen getragen.

Und alles ist Fügung Gottes.

Quelle:
Elisabeth von Heyking: Briefe, die ihn nicht erreichten, Berlin 521903, S. 239-243.
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