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[53] Es war im Herbst des Jahres 1846, daß ich zum erstenmal über Geibels Schwelle trat, ein sechzehnjähriger Primaner, dem zu Ostern des nächsten Jahrs das Abiturientenexamen bevorstand.
Schon lange hatte ich mich eifrig des Dichtens beflissen und zumal die Freuden und Leiden einer ersten Liebe, mit der es mir bitterer Ernst gewesen war, in unendlichen lyrischen Variationen, meist nach bekannten Mustern, gebeichtet. Auch an dramatischen Versuchen hatte es nicht gefehlt, und es war mir sogar gelungen, mit einem ersten fertig gewordenen Trauerspiel, »Don Juan de Padilla«, den aufmunternden Beifall meines lieben Vaters zu erringen, der mein aufkeimendes poetisches Talent von früh an begünstigte, doch als der Pädagog und Sprachforscher, der er war, wenn ich ihm wieder einmal ein Heftchen mit Versen zeigte, sich lobender Kritik möglichst enthielt, dagegen sprachliche und Reimverstöße sorgfältig anmerkte.
Noch eins, zu vielem anderen, danke ich ihm. Er hielt streng darauf, daß ich jeden einmal angefangenen Entwurf zu Ende führte, auch wenn ich mitten in der Arbeit die Lust oder selbst den Glauben an den Wert des Stoffes verloren hatte. »Selbst aus einem verfehlten Ganzen,« sagte er, »lernst du mehr als aus zehn leicht begonnenen und leichtsinnig aufgegebenen Fragmenten.«
Außer ihm und einigen Schulfreunden wußte nur noch mein obenerwähnter verehrter Lehrer, Professor Yxem, um meine heimlichen poetischen Jugendsünden, war aber weit[54] entfernt, mich darin zu bestärken. Liebeslieder durft' ich ihm natürlich nicht zur Beurteilung vorlegen. Ich wagte es aber hin und wieder mit einer Romanze oder Ballade im Uhlandschen Stil, nach dem Muster von »Der Wirtin Töchterlein«. Nicht wenig betroffen war ich dann, als der grillenhafte alte Herr mit einer gewissen Gereiztheit mich warnte, in dieser Uhlandschen »Handwerksburschenpoesie« fortzufahren. Der Grund dieses wegwerfenden Urteils über einen Dichter, der uns allen so hoch stand, lag in seiner schon erwähnten begeisterten Goetheverehrung. So hatte er sich nun auch Goethes Ansicht über den schwäbischen Dichter, »aus dessen Region nichts Tüchtiges, die Welt Bewegendes kommen könne«, angeeignet, was mein jugendliches Gezwitscher im Volkston entgelten mußte.
Auch Geibels erste Gedichte waren mir natürlich nicht unbekannt geblieben. Zur Nachahmung aber hatten sie mich nie angeregt. Ich bewunderte ihren Wohlklang, des Dichters reife Künstlerschaft in der Beherrschung aller Formen und die Wärme und Zartheit seiner Empfindung, und doch, sie machten mir weder kalt noch warm. Was ich in ihnen vermißte, hätte ich damals nicht klar zu bezeichnen vermocht: jene starke persönliche Eigenart, die mich in Heines kleinen Liedern, seinen Nordseebildern und dem Romancero fesselte, und dann wieder den unwiderstehlich süßverworrenen Naturton Eichendorffs, der mich mit seiner einförmigen Melodie, den wenigen, unermüdlich wiederkehrenden Stimmungsklängen ganz in seinem Banne hielt.
So hätte ich nie daran gedacht, gerade Geibels Bekanntschaft zu suchen, vollends nicht, ihn um sein Urteil über meine poetischen Exerzitien anzugehen. Er war fünfzehn Jahre älter als ich, ein berühmter Mann, der es schon zu einem halben Dutzend Auflagen gebracht hatte. Wie sollte er sich um die »Handwerksburschenpoesie« eines unbärtigen Gymnasiasten kümmern? Ja, wenn mich noch eine überschwengliche Verehrung zu ihm geführt hätte!
Daß ich trotzdem eines Tages an seine Türe klopfte, und zwar als angehender Poet, der »schüchtern und beklommen«[55] den Spruch des Meisters zu hören erwartet, damit war's in folgender seltsamer Weise sehr gegen meinen Wunsch und Willen zugegangen.
* * *
Während meines letzten Schuljahrs hatte ich mit dreien meiner nächsten Freunde ein poetisches Kränzchen gegründet, das wir den »Klub« nannten. Einmal in der Woche fühlten wir das Bedürfnis, uns unsere Verse vorzulesen, und versammelten uns zu diesem Zweck in der Wohnung des Ältesten unter uns, des Sohnes eines wohlhabenden Soldiner Bürgers, Richard Göhde, der mit mir in der Prima saß, ziemlich weit zurück auf den hinteren Bänken. Er war ein heiterer, überaus gutherziger Kamerad, von seinem Papa der Obhut eines Schulvorstehers in Berlin anvertraut, der seinem Pflegling neben der Überwachung seiner Schulstudien Freiheit genug ließ, allerlei unschuldige Allotria zu treiben.
Zu diesen gehörte unter anderem eine gelegentliche, aber ziemlich hoffnungslose Beschäftigung mit der edlen Poeterei, die auch mich und zwei andere Schulfreunde mit ihm zusammengeführt hatte. Denn er besaß, was ihn uns besonders liebenswürdig erscheinen ließ, eine schwärmerische Neigung, anzuerkennen, was ihm selber fehlte, so daß wir uns kein dankbareres Publikum wünschen konnten.
Der zweite meiner Klubgenossen war Felix von Stein, der Urenkel von Goethes Freundin. Das geringe Talent für Poesie, das er besaß, schien ihn doch wegen der Familientradition zu einiger Pflege und Ausbildung zu verpflichten, und noch viele Jahre später, als er bereits glücklicher Gatte und Vater geworden war und sein Erbgut Kochberg, mit geringem Erfolge freilich, bewirtschaftete, hat er in den Zimmern, die Goethe mit kleinen, runden Wandbildern in Sepia geschmückt, sich mit dramatischen Versuchen abgemüht, die höchstens damals in unserem Primanerklub Anerkennung gefunden hätten.
Der vierte im Bunde war ein entschiedenes dichterisches Talent, das fruchtbarste von uns allen, Bernhard Endrulat.[56]
Er stammte aus einer litauischen Familie; die Eltern, in bescheidenen Verhältnissen lebend, waren, soviel ich mich entsinne, seit Jahren in Berlin angesiedelt, zwei hohe, stattliche Gestalten, von denen der Sohn die Statur und eine gewisse Zartheit des Wesens geerbt hatte. Er war ein oder zwei Jahre älter als ich, an Leib und Seele wohlgeraten, ein auffallend schöner, stolz und treuherzig in die Welt blickender Junge mit dunklen Locken, von dem seine Lehrer – er besuchte nicht mit uns das Friedrich-Wilhelms-Gymnasium – nach seinen Zeugnissen zu schließen, die günstigste Meinung hegten.
Früh hatte sich bei ihm die Überzeugung festgesetzt, daß er zum Dichter geboren sei. Er erklärte dies auch mit naiver Feierlichkeit seinen Freunden, ohne daß er die Verse, die er mit unglaublicher Leichtigkeit hinwarf, schon für vollkommene Gaben der Muse angesehen hätte. Bald nachdem uns ein Zufall zusammengeführt, befreundete ich mich mit ihm aufs herzlichste. Ich bewunderte sein Talent höchlich und stellte es weit über mein eigenes. Denn obwohl ich selbst in einer dichterischen Welt lebte und webte, war ich durchaus nicht klar darüber, ob ich zum Dichter und nicht vielmehr zum Maler berufen sei. Von Endrulat aber glaubte ich, daß ihm der Lorbeer des Poeten nicht fehlen könne. Meine neidlose Bewunderung ging so weit, daß ich mich unendlich geehrt und geschmeichelt fühlte, als er eines meiner kleinen sentimentalen Gedichte so hochschätzte, daß er es selbst gedichtet zu haben wünschte. Er schlug mir einen Tausch gegen eines der seinigen vor, das mir als ein unerreichbares Virtuosenstückchen erschienen war, und da ich ihn ohnehin für den reicheren hielt, ging ich ohne sittliche Bedenken auf diesen Glaukustausch ein. Meines eigenen Produkts entsinne ich mich nicht mehr. Das seine, das er als Motto vor ein Buch mit weißem Papier geschrieben hatte, ist mir im Gedächtnis geblieben:
Was ungereimt
Gereimt entkeimt,
Sich ungesäumt
Zum Verschen säumt,
[57]
Ob's gegen Zaum
Und Zügel bäumt,
Hier wird ein Raum
Ihm eingeräumt.
Zur Steuer der Wahrheit muß ich hinzufügen, daß ich von meinem wohlerworbenen Eigentumsrecht nie Gebrauch gemacht habe.
Man würde aber eine falsche Meinung von dem hochgestimmten, schwärmerisch dichtenden und trachtenden Jüngling fassen, wenn man ihn im Verdacht hätte, dergleichen Formkünste hätten sein dichterisches Wesen ausgemacht. Vielmehr war er ganz erfüllt von den Freiheitsgedanken der vormärzlichen Zeit, in höherem Grade als irgend einer von uns, und in schwungvoller Rhetorik huldigte er den abstrakten politischen Idealen der Lyriker jener Tage, denen er auch später nicht untreu geworden ist.
Daß es um unser Naturgefühl nicht zum besten stand, wir uns vielmehr in diesem Gebiete mit wohlfeilem Anempfinden begnügten, wird niemand von richtigen Berliner Kindern anders erwarten. Auch er war hierin mir nicht überlegen. Doch entsinne ich mich, welchen Eindruck die Verse in einem einer Gedichte auf mich machten:
Melancholisch finster
Schwankt der gelbe Ginster.
Was wußte ich im Tiergarten oder der Hasenheide von dieser wildwachsenden Pflanze! Als ich ihr später zuerst begegnete, mußte ich freilich lachen, da ich dem heiteren Gesträuch, das mit heller Goldfarbe an den Bergabhängen leuchtete, nicht zutrauen konnte, jemals in finsterer Melancholie vor dem Auge des Dichters geschwankt zu haben.
Unsere Zusammenkünfte erfuhren auch im Sommer keine Unterbrechung. In jener anspruchsloseren Zeit war es ja noch nicht Sitte geworden für jeden, der es irgend vermochte, sich aus dem Berliner Staube zu flüchten, und Felix von Steins Eltern besaßen überdies ein Haus mit einem großen, alten Garten in Schöneberg, das auch den »Klub« oft gastlich beherbergte.[58] Im übrigen betätigte Felix sein literarisches Interesse weniger durch eigene poetische Beiträge als durch den Eifer, mit dem er sich an unseren ästhetischen Debatten beteiligte, wobei er, der einzige unter uns grünen Jünglingen, eine Zigarre nach der anderen rauchte.
Auch der Soldiner Freund war nicht sehr produktiv. Er erwarb sich aber auf andere Art ein erhebliches Verdienst um uns, da er ein besonderes Talent für die Kochkunst hatte. So ging er, oft während der Vorlesungen selbst, geschäftig ab und zu, um in der Küche nach dem Rechten zu sehen. Er »rumohrte« draußen, wie wir mit Bezug auf den Verfasser des »Geists der Kochkunst« von ihm sagten, wenn er zu lange fortblieb. Aus den geringen monatlichen Beiträgen, die wir zu unseren Symposien leisteten, konnte unmöglich die für unsere Begriffe oft glänzende Bewirtung bestritten werden. (Richard war stolz darauf, uns sogar einmal in die Geheimnisse der Béchamelsauce eingeweiht zu haben.) Da er aber einen reichlichen Wechsel hatte und es sich zur Ehre schätzte, in dem Poetenkreise wenigstens durch ein schätzbares Talent sich hervorzutun, drangen wir nicht weiter auf genaue Abrechnung.
Das Getränk bestand in ein paar Flaschen jenes säuerlichen Jostyschen Biers, das nicht im Verdacht stehen konnte, uns die Köpfe zu erhitzen. Dafür sorgte jedoch nicht bloß die Begeisterung, mit der wir unsere eigenen Verse vortrugen; sie wurde überdies oft genug durch die offenherzigste Kritik gedämpft. In eine feurigere Stimmung versetzten uns häufig die Werke der großen Dichter, die wir uns mit verteilten Rollen vorlasen. Unter anderem entsinne ich mich eines Abends, wo wir die »Iphigenie« gewählt hatten. Immer mächtiger ergriff uns die Herrlichkeit des wundersamen Gedichts, immer höher erhoben Endrulat und ich die Stimmen; unser Kochkünstler war von seinem Herde hereingeschlichen und hatte sich sacht auf einen Stuhl neben der Tür niedergelassen; im Sofa lag Felix mit zurückgesunkenem Haupt und geschlossenen Augen; wir achteten nicht darauf, daß wir beide zuletzt allein lasen, bis tiefe, regelmäßig auf- und absteigende Töne vom Sofa her uns verkündeten, daß einer aus unserem Bunde[59] sanft entschlummert war. Zugleich drang ein brenzliger Mißduft aus der Küche herein, der verriet, daß unser Abendessen Gefahr lief, als ein Brandopfer auf dem Altar der Dichtung für geringe Sterbliche ungenießbar zu werden.
Richard sprang erschrocken auf, dem Übel draußen womöglich noch Einhalt zu tun; träumerisch erhob sich Felix von seinem Lager und versicherte, nur einen Augenblick von der Macht der Schönheit überwältigt worden zu sein; wir alle aber konnten durch dergleichen drollige Intermezzi in unserer gehobenen Stimmung nicht ernstlich gestört werden.
* * *
Was an diesen Abenden vorgelesen wurde, unterlag einer strengen Sichtung, nach welcher das für würdig Erklärte in das sogenannte »Klubbuch« eingetragen wurde, – ein Quartband mit dünnem, bläulichem Schreibpapier, in einer rot marmorierten Decke, so unscheinbar, wie sich's für die prunklose Beerdigung meist totgeborener Musenkinder geziemte.
Es war unter uns ausgemacht, daß keinem profanen Auge der Einblick in diese Blätter gestattet werden sollte. Wir waren daher nicht wenig bestürzt und entrüstet, als Richard uns eines Abends mit verlegener Munterkeit gestand, er habe sich erlaubt, unser Klubbuch jemand zu zeigen, und zwar keinem Geringeren als Emanuel Geibel, der es denn auch freundlich durchgeblättert und geäußert habe, es werde ihm Vergnügen machen, die Verfasser persönlich kennen zu lernen.
Zu diesem Verrat hatte sich unser Freund auf folgende Weise verleiten lassen, wodurch sein Verbrechen allerdings in milderem Lichte erschien.
Das stille Haus nämlich am Enkeplatz Nr. 3, dicht an dem Gitter, das den Bezirk der Sternwarte abgrenzte, stand in besonderer Musenhuld. Im ersten Stock wohnte der Schulvorsteher, Schuft mit Namen, Richards ehrsamer Nähr- und Pflegevater, bei dem unsere dichterischen Konventikel stattfanden, der zweite Stock beherbergte Robert Prutz mit seiner Familie, im dritten hatte Emanuel Geibel ein paar möblierte Zimmer inne. Trotz unserer Neugier, wie wohl ein wirklicher,[60] schon gedruckter lebender Dichter aussehen möge, hatten wir keinen Versuch gemacht, mit den »höheren Mächten« in Verkehr zu kommen. Richard aber, als Hausgenosse, war beiden Dichtern zuweilen auf der Treppe begegnet und mit Geibel insbesondere in ein freundnachbarliches Verhältnis getreten, da er sich erboten hatte, ihm Federn zu schneiden.
Dabei hatte der berühmte Mann sich einmal zu der Frage herabgelassen, ob er etwa auch Verse mache. Errötend hatte Richard seine eigenen lyrischen Sünden verleugnet, dagegen von dem Talent zweier Freunde groß Rühmens gemacht und endlich zum Beweise, daß er nicht übertreibe, das Klubbuch ausgeliefert.
Nachdem der Sturm unserer sittlichen Entrüstung verbraust war, sahen wir ein, daß wir die Folgen dieses Vertrauensbruches wohl oder übel auf uns nehmen mußten. So stiegen wir am nächsten Vormittag mit einigem Herzklopfen in den dritten Stock hinauf. Der Empfang aber, der uns zuteil wurde, verscheuchte bald jede Beklommenheit.
Auf dem Schreibtisch freilich, von dem der Dichter sich erhob, uns mit herzlichem Händedruck zu bewillkommnen, lag das corpus delicti, unser Buch in dem rot marmorierten Einband. Das peinliche Verhör aber, das wir fürchteten, unterblieb. Geibel, damals einunddreißig Jahre alt, begrüßte uns mit väterlichem Wohlwollen als hoffnungsvolle junge Leute, deren löbliches Streben mit seinem Rat zu fördern ihm Freude machen würde. Er hielt uns, da wir selbst bescheiden verstummten, eine schöne kleine Rede über die Pflicht, durch strenge Selbstzucht sich der Gunst der Musen wert zu machen. Vor allem sollten wir uns bemühen, etwas Rechtes zu lernen, mit allem Wissen der Zeit unseren Geist zu nähren, da der Dichter auf der Höhe seiner Zeit stehen müsse, wenn er ihr Leitstern werden wolle. Der sonore Klang seiner Stimme und die priesterliche Wärme, mit der er sprach, machten einen tiefen Eindruck auf mich. Er hatte sofort mein junges Herz gewonnen, weit sicherer, als wenn er sich auf die freundlichste Kritik meiner Verse eingelassen hätte. Mit einer Art Ehrfurcht betrachtete ich das von braunem, lockigem Haar – damals noch reichlich genug – umrahmte,[61] groß geschnittene Gesicht, aus dem unter der schönen Stirn die hellen, feurigen Augen uns gütig anblickten. Im ganzen freilich hatte ich mir einen Dichter anders vorgestellt. Mit dem alten grünen Schnürrock und dem lose umgeschlungenen Tuch um den offenen Hals machte die stämmige, untersetzte Gestalt mehr den Eindruck eines alten Studenten oder eines etwas verwahrlosten französischen Troupiers, an den auch der starke Schnurr- und Knebelbart erinnerte. Es war mir aber lieber, ihn so finden, als wenn er in der Gestalt eines Barden oder Troubadours erschienen wäre. Dazu waren seine Worte denn doch von dem tiefen lyrischen Hauch durchweht, der seinen Gedichten ihren Reiz verlieh, und wie er sich nun mit jedem einzelnen von uns über seine persönlichen Verhältnisse und Lieblingsstudien unterhielt, ganz anders, als wir es von den ebenfalls sehr verehrten Professoren unseres Gymnasiums gewohnt waren, fühlten wir doch, daß er von einer Menschenart war, der wir bisher noch nicht begegnet waren.
Dazwischen warf ich verstohlene Blicke auf das Blatt, an dem er eben geschrieben hatte. Ich glaube, es war eine Szene seiner Albigensertragödie, mit der er sich lebenslang tragen sollte, ohne sie zum Abschluß zu bringen. Zum erstenmal sah ich ein im Entstehen begriffenes Manuskript eines Meisters, und auch die großen, etwas schwerfälligen Züge seiner Handschrift mit ihren Haken und Schwänzen imponierten mir höchlich.
* * *
So verlief unsere erste Begegnung zu unsrer großen Befriedigung, und wir erteilten im Hinuntergehen auf der Treppe dem Verräter unserer Klubgeheimnisse feierlich Absolution.
Dann führte er mich beiseite und vertraute mir, die Gedichte im Klubbuch, die Geibel als besonders talentvoll bezeichnet habe, seien fast alle von meiner Hand geschrieben gewesen, was natürlich Bernhard gegenüber Geheimnis bleiben müsse.
So sehr dies meinen nicht allzu lebhaften Ehrgeiz aufstacheln mußte, befremdete mich's doch nicht wenig. Ich hatte Endrulats Talent für das weit bedeutendere und reifere gehalten. Als ich dann aber das erstemal von Geibels Aufforderung,[62] ihn auch einmal allein zu besuchen, Gebrauch machte, erkannte ich an seinem freundlichen Eingehen auf einzelne meiner Lieder und Romanzen, daß es ihm jedenfalls Ernst damit war, wenn er in meinen noch vielfach unbeholfenen, naiven Anfängen etwas fand, was er in den weit flüssigeren, doch oft konventionell-pathetischen Versen meines Freundes vermißte.
Doch ermahnte er mich, in diesem Winter mich des Versemachens möglichst zu enthalten und erst das Gymnasium zu absolvieren. Er wolle mich auch dann erst bei Franz Kugler einführen, mit dem er in herzlicher Freundschaft verbunden war, und von dessen Urteil über alles Künstlerische er die höchste Meinung hatte.
Eines meiner Gedichte – eine Art Monolog der Niobe vor ihrer Versteinerung, deren Eintritt auch den Fluß der Terzinen zum Stocken brachte – hatte er schon jetzt dem Freunde gezeigt und beurteilte nun das Gedicht sehr eingehend. Ich hatte mich ja auch von meinem Vater einer strengen Kritik zu erfreuen gehabt. Doch obwohl dieser selbst eine feine poetische Ader hatte, wovon ich manches Zeugnis bewahrte, – die letzten Geheimnisse des lyrischen Metiers waren ihm doch nicht aufgegangen, während wohl kaum ein deutscher Dichter so vertraut mit ihnen war, wie Emanuel Geibel.
Ihm war nicht nur das feinste Ohr für den sinnlichen Reiz des dichterischen Ausdrucks eigen, auch das sicherste Gefühl für die Einheit des Stils und das klarste Verständnis für alles, was die innere Form betraf. Sein angeborenes Kunstgefühl war aus drei Quellen genährt und geläutert worden: dem Studium der Alten, besonders der Griechen – mit Ernst Curtius war es ihm ja vergönnt gewesen, ein paar schöne Jugendjahre in dem klassischen Lande selbst zu verleben, – dann aus der Bewunderung Goethes und endlich nicht zum wenigsten aus einer genauen Kenntnis der zeitgenössischen französischen Lyriker. Es war ihm aber gelungen, alle diese Elemente so in sich zu verarbeiten, daß aus ihrer Verschmelzung ein eigener Klang hervorging und von Nachahmung kaum hie und da die Rede sein konnte. Es hat größere lyrische Dichter gegeben als ihn; wohl nie einen größeren lyrischen Künstler.[63]
Das sollte auch mir zugute kommen. Denn wenn der Dichter auch »den Gehalt in seinem Busen« keiner menschlichen Schulweisheit verdanken kann, sondern nur seiner innersten Natur und dem lebendigen Leben, bringt er »die Form in seinem Geist« doch nicht fertig mit auf die Welt und darf es als ein Glück betrachten, wenn ein richtiger Meister ihm hilft sie auszubilden.
Wie einem lyrischen Motiv am einfachsten und schlagendsten alles abzugewinnen sei, was es an Stimmungsreiz und seelischem Wert enthält, wie, wenn der erste Hinwurf vorliegt, eine sorgsame Feile anzuwenden, nicht so sehr zur tadellosen äußeren Glättung, sondern um jede verbrauchte, flache oder bloß rhetorische Wendung durch eine charakteristischere, eignere zu ersetzen, darüber gingen mir durch Geibels Winke ganz neue Lichter auf. Das Geheimnis des Adjektivs wurde mir klar, das mir freilich schon beim Lesen Heinescher Lieder, der Goetheschen ganz zu geschweigen, aufgedämmert war und sich vollends enthüllen sollte, als ich einige Jahre später Mörike kennen lernte. Geibel zeigte mir an manchem meiner eigenen Jugendlieder, wie durch ein unermüdliches »Nach-innen-feilen« zuweilen ein paar unbedeutende Strophen, die aber einer echten Stimmung entsprungen waren, zuletzt doch einen intimen, persönlichen Reiz gewinnen konnten. Auch wie viel darauf ankommt, richtig anzufangen und zur rechten Zeit zu enden, vor allem »nicht aus dem Stil zu fallen«, das heißt, in einem Gedicht, das in einer bestimmten Tonart, etwa im Volkston, gehalten ist, keine Wendung zu gebrauchen, die einer höheren literarischen Sphäre angehört oder umgekehrt, wurde mir jetzt erst klar. Um nur ein Beispiel anzuführen: ich hatte, durch eine französische Lebensbeschreibung Bayards, des Ritters ohne Furcht und Tadel, angeregt, einen Romanzenzyklus nach dem Muster von Herders »Cid« verfaßt, den ich Geibel nun auch lesen ließ. Was er davon hielt, ist mir nicht mehr erinnerlich. Es muß wohl nicht viel gewesen sein, da ich es nicht der Mühe wert hielt, das Heft aufzubewahren. Nur eine einzige dieser Romanzen habe ich später in meine Gedichte aufgenommen, die letzte, die den Tod des Helden erzählt, wie er nach dem ergreifenden Begegnen mit Karl von Bourbon,
[64]
Prinz Bourbon, der gegen Frankreich,
Gegen seinen König kämpft,
verwundet im Tal der Sesia an einen Baum gelehnt, verscheidet. Der Sieger –
Klirrend in dem Eisenharnisch
Schwingt er sich von seinem Rappen,
Tritt zu jenem Vielverehrten,
Spricht zu ihm, indem er weint:
»O Bayard, dein herbes Scheiden,
Wie zerreißt es mir die Seele!« –
Doch Bayard – mit dem Verräter
Tauscht er weder Wort noch Blick.
Schaut noch einmal auf zum Himmel,
Wendet sich und ist verschieden –
Hieran schlossen sich in meiner ersten Fassung noch einige Verse, die den Eindruck der stummen Verdammung des Verräters warmherzig schilderten. Dadurch schwächst du den Schluß des Gedichts, sagte Geibel. Hier ist die äußerste Kürze geboten, kein Wort sentimentaler Empfindung, das dem Hörer vorschreibt, was er selbst dabei zu empfinden habe. Ich würde einfach schließen:
Nie seit dieser Stund' hat Jener
Mehr gelächelt, wie man sagt.
Stoße dich nicht an die letzte trockene Wendung. Auch in den spanischen Romanzen begegnen wir dergleichen scheinbar prosaischen Versen, die eben dadurch das Gedicht als ein echt volkstümliches legitimieren und stilgemäßer sind als die schönste lyrische Phrase.
Ich entsinne mich, daß ich damals nur mit geheimem Widerstreben seinem Rate folgte. Bald jedoch ging es mir auf, daß es das einzig Rechte gewesen war.
Es hatte nicht lange gewährt, so war mir von dem verehrten Freund und Meister das brüderliche »Du« angetragen worden, in das ich mich trotz des Gefühls meiner Unterordnung leicht genug fand. Er hatte von Anfang an sein geistiges Übergewicht[65] über meine grüne Primanerweisheit nie mit kühler Gönnermiene geltend gemacht, sondern nur wie der gereifte ältere Bruder gegenüber dem jüngeren. Zeitlebens hat er es geliebt, mit jüngeren Talenten sich von vornherein auf den Fuß eines kameradschaftlichen Verhältnisses zu stellen. Julius Grosse, Heinrich Leuthold, Hans Hopfen konnten es bezeugen, wie einfach menschlich der als schroff und hochfahrend Verschrieene ihnen entgegenkam. Gerade weil er sehr wohl wußte, was er wert war, lag ihm nicht daran, äußerlich den noch Unausgereiften gegenüber seine Würde zu wahren, und eine kleinliche eifersüchtige Regung vollends konnte ihn niemals anwandeln. Wie denn überhaupt der vielberufene Künstlerneid immer das Zeichen einer Unsicherheit des Selbstgefühls, die unheimliche geheime Furcht der eigenen Unzulänglichkeit in ehrgeizigen Halbtalenten zu sein pflegt, mit der sich dann doch eine törichte Eitelkeit und Selbstüberschätzung sehr wohl verträgt. Ein anderes ist die bittere Empfindung, die den Edelsten, Neidlosesten überschleichen kann, wenn er »des Ruhmes heil'ge Kränze auf der gemeinen Stirn entweiht« sieht. Wo ihm dies begegnete, konnte auch Geibel in eine heilige Empörung geraten, die dann von urteilslosen Anhängern jener falschen Größen als selbstsüchtige Überhebung gedeutet wurde. Den wahrhaft Großen gegenüber war niemand bescheidener als er.
Und doch hätte mancher Andere sich durch den raschen Ruhm, den ihm der erste Band seiner Gedichte eintrug, verblenden lassen können. Zu diesem ungewöhnlichen Erfolge hatten, außer dem inneren Wert dieser Dichtungen, mancherlei äußere Umstände mitgewirkt.
Als Geibel auftrat, waren die Zeiten der zweiten Romantik eben vergangen. Der letzte ihrer Jünger, Eichendorff, hatte seine Laute oder »Mandoline«, mit der er auf den Spuren seines »Taugenichts« »durch die überglänzte Au« geschritten war, an den Nagel seines Amtszimmers gehängt und nahm an der Bewegung der Zeit nur noch in seltsamen kritischen und literarhistorischen Expektorationen teil. Heine war eine dichterische Großmacht für sich, deren Anhänger sich in zwei Lager teilten, die aufrichtigen Poesiegläubigen, die, wie ich[66] und meine Freunde, in ihm den größten Lyriker nach Goethe sahen, und das »Junge Deutschland«, an dessen Spitze Gutzkow jede Poesie, die nicht der Zeit diente und in dem Kampf der Geister ihre Fahne flattern ließ, als ein müßiges Spiel verachtete, Heine aber wegen seiner genialen satirischen Brandraketen in Vers und Prosa seine romantischen Lieder verzieh. Wir Jüngeren aus dem Kuglerschen Kreise waren, obwohl das Stichwort l'art pour l'art noch nicht ausgegeben war, innigst davon durchdrungen, daß alle sogenannte »Tendenzpoesie« vom Übel sei, worin wir allerdings insoweit Recht hatten, als es stets nur wenigen der Größten gelungen ist, aus der Tagesstimmung heraus eine Dichtung zu schaffen, die wie der unsterbliche Ritter von la Mancha das Gelegenheitsinteresse weit überdauert. Von den Dichtern, die ein politisch Lied im Sinne der vormärzlichen Freiheitssänger zwar nicht für ein garstig Lied erklärten, aber selbst in der stürmischen Zeit schwerer politischer Krisen an dem Recht der Dichtung, sich an die ewigen Mächte der Menschenbrust zu wenden, festhielten, waren einige der begabtesten, Fontane, Storm, vor allem Gottfried Keller, noch nicht an den hellen Tag hinausgetreten, Mörike in Norddeutschland so gut wie unbekannt, und nur Freiligraths fremdartig glänzende Erscheinung wurde in den etwas matt gewordenen Musenalmanachen als ein aufleuchtendes, vielverheißendes Meteor bewundert.
In diese teils nüchterne, teils überhitzte Stimmung der Geister trat Geibels Muse mit ihren melodischen, seelenvollen Klängen in der Tat wie das Mädchen aus der Fremde hinein. Es war, als wäre der Begriff der wahren Poesie, die vom Herzen zum Herzen spricht, eine Weile verloren gewesen und nun wieder aufgefunden worden. Man freute sich, wenn auch unter den politischen Ungewittern der Himmel einzustürzen drohte, doch noch eine Lerche davonkommen zu sehen, deren süßer Ton die Herzen erquickte. Hier war von keiner »Tendenz« die Rede, von keinen witzigen, spitzigen Sarkasmen oder Sturmliedern einer revolutionären Kämpferschar: die alten, ewigen Gefühle, Liebe, Andacht zur Natur, Feier der Schönheit und gläubige Hinwendung zu einer göttlichen[67] Weisheit, die über allem zeitlichen Weltschicksal thront, waren die bewegenden Mächte in der Brust dieses jungen Dichters, der daneben doch auch schon zu erkennen gab, daß er in dem politischen Kampf dieser Tage seinen Mann zu stehen gedenke.
Es war daher kein Wunder, daß nicht bloß »Backfische« und zartgestimmte Frauen für den neuen Dichter schwärmten, sondern auch ernste Männer, die in ihrer Gesinnung sich von dem scharfen, nüchternen Ton des Jungen Deutschlands und Heines cynischer Genialität abgestoßen fühlten, durch den Hauch von Innigkeit und heiterer Schönheit, der alle Dissonanzen auflöste, für Geibel gewonnen wurden. In den Kreisen der Aristokratie kam noch die Genugtuung hinzu, daß endlich einmal wieder ein Dichter auftrat, der aus seinem von dem geistlichen Vater überkommenen Christenglauben kein Hehl machte.
Zu allen Zeiten hat Geibel Wert gelegt auf aristokratische Verbindungen, doch ohne jemals seiner eigenen Würde etwas zu vergeben. Vielmehr durchdrang ihn dabei das Bewußtsein der Ebenbürtigkeit des Talents mit dem Adel der Geburt, die hohe Meinung von der Glorie des Dichterberufs nach dem Worte Schillers:
Es soll der Sänger mit dem König gehn;
Sie beide wandeln auf der Menschheit Höhn.
Keine persönliche Eitelkeit war dabei im Spiel, nur der Anspruch, in diesen exklusiven Regionen als Vertreter seines Standes von Macht zu Macht behandelt zu werden. Wie er denn auch sonst von der Schwäche, auch nach dem Beifall Solcher zu streben, die er nicht für voll nahm, völlig frei war. Auch er wußte, daß wir die Welt in unseren Freunden sehen müssen, wenn wir verdienen sollen, daß die Welt von uns erfahre.
In jenem Winter aber klagte er oft, daß er sich in zu viele gesellige Beziehungen verstrickt habe, die mehr von ihm forderten, als sie ihm zu geben imstande waren. Man scheute sich nicht, seine Gefälligkeit und sein leicht improvisierendes[68] Talent zu allerlei privaten Zwecken zu mißbrauchen. So erinnere ich mich, daß ich eines Tages, als ich ihn besuchte, ihn noch im Bette fand. Er war immer ein Langschläfer und mußte sich damit necken lassen, daß er das schöne Gedicht:
Wer recht in Freuden wandern will,
Der geh' der Sonn' entgegen –
wohl nur nach Hörensagen verfaßt habe.
Diesmal war es schon hoher Mittag. Aus den Kissen auffahrend, erklärte er mir, er sei die letzte Nacht erst gegen Morgen zu Bett gekommen. In der Gesellschaft, in die er geladen war, habe eine junge Gräfin einen schwachen Augenblick benutzt, ihn um ein Gedicht zur silbernen Hochzeit ihrer Eltern zu bitten. Er habe es nicht abschlagen können und, als er gegen zwei Uhr nach Hause gekommen, noch die erste Strophe hingeworfen, da die Feier nah' bevorstehe. »Tu mir nun den Gefallen und mache die beiden folgenden. Dies und das ungefähr hab' ich darin sagen wollen, mir brummt aber noch der Kopf von der Ananasbowle und dem schlechten Schlaf. Ich brächte in dieser Verfassung nichts Gescheites zustande.«
Ich brauche nicht zu versichern, daß mir kein König der Welt eine höhere Ehre hätte erweisen können, als er durch diesen Auftrag. Ich fand richtig auf dem Schreibtisch im Nebenzimmer das Blatt mit der großen, diesmal etwas unsicheren Schrift des Freundes, eine achtzeilige Strophe, die an das Glück der ersten, grünen Hochzeit erinnerte; die zweite sollte der silbernen gewidmet sein und die dritte mit dem üblichen Ausblick auf das Gold des Greisenalters schließen. Die nächtliche Inspiration hatte ihm nicht eben einen besonders neuen, tiefsinnigen Gedanken eingegeben, dessen Ausführung einem Anfänger schwer gefallen wäre. Als denn auch nach einer Viertelstunde der Verfasser der ersten Strophe, wie er den Federn entstiegen war, nur mit einer Unterhose und der grünen Pekesche bekleidet, mit finsterer Stirn, die Locken wirr ums Haupt flatternd, bei mir eintrat, war das gemeinsame Werk schon beendet. Er ließ es sich vorlesen, nickte ein kurzes »Gut!«, bat mich, das Gedicht abzuschreiben, und[69] nachdem er seinen Namen mit gewaltigen Haken daruntergesetzt hatte, steckte er das Blatt in ein Kuvert und schickte es sofort durch seinen Stiefelputzer an die gräfliche Adresse.
* * *
Was aber den Gegenstand unserer häufigsten und eifrigsten Unterhaltungen bildete, war keineswegs, wie man nach all diesem voraussetzen möchte, die lyrische Poesie, sondern die dramatische.
Sein ganzes Leben hindurch war Geibel mit dramatischen Projekten, Szenaren und halb ausgeführten Szenen beschäftigt, und kein Thema griff er begieriger auf, als das Problem der dramatischen Technik, »das Geheimnis des Dramas«, wie er es zu nennen pflegte. Fertig geworden war von all seinen jugendlichen Entwürfen nur ein »König Roderich«; der »Meister Andrea«, den er zuerst unter dem Titel »Die Seelenwanderung« für den Sohn des Prinzen von Preußen schrieb, reifte heran. Daß das anmutige Stück, wie Geibels Biograph Gaedertz berichtet, 1847 in acht Tagen geschrieben worden sei, ist bei der langsamen, schwerflüssigen Art, wie Geibel arbeitete, nicht denkbar. Schon aber hatte er die beiden unermeßlichen Gebiete der Geschichte und Sage nach allen Richtungen durchstreift, an jeden Busch geklopft, ob ihm keine dramaturgische Frucht daraus in die Hand fallen möchte, und die zwei inneren Seiten eines leeren Buchdeckels enthielten die lange Liste der Stoffe, die er sich zu dramatischer Behandlung ausersehen hatte. Es fehlte darin kein antiker tragischer Held, kein schon hundertmal dramatisierter deutscher Kaiser, kein vorleuchtender Name der nordischen Heldensage. Und regelmäßig mußte man erleben, wenn man ihm von einem historischen Stoffe sprach, aus dem man ein Trauer- oder Schauspiel zu machen gedenke, daß er die Stirne runzelte, die Augen zornig rollen ließ und mit donnernder Wucht hervorstieß: »Das ist mein Stoff!«
Worauf er dann den Buchdeckel mit der Namenliste herbeiholte und nachwies, daß er denselben Stoff schon vor so und so viel Jahren zu eigenem Gebrauch sich notiert habe.[70]
Damals trug er sich, wie gesagt, mit einer Albigensertragödie, von der er schon einige Szenen ausgeführt hatte, obwohl die Komposition des Ganzen ihm noch nicht feststand. Eben der architektonische Aufbau, so viel er über dessen Grundgesetze sich Gedanken gemacht und mit Freunden ihn hin und her beraten hatte, blieb ihm bei all seinen dramatischen Unternehmungen das Schwierigste. Die sittlichen und geistigen Konflikte, die Charakter- und Leidenschaftsprobleme gingen ihm in voller Klarheit auf und regten seine Seele zum höchsten dichterischen Ausdruck an. Nur allzusehr aber gebrach es ihm an der unentbehrlichen szenischen, theatralischen Phantasie, die eine sich entwickelnde, anschwellende, in notwendiger Verknüpfung sich gruppierende Handlung in Bewegung setzt. Er war stets in einer hilflosen Lage, wenn sich's darum handelte, seine Figuren mit einem plausiblen Motiv auftreten und wieder abgehen zu lassen. Solange sie auf der Szene verweilten, verstand er es trefflich, ihnen bedeutende Worte in den Mund zu legen, nicht nur lyrisch-rhetorische Herzensergüsse, sondern echt dramatische Reden und Gegenreden. Aber so wie ihm jedes novellistische Talent fehlte, stand er auch der Aufgabe des Dramatikers, äußere Umstände zum Hebel innerer Vorgänge zu gestalten, unbehilflich und unlustig gegenüber.
Aus diesem Grunde ist auch nur das eine seiner Trauerspiele zu einer starken Bühnenwirkung herangereift, die »Brunhild«. Hier hatte die Sage so kräftig vorgearbeitet, daß der erfindenden Phantasie des Dramatikers nicht viel zu tun übrig blieb. Von den vielen Bearbeitern der Nibelungen hat denn auch kaum einer, selbst der am wenigsten Begabten, sich an dem gewaltigen Stoffe versucht, ohne einen bedeutenden Gewinn davonzutragen, bis zuletzt Hebbels kongeniale Natur die Aufgabe für alle Zeit erledigte. So stark sind die tragischen Grundmauern des Stoffes, daß sie auch in einem Ausbau von geringerer dichterischer Größe einen imponierenden Eindruck machen. Gleichwohl bedurfte es auch für dieses Stück Geibels der mäeutischen Beihilfe guter Freunde, wie Kugler und Putlitz, um das äußere Gefüge den Anforderungen der Bühne überall anzupassen.[71]
Diese seine Grenze kam mir damals natürlich nicht zum Bewußtsein, und ich hielt den Freund auch auf dem Gebiet des Dramas zu allem Höchsten berufen, da er zu der Erkenntnis dessen, was die größten Dramatiker unsterblich gemacht, die feinsten und reinsten Organe besaß. Ihn über Shakespeare reden zu hören, war mir auch späterhin stets in hohem Grade anregend und belehrend, ihn ein großes Drama vorlesen zu hören, ein unvergleichlicher Genuß. Auch seine Rezitation lyrischer Gedichte, zumal seiner eigenen, war eindrucksvoll; er setzte die Verse gleichsam in Musik und ließ sie auf dem Strom seiner tiefen, melodischen Stimme in einer träumerischen Eintönigkeit hinschwimmen. Wenn er Dramatisches las, kam mehr Licht und Schatten, eine größere Mannigfaltigkeit von Tönen in den Vortrag, die leidenschaftlichen Szenen wuchsen ohne jedes falsche Pathos zu machtvoller Größe an, und in den zarten, lyrischeren Teilen wußte er jede weichliche Affektation zu vermeiden. Die Abende in München, an denen er einem kleinen Freundeskreise Otto Ludwigs »Makkabäer« und Grillparzers »König Ottokar« vorlas, stehen mir in unauslöschlicher Erinnerung. Kaum jemals im Theater, auch nicht von den größten Schauspielern, habe ich eine tiefere Erschütterung erlebt.
Und so werde ich, da er mich zu den Gipfeln dramatischer Kunst emporblicken ließ, schwerlich den Mut gefaßt haben, ihm von meinen tastenden Anfängen zu sprechen, von jenem »Don Juan de Padilla«, der mir selbst trotz des väterlichen Lobes so äußerst unreif erschien, noch weniger von einer krausen dilettantischen Komödie, die ich vor jenem historischen Trauerspiel verfaßt, und mit der ich eine sehr niederschlagende Erfahrung gemacht hatte. Die Handlung dieser phantastischen Posse, die ich für uns Viere vom »Klub« gedichtet hatte, ist mir gänzlich entfallen. Ich weiß nur noch, daß die Hauptpersonen ein Schneider und eine Prinzessin waren, deren Rollen mir und Endrulat zufielen, und daß es von gereimten Versen in allen erdenklichen strophischen Formen wimmelte. Beim Niederschreiben derselben hatte ich mich unendlich ergötzt und so viel lustige Faxen und Anzüglichkeiten auf unsere eigenen werten[72] Personen eingeflochten, daß wir bei den Proben, die auf meinem Hinterzimmer in der Behrenstraße stattfanden, nicht aus dem Lachen kamen. Wir versprachen uns einen glänzenden Erfolg bei unserm Publikum, das nur aus Felix Steins Eltern, seiner schönen Schwester und den Meinigen bestand. Zu unserm größten Erstaunen entzündete die Aufführung nicht die geringste Heiterkeit; die Scherze, die wir oft kaum vor eigenem Lachen vernehmlich hervorbringen konnten, fielen platt zu Boden, und der Beifall am Schlusse rührte nur von der gütigen Absicht der Zuschauer her, uns über die beschämende Stimmung eines vollständigen Fiasko hinwegzuhelfen.
Ich aber hatte die gründliche Lehre erhalten, daß man beim Dichten eines Lustspiels seinem Publikum nicht alles vorweglachen soll, und wie Recht Lessing mit seiner Warnung gegen den Bruder hatte: er dürfe nie vergessen, daß man eine Woche lang auf seiner Stube sehr ernsthaft gewesen sein müsse, wenn die Leute im Theater eine Stunde lang lachen sollen.
* * *
Im März des Jahres 1847, fünf Tage nach meinem siebzehnten Geburtstag war mir das mündliche Abiturientenexamen erlassen worden. Meine Lehrer, die mich zur klassischen Philologie berufen glaubten, hatten mir die schöne Züricher Gesamtausgabe des Plato mit auf den Weg gegeben. Ich habe ihre Hoffnungen freilich sehr getäuscht.
Denn obwohl ich zunächst in vier Semestern in Berlin unter anderem die Vorlesungen von Boeckh, Lachmann und meinem Vater besuchte – bald war ich mir bewußt, daß ich nicht aus dem Holze war, aus dem klassische Philologen geschnitzt werden. Zwar, daß diese edle Wissenschaft mit der Pflege der Dichtkunst vereinbar sei, hatte gerade Geibels Beispiel mir gezeigt, der seinen Schulsack nicht auf die leichte Achsel genommen, sondern so gründlich sein Wissen bewahrt hatte, daß er imstande war, bei einer längeren Verhinderung seines früheren Lehrers am Lübischen Gymnasium ihn in den Jahren 1848 und 1849 nicht nur in Deutsch und Literaturgeschichte, sondern auch im Horaz zu vertreten.[73]
Ich aber hatte früh erkannt, daß ich überhaupt für einen gelehrten Beruf nicht geschaffen war. Mein Sinn stand allein auf dichterische Aufgaben, und da ich stets vor allem Dilettieren in ernsten Dingen eine heilige Scheu gehegt hatte, war mir der Gedanke entsetzlich, mit halbem Herzen und halber Kraft mich einer Wissenschaft zu widmen, die, wie eine jede, die Hingabe des ganzen Menschen und eines ganzen Lebens erheischt.
Zunächst freilich, da es galt, ein »Brotstudium« zu wählen, während damals mehr noch als jetzt die Poesie als eine brotlose Kunst angesehen wurde, schlenderte ich auf dem Wege, den mir meine Abstammung von zwei Grammatikern und Sprachforschern wies, ohne viel Zukunftssorgen weiter und genoß nebenher die schöne Freiheit des Studentenlebens und alles Ersehnte und kaum Geahnte, was sich durch den Eintritt in das Kuglersche Haus vor mir auftat.
Unser »Klub« hatte sich, soviel ich mich entsinne, seit der Bekanntschaft mit Geibel zwar nicht aufgelöst, sich aber lahm und unersprießlich durch den Winter fortgeschleppt. Wir waren, seit wir uns an eine berufene Kritik wenden konnten, gegen unsern eigenen ästhetischen Fürwitz mißtrauisch geworden. Das Klubbuch wurde nicht fortgesetzt. Mein Verkehr mit Endrulat hörte zwar nicht auf, da wir uns von Herzen zugetan waren. Doch da Geibel nicht daran dachte, auch ihn bei Franz Kugler einzuführen, blieb ihm der Kreis, in dem ich nun meine reichsten Eindrücke und die unschätzbarste Förderung in aller künstlerischen Bildung empfing, verschlossen.
Seine anima candida war ganz frei von Neid und Eifersucht. Sein Lebenlang hat er mit brüderlicher Wärme zu mir gestanden und mir noch durch die Widmung seiner zweiten Gedichtsammlung, der »Geschichten und Gestalten« (Hamburg, 1862), bewiesen, daß er der Jugendfreundschaft Treue gehalten.
Im Jahre 1857 erschienen seine »Gedichte«, »den deutschen Männern Ernst Moritz Arndt und Ludwig Uhland« gewidmet. Bald nach dem Revolutionsjahr hatte sich der junge Student nach Schleswig-Holstein gewendet, wo er zunächst eine Hauslehrerstelle fand. Als dann der Streit mit Dänemark ausbrach,[74] konnte ihn nichts zurückhalten, sich als Freiwilliger im zweiten Jägerkorps am Kampf zu beteiligen, und er war glücklich, als er bei Idstedt eine leichte Kopfwunde erhielt1. Das »Buch der Erinnerung«, das er unter dem Titel »Von einem verlorenen Posten«, Herzog Ernst II. gewidmet, im Jahre 1857 herausgab, zeugt auf allen Blättern von dem stürmischen Mut und feurigen Freiheitsdrang, der ihn beseelte.
Er hatte an einer Hamburger Schule eine Stellung gefunden, die seinen Wünschen und Fähigkeiten entsprach. Als die Stadt Hamburg mit großer Begeisterung 1859 ihr Schillerfest feierte, war Bernhard Endrulat die Seele der gesamten Bewegung. In einem stattlichen Bande hat er darüber berichtet. Was er selbst an poetischen Reden und Prologen dazu beigesteuert hat, entbehrt freilich alles eigenartigen Reizes und bleibt hinter vielem zurück, was in seinen anderen Gedichten von seiner schwungvollen dichterischen Beredsamkeit Zeugnis gibt. Wie reich und voll strömt diese gleich in dem Prolog zu den »Gedichten«, in welchem er seine Hingebung auf Gnade und Ungnade an die Poesie, die bestrickende »Meeresfei«, in dithyrambischer Ekstase ausspricht:
Schiffe fahren, Segel schwellen, und sie singt in sel'ger Ruh.
Kluge, nüchterne Gesellen stopfen sich die Ohren zu,
Steuern ängstlich nach der kargen, klanglos-kalten Heimat fort,
Bebend vor den himmlisch-argen Liedern und den Strudeln dort.
Aber ich – mit festem Steuer zu den Klippen streb' ich hin,
Meine Augen füllt ein Feuer, Licht und Wonn' ist all mein Sinn.
[75] Mein verklärtes Antlitz lächelt nach dem lichten Götterbild,
Luft wie Frühlingsodem fächelt Herz und Stirne kühl und mild.
Mahnet nicht, ich soll erwachen aus dem schauersüßen Wahn:
Seht, schon langt der schwanke Nachen bei dem schwarzen Schlunde an,
Und die Zaubrin hör' ich singen, und sie leuchtet rosenrot,
Und mit Singen und mit Klingen stürz' ich in den sel'gen Tod!
Nicht alles in den beiden lyrischen Bänden ist auf diesen pathetischen Ton gestimmt. In buntem Wechsel, in den mannigfaltigsten Formen ziehen die inneren Erlebnisse, Stimmungen und Betrachtungen des Dichters vorüber, vieles so sinnig im Gedanken, so glücklich im Ausdruck, daß es sich neben dem Besten in Geibels Gedichten sehen lassen kann. So unter anderem die Antwort auf die Frage:
Nach jahrelangem Ringen,
Nach schwerem Lauf ein kümmerlich Gelingen,
Auf greise Locken ein vergoldend Licht,
Ein spätes Ruhen mit gelähmten Schwingen –?
Das ist es nicht.
Kein Werben, kein Verdienen!
Im tiefsten Traum, da ist es dir erschienen,
Und morgens, wenn du glühend aufgewacht,
Da steht's an deinem Bett mit Göttermienen
Und lacht und lacht!
Oder ein nachdenkliches Sprüchlein, wie das folgende:
Hüt dich vor Wünschen, Menschenkind!
Die guten flattern fort im Wind,
Und keiner ist, der taubenfromm
Zurück mit grünem Ölblatt komm'.
Die schlimmen hascht der Teufel ein
Und stutzt nach seinem Sinn sie sein,
Erfüllt sie dir zu Leid und Last,
Wenn du sie längst bereuet hast.
[76]
Und doch, so vieles ich noch anführen könnte, des alten Freundes Talent und adlige Gesinnung zu erweisen, – sein Name ist so gut wie vergessen. In dem Piererschen Konversationslexikon ist ihm freilich ein Artikel von fünfundzwanzig Zeilen gewidmet, doch seine dort aufgezählten Schriften sind verschollen, und nur ein oder das andere seiner kleinen Lieder begegnet uns hin und wieder in einer Chrestomathie.
Denn so rüstig er sich im äußeren Leben zum Manne entwickelt hat – als Dichter ist er über den Jüngling nicht hinausgekommen. Das allein freilich würde nicht erklären, warum er nicht mitgenannt wird, wo man die besten Namen nennt. Ist doch gerade die Jugendzeit für den echten Lyriker die Zeit der schönsten Blüte, und mancher früh Dahingeschiedene lebt im ewigen Gedächtnis der Nachwelt. Solchen Auserwählten aber war es gegeben, früh einen eigenen Ton zu finden, die persönlichen Züge ihres Wesens so deutlich auszuprägen, daß keine Zeit sie verwischen kann. Einem Hölty, Theodor Körner, Hölderlin, Shelley ist dies zuteil geworden. Den Gedichten meines Jugendfreundes fehlte die persönliche Note, die seine Stimme im Geräusch der Welt erkennbar gemacht hätte. Auch in seiner geistigen Entwicklung ist er bei den Anschauungen und Ideen der achtundvierziger Tage stehen geblieben. Als er mich im Juli des Jahres 1858 in meiner Ebenhausener Sommerfrische besuchte, fand ich auch in dem gesetzten, etwas feierlich auftretenden Manne die alte Wärme der Empfindung wieder. Doch nachdem wir unsere Jugenderinnerungen ausgetauscht hatten, stockte es zwischen uns. Wir fühlten beide, daß wir uns eigentlich nichts mehr zu sagen hatten.
* * *
Nach dieser Abschweifung, die man der Pietät für einen verschollenen alten Freund zugute halten wird, kehre ich zu der Zeit zurück, wo mir durch den Eintritt in das Kuglersche Haus im eigentlichsten Sinne eine vita nuova aufging.
Der Hausherr selbst, 1808 in Stettin geboren, stand damals in der Vollkraft seiner wissenschaftlichen Lebensarbeit und als vortragender Rat im Kultusministerium auf der[77] Höhe seiner Wirksamkeit auf vielen Gebieten künstlerischer Kultur, da sein Chef, der Minister von Ladenberg, ihm das größte Vertrauen in seine Einsicht und Redlichkeit bewies. Neben der Vollendung und immer neuen Bearbeitung seiner bahnbrechenden kunstgeschichtlichen Werke, neben den Aktenstößen, die sich auf seinem Pulte häuften, fand aber der so vielfach Begabte noch Zeit zu dichterischen Aufgaben, und dieser unwiderstehliche Nebentrieb seiner Natur war es auch gewesen, was ihn mit dem um sieben Jahre jüngeren Geibel zusammengeführt hatte.
Mit anderen künstlerischen Gefährten, darunter vor allen dem Malerdichter Robert Reinick, dem Architekten Strack, dem Bildhauer Drake, hatte Kugler schöne Lehr- und Wanderjahre genossen und in den verschiedensten Künsten sich versucht. Er zeichnete, radierte, sang, blies das Waldhorn, komponierte Lieder im Volkston, die er selbst gedichtet hatte. Eine Frucht dieser romantischen Jünglingszeit war das im Jahre 1830 erschienene »Skizzenbuch«, das seine ersten Gedichte enthielt, mit eigenen, zum Teil phantastischen Radierungen illustriert und mit den Noten seiner eigenen Kompositionen begleitet. Sein allbekanntes »An der Saale hellem Strande« erschien hier zum erstenmal, mit einer Zeichnung der alten Rudelsburg. Ein so vielseitiges Talent lief Gefahr, sich in dilettantischem Selbstgenuß zu verzetteln. Aber der redliche Ernst, der im Grunde seines Charakters lag, bewahrte ihn vor dem Schicksal, aus so vielen fröhlichen Blüten keine dauernde Frucht zu gewinnen. Er sammelte seine Kräfte zu gründlichen Studien der Kunstgeschichte, einer Wissenschaft, die damals noch in den Windeln lag, und um deren rasches Aufblühen er im Wetteifer mit seinem Freunde Karl Schnaase sich ruhmvoll verdient machen sollte.
Über die Ergebnisse seiner Forschung, die in einer großen Reihe umfangreicher Bände niedergelegt sind, ist die Wissenschaft seitdem vielfach hinausgegangen, manches berichtigend und nach neueren Quellen ergänzend. Dennoch sind diese Bücher in ihrer ersten Form wertvolle Zeugnisse geblieben, wie sich die Fülle der Erscheinungen in einem ungewöhnlich[78] künstlerisch begabten Geist gespiegelt und einen glücklich bezeichnenden Ausdruck gefunden hat.
Als ich ihn kennen lernte, war Kugler mit der Ausarbeitung seiner »Geschichte der Baukunst« beschäftigt. Zur Übung in seinen geliebten freien Künsten ließ dies große Werk ihm kaum noch Zeit, es sei denn, daß er einzelne architektonische Illustrationen selbst radierte und abends zum Klavier eines seiner alten Lieder sang oder den stattlichen Band hervorholte, in welchem er aus dem Schatz der Volkslieder aller Nationen die charakteristischsten gesammelt hatte. Aber die poetische Ader war zu stark in ihm, um sich lange unterbinden zu lassen. Die Tage der Lyrik waren freilich vorüber. Er trug sich dagegen mit einer Fülle von Plänen zu historischen Dramen und Novellen, deren Ausführung durch das ganze nächste Jahrzehnt eifrig betrieben wurde, und über die er mit Freund Emanuel und bald auch mit mir auf weiten Spaziergängen sich auszusprechen liebte.
Wie oft holte er mich aus meiner Wohnung in der Behrenstraße ab, um durch den Tiergarten, am »Knie der Frau Crelinger« vorbei (so hieß bei den Berlinern die Villa der berühmten Schauspielerin, die an der Charlottenburger Chaussee gerade da gelegen war, wo die Straße im rechten Winkel abbog) bis zum »Türkischen Zelt« mit mir zu wandern. Dort rasteten wir ein wenig bei einer Flasche – Limonade Gazeuse! und traten bald den Heimweg nach dem Hallischen Tore an. Was wurde auf diesen traulichen Wanderungen nicht alles besprochen, wie oft auch lange Zeit geschwiegen! Dann kam es wohl vor, daß Franz eine Melodie pfiff, die ihm eben eingefallen war, zu der ich dann ebenso den Text aus der Luft griff. Das hernach so oft komponierte Lied »Waldesnacht, du wunderkühle« entstand auf diese Art zu einer feierlich getragenen, für ein Waldhorn passenden Melodie, deren träumerischer Klang von keinem der späteren Komponisten erreicht worden ist. Zuweilen auch kehrte sich das Verhältnis um; was ich in den Tag hineinsang, regte ihn an, einen Text dazu zu verfassen, womit wir dann abends am Klavier den Frauen etwas zu raten aufgaben.[79]
Das Kuglersche Haus war damals der Sammelpunkt eines ganzen Schwarms aufstrebender junger Leute, die sich freudig als seine Schüler bekannten. Der bedeutendste darunter, Jakob Burckhardt, geboren 1818, konnte schon für einen jungen Meister gelten und stand dem älteren Freunde mit eigenem Urteil und einer Fülle auf eigene Hand erworbener Kenntnisse zur Seite, so daß Kugler ihm die Bearbeitung der zweiten Auflage seiner »Geschichte der Malerei« anvertrauen konnte, für die Burckhardt aus frischen eigenen Studien in Italien ein großes Material der wertvollsten Notizen gesammelt hatte. Noch ahnten wir nicht, zu welch beherrschender Stellung in der Geschichte der Kunst und Kultur der damals Neunundzwanzigjährige, der mit seiner heiteren Feinheit, seiner poetischen und musikalischen Begabung den häuslichen Kreis belebte, schon im Lauf der nächsten Zeit sich emporschwingen sollte. Damals sah er mit bescheidener Unterordnung zu dem älteren Meister und Freunde auf, ließ sich geduldig von Tante Luise abkonterfeien und sang, wenn er darum gebeten wurde, zum Klavier seine italienischen Volkslieder mit einer zarten, seelenvollen Stimme. Daß in ihm selbst ein Lyriker steckte, der sich wahrlich sehen lassen konnte, wenn er auch die Tarnkappe vorzog, hatten wir an den beiden anonym gedruckten dünnen Heftchen »Ferien, eine Herbstgabe« und »E Hämpfeli Lieder« erkannt, die letzteren, das Lieblichste, was je im Basler Dialekt gedichtet worden, mir heute noch unvergeßlich. Auch er war mit Geibel herzlich befreundet, wärmer und dauernder als mit den anderen jungen Hausfreunden: Fritz Eggers, der jahrelang das Kunstblatt redigiert und durch seine Rauchbiographie sich um die moderne Kunstgeschichte verdient gemacht hat, Wilhelm Lübke, der der Kunstgeschichtsforschung durch eine unermüdliche literarische Betriebsamkeit Eingang in den weitesten Kreisen verschaffen sollte, dem genialen Architekten (unter anderem Erbauer des Frankfurter Theaters) Richard Lucae, Theodor Fontane und Andere. Adolf Menzel, der damals schon Kuglers »Geschichte Friedrichs des Großen« durch seine herrlichen Illustrationen verewigt[80] hatte, stand diesem Kreise persönlich ferner, bei dessen geselligen Abenden man ihm kaum einmal begegnete.
Was aber die verschiedenen Elemente dieser Schülerschaft anzog und zusammenhielt, fast mehr noch als die unermüdliche, immer mit Rat und Tat hilfsbereite Güte des Meisters, waren die liebenswürdigen Frauen und Mädchen, die der zwanglosen Geselligkeit des Kuglerschen Hauses einen unwiderstehlichen Reiz verliehen. Vor allen anderen die Hausfrau selbst, eine Tochter Eduard Hitzigs, der selbst noch, als ein gebrochener alter Mann, im Erdgeschoß seines Hauses an der Friedrichsstraße 242 vegetierte und seinen Lehnstuhl nie verließ, um in die obere Wohnung der Tochter hinaufzusteigen. Er freute sich aber ihres Glückes, des wachsenden Ansehens ihres Gattens, der drei lieben Kinder, die sie ihm geboren hatte, und dann und wann wünschte er auch einen der jungen Hausfreunde bei sich eintreten zu sehen. Seine Erinnerungen an die eigenen berühmten Freunde, E.T.A. Hofmann, Zacharias Werner, vor allem den edlen Chamisso, bildeten dann das Thema des Gesprächs.
In solcher Umgebung war Franz Kuglers Frau aufgewachsen, ein Poetenkind, an dessen Wiege Dichter gestanden hatten. Auch ihr Vater, der alte »Ede«, hatte sich als Dichter versucht. Sie selbst aber hatte von dem Kastalischen Quell, der durch ihr väterliches Haus rauschte, nur so viel gekostet, um ihren Sinn für alle Schönheiten der Dichtung zu läutern und den Instinkt für das Echte und Große in sich zu befestigen. So bewegte sie sich anspruchslos auch unter der künstlerischen Jugend, auf die der Adel ihrer ernsten Schönheit und die weibliche Milde ihres Wesens einen Zauber ausübten, wie ihn ihr Bräutigam in dem Gedicht
Du bist wie eine stille Sternennacht
und späterhin Geibel bei der Widmung seiner Gedichte geschildert hatte:
Du aber wandelst durch den Garten
In stiller Anmut lächelnd hin.
[81]
Neben ihr, in vielem ihr voller Gegensatz, stand Kuglers Schwester Luise, äußerlich ohne jede Anmut, mit lebhaften, derben Bewegungen ihre Reden begleitend, eine echt pommersche Frohnatur, dabei mit einem zarten Sinn für alles Künstlerische begabt, wie sie es denn auch im Blumenmalen und Dekorieren von Kunstblättern zu nicht geringer Fertigkeit gebracht hatte. Sie wohnte mit ihrer trefflichen, alten Mutter in einem Hause, das dem Hitzig-Kuglerschen gerade gegenüberlag, brachte all ihre Abende in der brüderlichen Familie zu, vergötterte die Kinder, tat der Schwägerin alles Liebe und Gute an und nahm an den poetischen Gastgeschenken, die die Hausfreunde lieferten, begierig teil, einen nach dem andern im Profil in ihr Album zeichnend. Alle liebten sie und verkehrten, beim größten Respekt vor der Grundliebenswürdigkeit und Tüchtigkeit ihres Naturells, weit zwangloser mit »Tante Ihßy« als mit der Herrin des Hauses.
Außer ihr gingen noch andere anziehende weibliche Gestalten in den großen, niedrigen Mansardenzimmern der Frau Klara aus und ein, zunächst die Töchter ihres Schwagers, des Generals Baeyer, der den ersten Stock des Hauses bewohnte. Seine Gattin, Eugenie, von deren Schönheit Alle, die sie gekannt hatten, nicht genug zu sagen wußten, war schon vor einigen Jahren gestorben. An den verwaisten fünf Kindern vertrat Frau Klara neben einer alten Gouvernante Mutterstelle. Auch diese Mädchenjugend war unter künstlerischen Einflüssen aufgeblüht, die zweite Tochter, Emma, die später mein Freund Otto Ribbeck heimführte, schon über das Backfischalter hinaus, dem Kuglers Töchterchen Margarete in kurzen Röcken und wehenden Haarschleifen als ein übermütiges Schulkind noch angehörte. Eine schöne, blonde Nichte Kuglers, Klara Wulsten, lebte zu verschiedenen Malen längere Zeit unter ihrem Dache, und an reizenden jungen Freundinnen war kein Mangel.
Hiernach wird man begreifen, daß ein siebzehnjähriger Student, dem der Eintritt in dieses Haus gestattet wurde, sich die Pforten des Paradieses eröffnet zu sehen glaubte. Zudem war es noch die gute alte Zeit des Berliner Lebens,[82] in der die engeren Verhältnisse, die bescheidneren Sitten der Stadt, die noch nicht davon träumte, als Weltstadt zu gelten, jenen anspruchsloseren Zuschnitt der Geselligkeit begünstigten, der allein ein wärmeres Zusammenschließen der Menschen möglich macht und heutzutage schon wegen der räumlichen Weitläufigkeit des Verkehrs fast ganz geschwunden ist. Man durfte noch ungeladen an eine gastliche Tür anklopfen, ohne die Hausfrau in Verlegenheit zu setzen. Wenn der unvorhergesehenen Gäste einmal so viele wurden, daß das Wohnzimmer wie ein gefüllter Bienenkorb schwärmte, – für die Bewirtung mit Tee, Butterbrot und kalter Küche reichte der häusliche Herd immer noch aus, da niemand kam um eines Soupers willen, sondern um unter liebenswürdigen Menschen ein paar Stunden lang plaudernd und scherzend sich's wohl sein zu lassen.
Nun aber wäre nichts irriger, als zu glauben, daß solche Abende sich zu Sitzungen einer kleinen privaten Kunstakademie gestaltet hätten. So wenig der bekannte scharfe, kritische Ton, der in gewissen ästhetisch angehauchten Berliner Salons vorherrschte, hier angeschlagen wurde, so wenig war es auf ein beständiges Besprechen poetischer oder kunsthistorischer Themata abgesehen. Und dies war nicht zuletzt das Verdienst des Hausherrn, der, ehe er abends zu den Seinigen kam, den Professor- und Geheimratsrock in seinem Arbeitszimmer auszog und in ein bequemes Hausvaterkostüm schlüpfte. Wenn ihm Fernerstehende eine gewisse Steifheit und ablehnende Kälte nachsagten, berührten sie damit sein eigentliches Wesen so wenig wie die Berichte aus Weimar über Goethe von solchen, die in dem großen Dichter nur den Minister gefunden haben wollten. Seine scheinbare Geheimrätlichkeit entsprang nur aus einer Art Zerstreutheit und naiver Unbekümmertheit um den Eindruck, den er auf fremde Menschen machte, aus einer nachlässigen, poetischen Träumerei, in der er von seinen sehr energischen Arbeiten ausruhte. So konnte er auch unter uns jungen Leuten lange stumm dasitzen, nur mit seinen freundlichen Mienen unsere zwanglosen Scherze oder ernsten Debatten begleitend. Dann stand er wohl endlich auf, wenn die[83] Frauen »ein Lied für das Gemüt« von ihm verlangten, und sang ein paar Eichendorffsche Lieder in seiner eigenen einfachen Melodie oder spanische und italienische Volksweisen, zu denen er die Worte gedichtet hatte, und die wir nicht müde wurden immer von neuem zu hören.
* * *
Jenes erste Jahr aber, das ich in dem traulichen Hause verleben durfte, stand fast ausschließlich unter dem Zeichen Geibels.
Er war damals besonders produktiv und bereitete die Herausgabe seines zweiten Bandes, der »Juniuslieder«, vor, die im folgenden Jahr erschienen. Ich habe diese Juniuslieder stets für die reifste und reichste dichterische Gabe gehalten, die Geibel seinem Volke beschert hat. Alle Töne, über die seine Leier gebot, sind hier voll und rein angeschlagen: neben der zarten, süßen Naturempfindung und den Liebesliedern, die seinen ersten Band fast ausschließlich gefüllt hatten, erklingen die zornigen und weihevollen Töne, mit denen er Deutschlands politische Kämpfe begleitete, jene Seherworte, in denen er schon damals seinen unerschütterlichen Glauben an die Wiederkehr der alten Kaiserherrlichkeit aussprach, als wir alle noch eine Erhebung und Einigung Deutschlands in dieser Form für einen Traum mittelalterlicher Dichterphantasie hielten.
Durch tiefe Nacht ein Brausen zieht
Und beugt die knospenden Reiser.
Im Winde klingt ein altes Lied,
Das Lied vom deutschen Kaiser.
Wie männlich klar und bei aller feierlichen Wucht doch maßvoll erhebt er seine Stimme für die damals heiß umstrittenen Herzogtümer, wendet sich gegen die »Kleingläubigen«, die in den Stürmen der Zeit den herannahenden Untergang ahnten, und träumt von glücklicheren Tagen, »wo die Christen Menschen werden«. Mögen manche dieser Lieder in der Form den Einfluß der Freiligrathschen Lyrik verraten und die markigen[84] Sonette an Rückerts »geharnischte« erinnern: der Gehalt in ihnen ist sein eigen, und immer muß es ihm zum Ruhm angerechnet werden, daß er in dem tosenden Hader der Parteien fortfuhr, auf die Stimme seines Genius zu horchen, um sich von seinem Wege weder rechts noch links abdrängen zu lassen. Durch alle diese eifernden und dräuenden, klagenden und anklagenden Herzensergüsse klingt immer wieder der zuversichtliche Glaube an den endlichen Sieg dessen, was ihm das Höchste war: die Befreiung seines Volks von allem Druck, aller Schmach, unter denen es gelitten.
Es ist ein großer Maientag
Der ganzen Welt beschieden.
Und wenn dir oft auch bangt und graut,
Als sei die Höll' auf Erden,
Nur unverzagt auf Gott vertraut,
Es muß doch Frühling werden!
Neben so bedeutsamen Offenbarungen seines Innern stehen liebenswürdige Gelegenheitsverse, in denen er seine Freunde anredet, allerlei Humoristisches, Gnomen und Sprüche voll Geist und Gemüt, zum Schluß die schöne, kleine, epische Dichtung »König Sigurds Brautfahrt«, im musterhaftesten Stil des alten Nibelungenepos. Alles in allem ein so gehaltvoller, reicher und farbenfrischer Gedichtband, wie die achtundvierziger Zeit nichts Ebenbürtiges ihm an die Seite zu stellen hatte.
Gleichwohl hatten die »Juniuslieder« nicht den Erfolg wie der erste Band der Gedichte. Zum Teil lag die Schuld wohl an dem Titel, der erst durch das Sprüchlein, das als Motto vorangesetzt war, erklärt wurde2. Weiß man doch, daß die große Menge gern sicher geht und ein einmal akkreditiertes Buch lieber verlangt als ein neues, das ihm unter einer problematischen Etikette angeboten wird. Diejenigen aber, deren[85] Amt es gewesen wäre, das Publikum darüber aufzuklären, daß der Dichter hier seine gepriesenen Erstlinge überboten habe, die Wortführer in der Presse hatten anderes zu tun. Es galt, leidenschaftlicheren Vorkämpfern der »Freiheit« zuzujubeln, solchen, die »auf der Zinne der Partei« standen. Emanuel Geibel, der zum Maßhalten ermahnte, konnte man den Backfischen überlassen, deren Dichter zu sein er in heiterer Selbstironie gelegentlich einmal geäußert hatte. Es ist oft genug verhängnisvoll, eine nur in halbem Ernst gemeinte unterschätzende Selbstkritik offen auszusprechen, die dann gedankenlose oder übelwollende Kunstrichter begierig sich aneignen und für das Zeugnis tiefer Selbsterkenntnis ausgeben.
Im Sommer 1847 aber, wo die Gewitter, die sich im Revolutionsjahr über Frankreich und Deutschland entluden, nur erst von fern durch die gährende politische Schwüle sich ankündigten, hatte man noch für alles Poetische eine dankbare Empfänglichkeit. Es waren schöne Abende, wenn Geibel, der fast täglich im Kuglerschen Hause sich einfand, das schmale abgegriffene Taschenbuch hervorzog und das neueste Gedicht las, das ihm der Tag beschert hatte. Wir saßen in dem großen Wohnzimmer mit den drei tiefen Fensternischen um den runden Tisch, die Frauen mit einer Handarbeit beschäftigt, Luise Kugler ihr Zeichenbuch vor sich, während irgend einer der Anwesenden ihr sitzen mußte. Die Kinder hatten ihr Spielzeug weggeworfen und sich hochaufhorchend in die dunklen Ecken gekauert, um nicht zu früh zu Bett geschickt zu werden; alle, und nicht zuletzt die jungen Hausfreunde, hingen an den Lippen des Dichters, der, die Brauen zusammengezogen, heftig den Knebelbart zausend, mit seiner tiefen, eintönigen Stimme den »Morgenländischen Mythus« las –
Welch ein Schwirren in den hohen Lüften
Nächtlich überm Kaschmirsee! – Von Flügeln
Rauscht's, als kämpften droben Schwan und Rabe
Flatternd hin und her, und wundersame
Stimmen gehn dazwischen, scheltend, flehend;
Weithin trägt den Schall der Wind im Mondlicht. – –
[86]
Auf eine solche Vorlesung erfolgte nicht immer ein einmütiger Beifall. Zuweilen wagte sich auch eine kritische Stimme hervor, zumal wenn es ein dramatisches Fragment betraf, und auch wir Jüngeren faßten uns wohl ein Herz, mit einem Bedenken nicht zurückzuhalten. In der Regel nahm Geibel dergleichen Einreden mit guter Laune auf. Aber schon damals machte ihm das innere Leiden zu schaffen, das ihm durch sein ganzes Leben den freien Genuß des Daseins verkümmerte. Sein reizbares Temperament konnte dann heftig auflodern, und von den Lippen, denen eben noch die sanftesten lyrischen Töne entströmt waren, brachen dann Ausdrücke von so hanebüchener Art, wie sie eher einem hanseatischen Bootsmann als dem hochgestimmten Seher und Sänger geziemten. Besonders mit Luise, die ihm in ihrer pommerschen Naturfrische bei aller tiefen Bewunderung und warmen Freundschaft an derber Geradheit nichts nachgab, kam es hin und wieder zu einem leidenschaftlichen Disput, den er gelegentlich mit dem gut lübeckischen »Back di wat, Sela!« abschnitt, in hellem Zorn das Zimmer verlassend.
Er kam dann bald wieder sacht zu derselben Tür herein, die er so dröhnend zugeschlagen hatte, beugte vor der Gekränkten, ritterlich Abbitte leistend, ein Knie, oder zog sich mit einem Scherz aus der Affäre. Einmal unter anderem mit einem lustigen Gasel, dessen Kehrreimzeilen das schnöde Wort wiederholten:
Holde Künstlerin Luise: Back di wat!
Hör das Wort, das ich erkiese: Back di wat!
Bist du klug, so wählst du dir zum Wappenschild
Die Palett' und zur Devise: Back di wat!
Denn in diesen Silben schlummert Zauberkraft;
Keine Formel bannt wie diese: Back di wat!
Und des Westens Sänger müßten sie erhöhn,
Wie des Orients Hafise: Back di wat!
Hätt' es Adam einst zur Eva kurz gesagt,
Säß' er noch im Paradiese: Back di wat!
Und wir wandelten auf Blumen allzumal,
Statt zu gehn auf hartem Kiese: Back di wat![87]
Mancher Held, er ward ein Held nur durch dies Wort,
Das so gern ich würdig priese: Back di wat!
Zum Zyklopen sprach es leise schon Ulyss',
Flüsternd unterm Widderfliese: Back di wat!
Hannibal, der Alpenklettrer sprach's am Fels,
Und es barst der Alpenriese: Back di wat!
Cäsar, da sein Schifflein schwankte hoch im Sturm.
Rief: Du wiegst den Cäsar, Brise. Back di wat!
Jenen Fluten rief's entgegen, die er brach,
Camoens, der Portugiese: Back di wat!
Als sie schmachtend sich ihm nahte, sagte kühl –
Abälard zu Heloise: Back di wat!
Aber laut bei Roßbach donnert's König Fritz
In das Ohr Herrn von Soubise: Back di wat!
Ja, die Welt erobern müßte jener Held,
Welcher mit Trompeten bliese: Back di wat!
Im Marienbade friedlich singt's der Gast,
Singt's zu Karlsbad auf der Wiese: Back di wat!
Und sobald er ausgesungen seinen Spruch,
Naht die heißersehnte Krise: Back di wat!
Darum einen Tempel möcht' ich stolz dir baun,
Auf geschliffnem Marmorfliese: Back di wat!
Und mit goldnen Lettern überm Säulengang
Schreiben auf die breiten Friese: Back di wat!
Es war unmöglich, ihm länger zu grollen. In dem großen Zuschnitt seiner Natur verschwanden diese kleinen Menschlichkeiten, und je näher ich ihm kam, desto fester verband mich mit ihm das Gefühl einer dankbaren, brüderlichen Liebe und Treue. Auch seine dichterische Begabung imponierte mir je länger je mehr. Immer noch blieb ich mir bewußt, daß unsere Naturen zu verschieden waren, als daß ich einen tieferen Einfluß auf mein poetisches Trachten und Treiben von ihm hätte empfangen können. Und wenn
Ein jeglicher muß seinen Helden wählen,
Dem er die Wege zum Olymp hinauf
Sich nacharbeitet –
so war sein Weg nicht der meine. Aber in vollem Maße mußte ich den Adel seines Gemüts, das von aller Phrase weit abliegende[88] Pathos seiner Gesinnung und den Ernst seiner künstlerischen Selbstzucht anerkennen, dabei immer wieder die souveräne Herrschaft über alle Kunstmittel bewundern. Was er dichtete, reifte stets zu einem geschlossenen, in sich vollendeten Gebilde heran, dem es freilich vielfach an jener reizenden Unmittelbarkeit, den charakteristischen Zügen naiver persönlicher Eigenart fehlte, wie sie an den größten oder doch von mir geliebtesten Dichtern mir entgegentraten. Aber wenn sein Bestreben, alles auf den höchsten Ausdruck zu bringen, im Starken wie im Zarten jene scheinbar nachlässigen Naturlaute ausschloß, die ein lyrisches Gedicht als eine Offenbarung der Seele in unbewachten Augenblicken erscheinen lassen, so bewahrte doch der warme Pulsschlag seines Bluts sein Dichten vor der Erstarrung zu kühler akademischer Formschönheit. Je älter er wurde, desto deutlicher trat der priesterliche Zug seines Naturells hervor. Er fühlte sich mehr und mehr als der geweihte Mund, aus dem in ihrer feierlichsten Stunde die Seele seines Volkes sprach, und in den »Heroldsrufen«, die er in der glorreichsten Zeit der deutschen Kämpfe und Siege herausgab, sind Töne angeschlagen, wie sie vor ihm nur Klopstock, freilich oft schwülstig und gesucht, seiner Bardenharfe entlockt hatte.
Nicht minder erschien mir auch die strenge Selbstkritik verehrungswürdig, der er seine Dichtungen unterwarf, ehe er sie veröffentlichte. Seine »Sämtlichen Werke« umfassen nur acht Bände. Und doch, bei der Leichtigkeit, mit der er in Versen improvisierte, hätte er ihre Zahl unschwer auf das Doppelte bringen können. Sein feines künstlerisches Gewissen bewahrte ihn davor, dies Phantasieren auf einem immer bereiten, wohlgestimmten Instrument für etwas Höheres zu halten als ein geselliges Talent. Wie manchen Abend aber hat er uns damit ergötzt!
Die Kinder wurden längst zu Bett gebracht,
Zu scheiden mahn't auch uns die Mitternacht.
Doch zwischen Tür und Angel, schon im Gehn,
Blieb er in plötzlicher Erregung stehn
Und wand uns aus dem Stegreif eine Kette
Melodischer Oktaven und Sonette,[89]
Elegisch bald, bald humoristisch endend,
Aus seinem Füllhorn unerschöpflich spendend,
Daß der sonoren Verse Klang hinaus
Sich dröhnend schwang und unten vor dem Haus
Ein später Wandler stehen blieb und lauschte,
Was für ein Spuk da oben raunt' und rauschte.
Diese Gabe ist ihm allezeit treu geblieben. Noch in der späteren Münchener Zeit, als sein körperliches Leiden ihn oft schwer verdüsterte, konnte er bei einer Flasche edlen Weins, wenn die Freunde ihn dazu anreizten, sich in die alte Stegreiflaune zurückfinden. Es gab dann zuweilen ein lustiges Wettsingen, zumal zwischen ihm und Dingelstedt, der nicht in lyrischem Pathos, sondern mit scharfgeschliffenen, witzigen Vierzeilen Geibel herausforderte, ihn aber so schlagfertig fand, daß auch er zuletzt den Meister in ihm erkennen mußte.
* * *
Hier nun habe ich noch eines anderen literarischen Kreises zu gedenken, von dem ich vielfache Förderung genoß, der literarischen Gesellschaft, die unter dem Namen des »Tunnels über der Spree« sich allsonntäglich ein paar Nachmittagsstunden in einem Café hinter der katholischen Kirche versammelte, eigene dichterische Arbeiten sich vorzulesen und darüber ernsthaft zu Gericht zu sitzen.
Theodor Fontane hat in seinen liebenswürdig hingeplauderten Lebenserinnerungen auch dem Tunnel ein anziehendes Kapitel gewidmet. Ich kann mich daher an dieser Stelle einer ausführlicheren Schilderung dieser »Kleindichterbewahranstalt«, wie Geibel mit sehr ungerechtem Hohn den Tunnel nannte, enthalten und will Fontanes Darstellung gegenüber nur bemerken, daß ich von der Spannung und Spaltung der Mitglieder in zwei Gruppen, die er ausführlich bespricht, nie das geringste wahrgenommen habe. Im übrigen, so mancherlei Seltsames, Pedantisches und Unpoetisches auch mit unterlief – jeder, der es mit seiner künstlerischen Entwicklung ernst nahm, mußte den wohltätigen Einfluß dieser Genossenschaft dankbar anerkennen.[90]
In einem Kreise von zwanzig bis dreißig poesiebeflissenen Männern, die den verschiedensten Berufen angehörten, waren die wirklichen Talente natürlich in der Minderheit. Wenn es zur Abstimmung über vorgelesene Dichtungen kam, gab die Mehrheit der Dilettanten, unter denen es an biederen Philistern nicht fehlte, gewöhnlich den Ausschlag. Aber auch den Talentvollsten konnte daranliegen, das Urteil des gröberen »gesunden Menschenverstandes« zu erfahren, das er ja auch von dem großen Publikum zu erwarten hatte, und eine unschätzbare Abhärtung gegen törichtes Lob und verständnislosen Tadel wurde dem grünen Neuling zuteil, als der ich selbst, trotz meiner Jugend, durch Kugler eingeführt und freundlich aufgenommen wurde. Man weiß, daß niemand unter seinem bürgerlichen Namen Mitglied war, sondern jeder einen Tunnelnamen erhielt, der den Vorteil gewährte, daß alle Rücksicht auf Rang und Stand ferngehalten wurde. So scheute man sich nicht, da eine unbedingte Offenherzigkeit herrschte, einem Anakreon, Cook oder Lessing ins Gesicht zu sagen, was man dem Geheimrat A. oder dem Oberst N.N. gegenüber doch wohl für unschicklich gehalten hätte. Allen aber war es stets um die Sache zu tun. Und da bei der Umfrage nach einer Vorlesung jeder sein Urteil abgeben und begründen mußte, hatte diese schulmäßige Einrichtung zugleich den Vorteil, auch die Schüchternen in freier, zusammenhängender Aussprache über ästhetische Themata zu üben.
Man hatte mir, da ich ein sehr sentimentales, todesahnungerfülltes Gedicht vorgelesen hatte, den Namen Hölty gegeben. Ich zeigte bald ein anderes Gesicht mit minder elegischen Zügen und muß mich sogar anklagen, daß ich oft die Bescheidenheit vergaß, die meiner Jugend geziemt hätte, und dilettantischen alten Herren, von deren talentlosen Versen man billig überhaupt nicht viel Redens hätte machen sollen, rücksichtslos zu Leibe ging. Man verzieh mir aber dergleichen Unarten, da man meine raschen Fortschritte sah und sie zum Teil der erzieherischen Kraft des Tunnels zum Verdienst anrechnete. Und da ich die »Späne« Fontanes, Lepels, Scherenbergs und anderer wahrhaft Begabter mit großer[91] Wärme anerkannte, gewann ich gerade unter den Besten Freunde, denen ich durch mein ganzes Leben verbunden blieb.
Der bedeutendste von diesen und zugleich meinem Herzen der nächste war Theodor Fontane. Er war zehn Jahre älter als ich, ganz anderen Lebenskreisen entstammt, von etwas kühlem Temperament, in dem sich die Elemente des französischen Esprit und der deutschen, ausgesprochen märkischen Charakteranlage vereinigt fanden, zu einer Erscheinung von unwiderstehlicher Anziehungskraft. Die völlige Abwesenheit alles Gemachten, Konventionellen, die sich in seinem Bekenntnis, ihm fehle der Sinn für Feierlichkeit, aussprach, die helle Klugheit, mit der er Menschen und Dinge auf ihren letzten Gehalt zu beurteilen suchte, ohne sein eigenes Wesen weder zu überschätzen noch je zu verleugnen, dazu dichterische Töne des echtesten Klanges, die er auf verschiedenen Gebieten anzuschlagen wußte – dies alles erregte in mir eine hingebende Liebe und Bewunderung, die er, wie mir scheint, niemals so recht voll erwiderte, obwohl er von meinem Talent von Anfang an die beste Meinung hatte. Unsere Naturen waren allzu verschieden. Für das, was mir schon früh als das Höchste in Kunst und Poesie erschien, hatte er nur eine respektvolle Hochachtung, da er im Erhabenen, ohne sich darüber klar zu werden, stets etwas wie Pose witterte. Er hatte freilich nie den Einfluß der antiken Dichtung erfahren, da er in einer Gewerbeschule für den Apothekerberuf vorgebildet worden war. Auch als er gegen das achtundzwanzigste Jahr diese Fessel abschüttelte, sich ganz auf sein schriftstellerisches Talent stützend, fehlte unter den Bildungsstoffen, die er nach wie vor reichlich in sich aufnahm, unter anderm auch alles, was zu philosophischer Betrachtung der Weltprobleme anregen konnte. Dafür trat sein historischer Sinn immer stärker hervor, sein leidenschaftliches Interesse an merkwürdigen Zuständen und Gestalten einer nicht allzu entfernten Vergangenheit, vor allem neben den englischen an denen seiner Heimat, die er mit dem Auge des Dichters in voller Leibhaftigkeit heraufbeschwor und in festen Zügen vor uns hinzustellen wußte. Für die eigentliche Lyrik, wie er sie vor allem an Storm bewunderte,[92] fehlte ihm jede Begabung. Auch in seinen Herzensangelegenheiten, bei aller Echtheit der Empfindung, bewahrte er sich eine gewisse nüchterne Klarheit, die keinen Hauch von Traumstimmung oder dichterischer Überschwänglichkeit hatte.
Seine ersten Erfolge im Tunnel verdankte er den von Frische und Kraft strotzenden Gedichten auf die »Männer und Helden« der Zeit Friedrichs des Großen. Was auf dem Gebiet der bildenden Kunst den alten Schadow so groß gemacht hat und später in Menzel aufs Höchste gesteigert worden ist, ein idealer Wirklichkeitssinn, eine Verklärung des Nüchternen und zuweilen höchst Prosaischen, die wieder einen Eindruck hoher Kunst machen, den coin de nature, vu par un tempérament zu etwas unendlich Wertvollem erheben – vorausgesetzt, daß das Naturobjekt nicht völlig gleichgültig oder gar abstoßend ist, war auch Fontane eigen.
Wie hoch im Lauf der Zeit diese Kraft charakterisierender Darstellung selbst des Alltäglichsten bei ihm sich entwickelte, wie er insbesondere seinen Menschenblick schärfte, zeigen, um nur ein Beispiel anzuführen, die Porträts, die er von besonders interessanten und ihm nahestehenden Tunnelgenossen entwarf (»Von Zwanzig bis Dreißig«, S. 195–378). Da mir alle diese Charakterköpfe wohlbekannt sind, kann ich die Schärfe und Feinheit jedes Zuges beurteilen und neben der Richtigkeit der Auffassung die hohe Billigkeit im Urteil, die überlegene Sicherheit in der Verteilung von Licht und Schatten nicht genug bewundern. Dazu der von eigentlich literarischer Prätension vollkommen freie Stil, ein beständiges parlato, wie es auch in seinen von Witz und Ungebundenheit funkelnden Briefen so liebenswürdig erscheint, wenn auch zuweilen ein Berlinischer Bummelton durchklingt.
So hat er in diesen Konfessionen, in denen er auch seine Schwächen und Menschlichkeiten schonungslos preisgibt, neben der endlosen Reihe glänzender Porträtfiguren auch sein eigenes Bild treu nach dem Leben gezeichnet, und die wachsende Popularität, die seinem Namen zuteil geworden, heftet sich meines Erachtens noch mehr als an seine Werke an den unvergleichlichen Zauber seiner Person, der durch alles, was von intimen[93] Zeugnissen seines Lebens besonders auch in seinen Briefen nach und nach zum Vorschein kommt, an Wärme und Lebendigkeit immer noch zunimmt. Aus diesem Grunde werden auch seine Wanderbücher wohl unbestritten ihren Rang über allen ähnlichen »Reisebildern« behaupten, da die Figur des Dichters zwischen allem, was er sieht und erlebt, mit seinen hellen Augen und dem nie vordringlichen, stets aus der Sache entspringenden Humor ihren Reiz behalten wird.
Nichts Hochromantisches rings zu sehn,
Pappeln umschwirrt von Spatzen und Krähn,
Ein roter Kirchturm hin und wieder,
Ein Schloßdach dunkelt schwarz hernieder –
Dächer von Ziegel, Dächer von Schiefer
Dann und wann eine Krüppelkiefer,
Am trägen Flusse Schilf und Rohr,
Und am Abhang schimmern Kreuze hervor –
Ein Land, mit dem verwöhnte Touristen
Wohl nicht viel anzufangen wüßten,
Das leibt und lebt so frisch und echt,
Spricht seine Sprache schlecht und recht;
Ist nichts so groß und nichts so klein,
Der Dichter schließt's in sein Herz hinein,
Und wie er geliebt, was er geschrieben,
So müssen wir's nun wieder lieben3.
Diese beiden Gaben, die er im höchsten Maße besaß, scharfe Beobachtung des Lebens und die Fähigkeit, das Erlebte und Geschaute in reizvoller Lebendigkeit darzustellen, kamen ihm auch für seine Romane und Novellen zustatten, so daß er bald nach seinen ersten noch etwas tastenden Schritten zu einer führenden Stellung unter den zeitgenössischen Erzählern gelangte und heute als das glänzendste Talent der neuen realistischen Schule anerkannt wird.
Hier aber gingen unsere Wege auseinander. Da ich von einem novellistischen Kunstwerk oder einem Roman einen höheren Begriff hatte, als daß es sich dabei nur um eine interessante[94] Darstellung des vielgestaltigen Menschenlebens handle, um gut erzählte Geschichten, wie sie eben in buntem Wechsel sich oft zu ereignen pflegen, nicht um bedeutende Fälle sittlicher oder geistiger Konflikte, in denen wir daran teilnehmen, wie sich irrende und strebende Sterbliche mit ihren größeren oder kleineren Schicksalsaufgaben abfinden, konnte mir eine Dichtung nicht genügen, der jeder coin de nature gleich wertvoll war, wenn er nur Gelegenheit bot, von irgend einer malerischen Seite aufgefaßt zu werden. Das Gemeine wurde als ebenso wichtig, wie das Edle, das Alltägliche so berechtigt zur Schilderung, wie das Seltene und Bedeutende betrachtet, das Kranke und Abstoßende sogar gegenüber dem Gesunden und Erquicklichen bevorzugt, da es an pathologischem Reiz diesem überlegen war. Fontane kannte unser Berlin in all seinen Schichten, von den obersten Regionen der Junker, Geheimräte und hohen Offiziere bis in die untersten Volksklassen, wußte um ihre Sitten und Unsitten Bescheid und beherrschte meisterhaft ihren Jargon. Sie so zu schildern, wie sie waren, mit einem neutralen kühlen Interesse an den verschiedensten Modellen, war sein Talent und sein einziger Ehrgeiz. Während man dem Erzähler folgte, war man im Bann seiner großen plastischen Kunst, seines Humors und der Echtheit eines jeden Zuges. War er zu Ende, so fühlte man, daß all seine Kunst nichts Bleibendes, Nachwirkendes in der Seele zurückgelassen, da keine tiefere Idee – wenn das von den Naturalisten belächelte Wort hier einmal gebraucht werden mag – die Handlung zu einer Art organischer Einheit zusammengefügt hatte. Alles war damit erschöpft, daß man wieder einmal davon Zeuge gewesen war, wie es eben in der Welt zuzugehen pflegt.
Um diese Sätze durch ein Beispiel zu illustrieren, will ich an eine Novelle erinnern, die für die Mängel und Vorzüge des Fontaneschen Naturalismus typisch ist.
Sie schildert ein Liebesverhältnis zwischen einem jungen adligen Offizier und der hübschen Tochter aus einer Gärtnerfamilie. Die Eltern haben gegen dies aussichtslose Verhältnis nichts einzuwenden, der vornehme Liebhaber imponiert ihnen, sie gönnen dem Mädchen die heimlichen Freuden dieses Umgangs.[95] Eine Landpartie an heiterem Sommertag wird ausführlich geschildert, mit aller Anmut, die dem Erzähler eigen ist. Die Umgebung, die reizende Abgeschiedenheit, das Glück des Paars tritt in bezaubernder sinnlicher Gegenwart vor unser Auge. Eine tiefere Empfindung wird dadurch nicht geweckt. Weder der junge Baron noch das Gärtnerskind haben sich selbst oder uns irgend etwas zu sagen, was über das Alltäglichste hinausginge, sie sind beide völlig unbedeutende Naturen, an denen nur die Jugendfrische und äußere Gestalt anziehend erscheint, eine Art beauté du diable.
Und diese vergeht auch bald nach diesem Tage, den wir miterlebt haben. Das flüchtig angeknüpfte Verhältnis wird ebenso rasch, wie es geschlossen war, gelöst, ohne großes Herzweh zu hinterlassen. Mein Gott, eine Liebschaft zwischen einem Offizier und einem Mädchen niederen Standes ist ja so etwas Alltägliches! Aber wenn ein Dichter dieses tausendfach sich ereignenden Falles sich bemächtigt, erwarten wir, daß es nicht bei der Konstatierung der Tatsache bleibe; daß noch irgend etwas geschehe, was diesen Fall interessanter mache, als tausend ähnliche, ihm einen gewissen sittlichen Wert verleihe. Beide haben nach der Trennung geheiratet, der Baron ein Fräulein seines Standes, das er nicht sonderlich liebt, das Mädchen einen widerwärtigen Menschen, gegen den sie sogar einen stillen Abscheu empfindet. Sie wünschte eben versorgt zu werden. Aber jetzt – jetzt wird doch noch etwas kommen, ein Wiedersehen wird irgendwie stattfinden und vielleicht sogar eine Katastrophe herbeiführen, bei der es zu irgend einem Konflikt käme? Die eigentliche Novelle wird jetzt erst beginnen und zu irgendwelcher Höhe gelangen? Nichts derart! Denn in der Wirklichkeit pflegt es dabei zu bleiben, daß eine solche Liebschaft keine Fortsetzung hat, es sei denn eine natürliche »Folge,« die ebenfalls auf die gewohnte alltägliche Weise abgefunden wird.
Wie aber stimmt nun mit dem höchst einfachen Verlauf dieser Geschichte der Titel »Irrungen, Wirrungen«, ein Titel, der durch nichts in der Erzählung gerechtfertigt wird. Alles verläuft ja ganz regelrecht, keine der Personen irrt sich in[96] der andern, und von einem Wirrsal, das zu lösen wäre, ist keine Rede. Nur der Leser irrt sich, wenn er eine Vertiefung des Stoffes erwartet, die der Dichter ihm schuldig geblieben ist!
* * *
Von dieser langen Abschweifung kehre ich zum Tunnel zurück.
Was Fontane dort zum besten gab, ließ seine spätere Entwicklung nicht ahnen, so daß auch ein künstlerischer Gegensatz zwischen uns sich nicht von fern ankündigte. Ich war sehr angetan von seinen Balladen, die zwar fühlbar durch Percys relics of ancient poetry beeinflußt waren, doch auch oft weit über deren chronikartigen Stil hinausgingen. Ich erinnere nur an den herrlichen Archibald Douglas, das Kleinod aller deutschen Balladenpoesie.
Was mich selbst betrifft, so brachte ich im Tunnel 1851 meine erste Novelle »Marion« und die Erzählung in Versen »Die Brüder«, die bei der ausgeschriebenen Doppelkonkurrenz für die beste Erzählung in Prosa und Versen beide den Preis erhielten. Ich verhehlte mir nicht, daß hier, wie bei dem Eindruck alles Künstlerischen auf jedes Publikum, der Wert und Reiz des Stoffes den Ausschlag bei der Beurteilung gegeben hatte. Doch war ich sehr glücklich und von da an, da ich mir nun die Ziele immer höher steckte, vor jeder Überhebung bewahrt.
Bald nachher sollte ich noch bei einer anderen Preisbewerbung als Sieger hervorgehen.
Im Berliner Zoologischen Garten war ein Bär gestorben, den man, um eine Staarbildung auf seinen Augen zu operieren, chloroformiert hatte. Die Operation war auch gelungen, der Patient aber aus der Narkose nicht wieder aufgewacht. Dieses Ereignis hatte unser Tunnelmitglied, der Bildhauer Wilhelm Wolff, der sich besonders durch Skulpturen aus dem Tierreich auszeichnete, in einer humoristischen kleinen Gruppe verewigt. Der selig entschlafene Bär ruht, das schwere Haupt auf die rechte Schulter herabgesunken, von verschiedenen Ärzten in Tiergestalten umgeben, zu seinen Füßen sein kleiner Sohn, der[97] die Tatzen vors Gesicht hält, auf der andern Seite ein ironisch lächelnder Fuchs, hinter dem Toten ein Widder als Famulus mit der Chloroformflasche.
Das lustige Bildwerkchen sollte in Bronze gegossen und mit einer Inschrift versehen werden, zu deren Abfassung der Künstler einen Wettbewerb im Tunnel ausschrieb. Preis: ein Abguß der Gruppe.
Die Verse, mit denen ich siegte, sind mehrfach ungenau zitiert worden, so daß sie hier im richtigen Wortlaut stehen mögen
Der Bär ist nun ein stiller Mann,
Das Chloroform ist schuld daran.
Ein ärztliches Kollegium
Ging mit dem Tier zu menschlich um.
Das Füchslein grinst, das Bärlein flennt,
Der Wolff setzt' ihm dies Monument.
* * *
Geibel hatte sich, wie schon angedeutet, dem Tunnel beharrlich ferngehalten. Er war nicht der Mann dazu, sich vor einem größeren Kreise Zensuren über sein poetisches Wohlverhalten gefallen zu lassen, zumal vor einer Korona, die so bedenklich aus Laien und Kennern gemischt war. Auch sollten wir ihn bald verlieren. Ende Februar 1848 hatte Ernst Curtius, der Hofmeister des Prinzen Friedrich Wilhelm, ihn auf Befehl des Prinzen von Preußen eingeladen, der zweiten Vorstellung seines »Meister Andrea« beizuwohnen, die diesmal vor dem Könige stattfand. Er erlebte darauf noch den Ausbruch der Märzrevolution mit uns und zog sich bald darauf nach Lübeck zurück, wo er während der Jahre 1849 bis 51 an seinen dramatischen Entwürfen weiterarbeitete.
Mit welcher Stimmung er der Bewegung, die vom 18. März ausging, gegenüberstand, sagten uns seine Briefe. Schon seiner maßvollen, tief religiösen Natur war das wüste Treiben, das nicht auf eine ruhige Entwicklung so tief berechtigter politischer Forderungen und langgenährter volkstümlicher Wünsche, sondern auf einen jähen Umsturz zielte, ein Greuel. Zudem fühlte[98] er sich dem Könige für die freiwillig gewährte Pension zu Dank verpflichtet und hatte im Hause seines hohen Bruders so viel Freundliches und Huldvolles genossen, daß ihn die Ereignisse aufs persönlichste mittreffen mußten, die den verehrten Prinzen nach England trieben, und der Gedanke ihn im Innersten empörte, daß an der Wand des Palais, in welchem noch vor kurzem sein »Meister Andrea« aufgeführt worden war, nun mit großen Buchstaben das freche Wort »Nationaleigentum« geschrieben stand.
Wir Jüngeren, politisch völlig Unreifen hatten keinen Schutz gegen das hitzige Freiheitsfieber, das damals auch besonnenere Köpfe ergriff. Die Abenteuerlust der Jugend kam hinzu. Es war so aufregend schön, mit Flinte und Schleppsäbel, eine Feder am grauen Heckerhut, im Studentenkorps mitzumarschieren, nachts Schildwacht zu stehen auf der Rampe vor dem »Nationaleigentum«, oder im Schweizersaal des Schlosses die Nächte zu durchwachen und mit den Freunden Roquette und Fritz Eggers Verse auf Endreime zu machen, um den Schlaf abzuwehren. Auch blieb es nicht bei diesen Reimscherzen, die mit der großen Sache nichts gemein hatten. Wir konnten der Versuchung nicht widerstehen, in die stürmischen Klänge der Zeit auch unser Wort mit hineinzuwerfen, und ließen ein Heftchen im Verlag der Gubitzschen Buchhandlung erscheinen unter dem Titel »Funfzehn neue deutsche Lieder zu alten Singweisen«, natürlich »den deutschen Männern Ernst Moritz Arndt und Ludwig Uhland gewidmet«. Nur der alte Arndt hat ein freundliches Wort zum Dank an uns gewendet.
Wiederholt hatte mich Geibel davor gewarnt, zu früh mit meinem Dichten hinauszutreten; ich sollte warten, bis ich »einen Schlag damit tun könnte«. Zu einem Schlage nun kam es auch diesmal nicht, nur zu einem Schlag ins Wasser. Denn diese wohlgemeinten patriotischen Herzensergüsse, deren Begeisterungssturm stets die schwarzrotgoldene Fahne flattern ließ, gingen spurlos vorbei.
Wie ich jetzt das graue Heftchen wieder aufschlage, steigt meine Jugend daraus empor. Vier Gedichte von Bernhard Endrulat, zwei von Louis Karl Aegidi, der sich zu einem wirklichen[99] Politiker auswachsen sollte, zwei mit N.N. bezeichnet – verbarg sich unter dieser Maske ein gewisser Geheimrat? Ich bin heut nicht mehr imstande, es zu entscheiden, die Züge sind allzusehr verwischt. Die noch übrigen sieben kommen auf mein eigenes Konto. Ich finde, wenn ich sie noch so redlich prüfe, daß sie weder besser noch schlechter sind als die meisten, die damals durch die Zeitungen gingen. Eines, das letzte von ihnen, möge hier seinen Platz finden, um den Ton zu bezeichnen, auf den unsere Gemüter damals gestimmt waren.
Mel.: Prinz Eugen, der edle Ritter usw.
O du Deutschland, edle Fraue,
Welch ein' schlimme Witwentrauer
Ist ergangen über dich,
Seit dein weiland Mann und Kaiser
Stieg hinab in den Kyffhäuser,
Barbarossa Friederich!
Freier kamen gnug gelaufen,
Kamen gar zu hellen Haufen,
Sechsunddreißig an der Zahl.
Warum tatst du alle nehmen?
Edle Frau, du mußt dich schämen:
Sechsunddreißig aus einmal!
Ei, du hast es bald gespüret,
Wie die Herrn dich nasgeführet
Und ins Fäustchen sich gelacht.
Sechsmal sechs macht sechsunddreißig;
Rührtest du dich noch so fleißig,
Hast es doch zu nichts gebracht.
Deinen Söhnen auch vor allen
Wollte nimmermehr gefallen
Solch verzwicktes Regiment.
Und sie schrieen Weh und Zeter,
Aber ach, die Herren Väter
Machten bald dem Schrei'n ein End.
[100]
Endlich nahm's den Herrgott wunder,
Da man Anno achtzehnhundert-
Achtundvierzig schrieb im März,
Machte nicht viel Federlesen
Mit dem ganzen tollen Wesen,
Daß uns leichter ward ums Herz.
Jetzo mag vor allen Dingen
Eines noch nach Wunsch gelingen,
So man nicht erkämpfen kann:
Unser Herrgott sei so gnädig,
Daß Frau Deutschland nicht bleib' ledig,
Send' er einen mächt'gen Mann.
Nicht den alten morschen Kaiser,
Der verzaubert im Kyffhäuser
Ganz verträumet sitzen soll;
Nein, ein frisches, junges Leben,
Allem Deutschen heiß ergeben,
Aller Kraft und Treue voll.
O du Deutschland, edle Fraue,
Fröhlich im Gemüt vertraue:
Neue Hochzeit hebt dir an,
Wenn der Freier wird erscheinen,
Den wir grüßen wie noch keinen:
Nun gottlob, das ist ein Mann!
Der junge Sänger und Seher ahnte nicht, wie spät erst, dann aber wie glorreich sein Wunsch sich erfüllen sollte.
1 | Nach dem traurigen Ausgang, den die Erhebung Schleswig-Holsteins im Jahre 1851 nahm, beteiligte er sich noch mehrfach an den Geschicken der Herzogtümer, an denen sein Herz hing, 1864–1866 als Leiter des Preßbureaus des Herzogs Friedrich von Schleswig, 1868 bis Ende 1872 als Redakteur der »Itzehoer Nachrichten«. Als er seine Hoffnungen auf eine selbständige Stellung der Herzogtümer im Deutschen Reich scheitern sah, siedelte er nach dem Elsaß über, wo er als Journalist tätig war, und trat 1876 in den preußischen Archivdienst, erst in Düsseldorf, dann in Wetzlar, zuletzt als Vorstand des Staatsarchivs in Posen, wo er am 17. Februar 1886 starb. |
2 | Ein ähnliches Ungeschick in der Wahl eines Titels sollte meinem ersten Versbüchlein, mit dem ich mich in München einführte, verhängnisvoll werden. Das Motto, das zur Erklärung des Titels »Hermen« dienen sollte, bewirkte dies erst, wenn das Buch schon gekauft ward, wozu das rätselhafte Wort nicht einlud. |
3 | An Theodor Fontane zum siebzigsten Geburtstag. |
Ausgewählte Ausgaben von
Jugenderinnerungen und Bekenntnisse
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