[122] Am 11. Juli 1852 feierten meine Eltern in aller Stille ihre silberne Hochzeit.
Um allen festlichen Veranstaltungen ihrer Berliner Freunde aus dem Wege zu gehen, reisten sie mit mir nach Baden-Baden, wo wir ein paar heitere Wochen in der Gesellschaft meines Onkels Louis Saaling und seiner Frau verlebten.
Ich machte dort unter andern auch die Bekanntschaft des alten Justinus Kerner, den ich mit seiner wunderlichen Geistermarotte, die er gelegentlich selbst ironisierte, seiner »Klecksographie«1 und seinem ganzen naiven, warmblütigen Wesen sehr liebgewann. Auch er fand an mir ein väterliches Wohlgefallen. Er war seit dem Tode seines treuen Rikele sehr weichmütig und tränenselig geworden und lebte in allerlei Mystik, gab mir bei dichtverhangenen Fenstern ein Konzert auf der Maultrommel, die in der Tat wie eine geheimnisvolle Stimme aus einem fernen Jenseits klang, und hatte eine wunderliche, etwas schwachsinnige kleine Gräfin bei sich, die beständig um ihn herumgeistete und seinen Rapport mit dem[123] Zwischenreich vermittelte. Einmal saß er mir auch zu einer Bleistiftskizze, unter die er die Verse schrieb:
Endlich ist mein Bild getroffen,
Wider Hoffen,
Du, nur du hast es vollbracht.
Jeder, Jeder
Mit dem Pinsel, mit der Feder
Malte mir, dem armen Tropf,
Sonst nur einen Kürbiskopf.
Wie er die Ähnlichkeit beurteilen konnte, da er fast erblindet war, blieb mir rätselhaft. Doch stand ihm wohl auch bei anderen Gelegenheiten ein Rest seiner Sehkraft zu Gebote. Wenn sich ihm Frauen und Mädchen näherten, wußte er sehr wohl die Häßlichen von den Hübschen zu unterscheiden, indem er jene stehen ließ und nur diese an sich heranzog, um ihre Gesichter ganz nahe zu betrachten und sie dann auf den Mund zu küssen.
Als ich ihn zum letztenmal besuchte, um mir zu meiner Romfahrt seinen Dichtersegen geben zu lassen, nahm er ein in schwarze Wachsleinwand eingenähtes Schreibheft von seinem Tische und schenkte es mir. Auf die erste Seite hatte er geschrieben:
Deine Saiten sind zersprungen.
Und erblindet bist du schier.
Überlaß dem frischen, jungen,
Alter Schreiber, dein Papier.
Ich habe den lieben, alten Mann, der jedenfalls ein geborener Poet war, wenn er sich auch zu höheren Leistungen nie erzogen hat, nicht wiedergesehen. Seine unförmlich dicke Gestalt aber mit dem bleichen, blödsichtigen Kopf in dem abgetragenen, langen, schwarzen Rock an einen katholischen Landpfarrer erinnernd, steht mir noch deutlich vor Augen, und sein »Papier« ist in Italien fleißig beschrieben und des freundlichen Donators oft dabei gedacht worden.
* * *
[124]
Von Baden-Baden aus wendeten wir uns in die Schweiz und hielten uns vier Wochen in Interlaken auf, um dann noch eine längere Herbstfrische am Genfer See zu genießen. Die Fahrt dahin war fröhlich und beglückte mich sehr, da ich meinen teuren Vater selten so frisch an Leib und Seele gesehen hatte. Ein lang gehegter Herzenswunsch ging ihm in Erfüllung: er sollte die Gegenden wiedersehen, in denen er als sechzehnjähriger Lehrer, wie ich oben erzählt habe, zuerst auf eigenen Füßen gestanden und in eine fremde Welt geblickt hatte. Wie oft hatte er mir die Namen der Berge Dent du Midi, Dent de Morcle und der kleinen Städte von Chillon bis Genf genannt. Nun sah ich dies alles zugleich mit meinen und seinen Augen, kein Wunder, daß auch mir seitdem dieses zugleich liebliche und erhabene Seegestade des Pays de Vaud mehr ans Herz gewachsen blieb, als irgend eine andere Gegend der Schweiz.
Montreux war damals noch nicht wie heutzutage eine englische Kolonie. In der Pension Vautier fanden wir nur eine alte schottische Dame mit zwei Töchtern, die sich rasch mit uns befreundeten, wenn auch die Mutter es der meinigen nicht verzeihen konnte, daß sie die Sonntagsruhe verletzte, indem sie sich am Sonntagnachmittag mit ihrem Strickzeug im Salon niederließ. Außerdem war da ein englischer Geistlicher mit seiner Frau, der seiner Gesundheit wegen hier überwinterte. Als ich fünfzehn Jahre später wieder nach Montreux kam und die Wirtin fragte, ob sie inzwischen von Mister N. etwas gehört habe, öffnete sich die Tür, und der feine Kopf des alten Herrn erschien leibhaftig vor meinen Augen, mit dem gleichen sinnigen und heiteren Ausdruck wie damals. Er war längst gesund geworden, hatte sich aber von dem reizenden Fleck Erde nicht mehr trennen können.
Die übrige Gesellschaft bestand zumeist aus Franzosen, aber auch an jungen Deutschen fehlte es nicht, guten Gesellen, mit denen ich auch später in Rom und Neapel wieder zusammentraf, wo wir jedoch bei ihrer sehr unkünstlerischen Bildung nicht viel aneinander hatten. Um ein Haar wäre ihnen und mir die Romfahrt überhaupt vereitelt worden. Ich hatte mich mit ihnen, ohne einen erfahrenen Bootsmann mitzunehmen,[125] in einem leichten Segelboot bis nach Chillon gewagt, als bei der Rückkehr plötzlich ein Sturm losbrach und wir nur mit großer Anstrengung es dahin brachten, bei Montreux wieder zu landen.
In der zweiten Hälfte des September kam nun mein Freund Otto Ribbeck, mit dem zusammen ich die Reise machen sollte. Auf Ritschls, seines Lehrers, Empfehlung war ihm von der Berliner Akademie eine Reiseunterstützung bewilligt worden, um für eine große neue Ausgabe des Vergil auf italienischen Bibliotheken die Handschriften zu vergleichen. Jedenfalls trug er ein ganz anderes gelehrtes Rüstzeug mit sich, als ich für meine Provenzalen, zu deren weiterer Erforschung mir das preußische Ministerium ein Stipendium von fünfhundert Talern gewährt hatte. Er war auch freilich fast drei Jahre älter als ich (geboren am 23. Juli 1827 zu Erfurt) und sollte dermaleinst als der treueste Schüler seines großen Meisters die glänzendste Leuchte der philologischen Wissenschaft werden, eine weitausgebreitete Lehrtätigkeit ausüben und durch kritische und darstellende Werke ersten Ranges bis in sein einundsiebzigstes Jahr sich hervortun.
Damals hatten seine Freunde wenig Hoffnung, daß er es zu hohen Jahren bringen würde. Man hatte ihn sogar mit Sorgen die Reise nach Italien antreten sehen, da seine Konstitution, insbesondere seine zarte Brust, bisher die größte Schonung erheischt hatte. Aber in dem anscheinend schwächlichen, überschlanken Körper herrschte ein energischer Geist und eine zähe Widerstandskraft, die alle Anfechtungen siegreich überwand.
Ein ähnlicher Gegensatz von Zartheit und Festigkeit erschien auch in seinem geistigen und sittlichen Wesen: eine fast mädchenhafte Reinheit und Jungfräulichkeit der Empfindung ohne eine Spur von moralisierender Prüderie, nur weil das Gemeine weit hinter ihm lag, und dabei eine so mannhafte Rüstigkeit des Willens, oft bis zur Schroffheit gesteigert, daß er sich nicht besann, Menschen, die er geringachtete oder auch nur unsympathisch fand, mit verletzender Schärfe abzustoßen. Wen er aber liebte, den umfaßte und hegte er mit einer Innigkeit[126] des Gemüts, einer Zartsinnigkeit des Ausdrucks, die unwiderstehlich waren. Dazu konnte er an Tagen, wo ein jugendliches Wohlgefühl ihn beseelte, ausgelassen lustig sein, wie ein ganz junger Jüngling, und an tollen Streichen teilnehmen, als ob er noch keine Fragmente der lateinischen Tragiker ediert und Vergil-Codices kollationiert hätte.
Mit diesem brüderlich geliebten Menschen das gelobte Land kennen zu lernen, war zu allem andern eine Gunst des Glücks, die ich mir immer mit stillem Danke gegenwärtig hielt.
So trennten wir uns am Abend des 21. September von Montreux und fuhren die Nacht durch das Rhonetal hinan, das von Bergwassern teilweise unwegsam gemacht war und im hellen Mondschein die schauerlich schönsten Ausblicke gewährte. Um zehn Uhr morgens langten wir am Fuß der Simplonstraße an und brauchten den ganzen Tag, den Paß zu überschreiten und, nachdem wir das letzte Schweizerdorf Gondo und die erste italienische Dogana in Isella passiert hatten, den Abstieg zu vollenden.
Die milde lombardische Herbstsonne vergoldete uns auch den nächsten Tag, der uns über den Lago Maggiore und seine beiden herrlich blühenden Inseln nach Sesto Calende führte. Dann noch eine Mondscheinfahrt von neun Uhr abends bis drei Uhr früh im engen zehnsitzigen Omnibus, und im dunkeln Morgen war Mailand erreicht.
* * *
Von den vier Tagen, die wir hier rasteten, will ich nicht im einzelnen berichten. Es braucht nicht gesagt zu werden, daß wir allem nachgingen, was von italienischer Art und Kunst in dieser halbfranzösischen Stadt vorhanden ist, Kirchen und Theater besuchten, in der Brera unsere ersten Kunststudien machten und das erhabene Wunderwerk Lionardos im Refektorium von Santa Maria delle Grazie, das trotz der Verwüstung durch den Zahn der Zeit und menschliche Rohheit uns gewaltiger ergriff, als alle ergänzenden Nachbildungen, andächtig bewunderten. Ein Tag wurde zu einem Ausflug nach dem Comer See verwendet, um in der Villa Carlotta[127] (damals noch V. Sommariva) den Alexanderzug und Canovas Amor und Psyche, dann die Kunstwerke in der Villa Melzi zu betrachten und uns die reizenden Seeufer mit den Gestalten der Promessi sposi zu beleben.
Am neunundzwanzigsten mittags brachen wir nach Genua auf, damals noch eine beschwerliche Fahrt, da von der Eisenbahn erst die kurze Strecke zwischen Alessandria und Arquata fertig war und ein mehrmaliges Umsteigen in unbequeme Wagen der Impresa Sarda nötig wurde. So langten wir erst am Abend des 30. September in Genua an und fanden im vierten Stock des Albergo d'Italia ein bescheidenes Zimmer, von dem aus wir aber einen weiten Blick über das Meer und den von Schiffsmasten starrenden Hafen hatten und eine Ahnung, warum man von Genova la superba sprach.
Zwei Tage hatten wir für Genua bestimmt, die wir unermüdlich zur Fortsetzung unserer Kunst-, Natur- und Volksstudien verwendeten. Dann aber war unser Touristengewissen in betreff der genuesischen Kirchen, Paläste und hoch hinaufsteigenden Gassen vollauf befriedigt. Weder damals, noch bei späterer mehrmaliger Wiederkehr habe ich zu der stolzen, einst weithin das Meer beherrschenden Stadt ein rechtes Herz fassen können und mich ohne Bedauern nach kurzem Aufenthalt von ihrer kalten Pracht getrennt, zumal der tief in die Nacht fortdauernde Lärm in den Gassen, das Geschrei des Volks und das Rollen der Wagen stets meinen Schlaf gemordet hat.
Doch einer liebenswürdigen Szene im Teatro della Radegonda muß ich noch gedenken.
Wir hatten einer trefflichen Aufführung des »Don Pasquale« beigewohnt. Nach dem zweiten Akt wurde ein komisches Duett eingeschoben, ein Gutsbesitzer beklagt sich mit seinem Fattore über die schlechte Ernte des Jahres, die ihn in bittere Not bringe. Der Verwalter stimmt schwermütig ein und weiß sich ebenfalls keinen Rat, bis sie endlich Beide auf die Kniee sinken und die Götter des Olymp um Hilfe bitten. Wenn sie auf das Gebet armer Sterblicher hörten, sollten sie es Zechinen regnen lassen. Wirklich geschieht nach ihrem Flehen,[128] aus den Soffiten kommt ein Regen blanker Zahlpfennige herab, denen die beiden in höchstem Entzücken auf allen vieren nachlaufen, dann sich aufrichten und eine drollige Dankhymne anstimmen.
Das zahlreiche Publikum wurde von dieser taumelnden Lustigkeit dermaßen angesteckt, daß es wütend applaudierte und so lange bis! bis! schrie, bis das Paar wieder erschien und die Szene noch einmal aufführte. Diesmal aber kam es zu einem noch muntreren Schluß. Denn als es wieder Zechinen regnen sollte, brach von allen Seiten, aus den Logen wie aus dem Parkett, ein Regen von wertvollerem Metall über die Duettisten los, daß die armen Teufel anfangs wie versteinert standen, dann aber in hellen Jubel ausbrachen und mit rührend komischen Dankesgebärden den silbernen und kupfernen Segen, der von oben und unten kam, zusammenrafften.
* * *
Am regnerischen Morgen des dritten Oktober verließen wir die Stadt, diesmal nicht mit der Diligence. Wir hatten nach der damaligen Sitte mit einem Vetturin einen regelrechten Kontrakt gemacht, der ihn verpflichtete, uns in drei Tagen nach Lucca zu bringen und gegen eine bestimmte, immerhin sehr mäßige Summe unterwegs für unser Nachtlager und volle Beköstigung zu sorgen.
Wie vergnüglich diese Art zu reisen sei, erfuhren wir gleich bei der ersten Probe. Unser Vetturin traf unterwegs einen römischen Kollegen, der augenblicklich ohne Wagen und Pferde ziemlich trübselig auf der Landstraße dahinwanderte, und erlaubte ihm, hinten auf dem Wagentritt mitzufahren. Zum Dank dafür entfaltete der flotte Gesell, Graziano mit Namen, alle Talente eines Grazioso, sang uns die damals im Schwange gehenden Volkslieder vor, das berühmte Te voglio bene assaje und Bell' Angiolina, und regte den Andern an, eine Menge Opernarien vorzutragen, leider sehr falsch. Der Compagno dagegen machte sich noch auf andere Weise nützlich, indem er uns von den Feigenbäumen am Wege saftige Früchte stahl und hundert kleine Dienste leistete. Dazu die lustige[129] Fahrt unter dem weiten, tiefblauen Himmel am hohen Meeresufer, während man jetzt von der Schönheit dieser entzückenden Küste immer nur einen flüchtigen Momenteindruck empfängt, so oft der Bahnzug aus einem der siebzig Tunnel auftaucht, um gleich wieder in die Nacht des nächsten zu verschwinden.
Dies war das Italien, wie es uns in unsern Träumen vorgeschwebt hatte, und auch mit dem italienischen Volk kamen wir jetzt zuerst in nähere Berührung.
Die Mittagsrast hielten wir in dem malerisch gelegenen Rapallo, übernachtet wurde in Sestri. Wir hatten noch Zeit zu einem Gang in der Abendkühle, das von Pinien überschattete Felsenvorgebirge der Villa Piuma hinauf und nach der zweiten Bucht, wo das Hospiz der Seeleute so stattlich mit den weiß und schwarz gestreiften Marmorwänden am Ufer steht. Nach der Cena unterhielt uns dann der Wirt unseres »Hotel de l'Europe«, ein angeblicher Veteran der napoleonischen Garde, von seinen Kriegsfahrten, wies zu seiner Beglaubigung seine fünf Blessuren vor und sang spanische Lieder, die er auf seinem Feldzuge dort gelernt hatte.
Die ganze Romantik, die in Eichendorffs »Dichter und ihre Gesellen« die italienischen Abenteuer durchklingt, wurde in dieser »mondbeglänzten Zaubernacht« wieder lebendig und begleitete uns auch im Sonnenschein der folgenden Tage.
Bei jeder Mittagsrast hatten wir Zeit, das kleine Nest, wo unsere Colazione eingenommen wurde, wenigstens im Fluge zu durchstreifen, in die Kirche einen Blick zu tun – in einer wunderten wir uns nicht wenig, ein halb Dutzend verirrter Ferkel anzutreffen –, und ich insbesondere konnte ein paar Striche in mein Skizzenbuch machen, wenn auch die Suppe zuweilen darüber kalt wurde.
Als wir abends in La Spezia anlangten, war es zu einer Fahrt nach dem so malerisch ins Meer hinausgebauten Porto Venere zu spät. Wir mußten uns begnügen, unter den Bäumen am Hafen – damals noch eine sehr junge Anlage – herumzuschlendern und die Spaziergänger und Honoratiorenfrauen in buntem Gemisch mit den Weibern und Kindern aus dem Volk an uns vorüberziehen zu lassen. Sehr kleidsam erschienen[130] uns die kleinen Strohteller mit krausen Strohschleifchen und roten Blumen, die hie und da ein Mädchen geringeren Standes schief auf dem schwarzen Haare trug, und da ich einem sehr schönen, schwarzbraunen Rassegesicht mit schwarzen Augen begegnete, das unter einem solchen cappellino hervorsah, blieb ich stehen und fragte die Alte, die mit dem Mädchen Arm in Arm lustwandelte, ob ich wohl eine Porträtskizze von der ragazza machen dürfe. Die Schöne schwieg, die Alte aber erwiderte, ich müsse ihre Herrin um die Erlaubnis bitten, die unweit von ihnen ihren Spaziergang machte. Als sie mich dann zu der Dame geführt hatten, die ein häßliches kleines Mädchen von etwa sieben Jahren an der Hand hielt, wiederholte ich meine Bitte, indem ich mich als einen deutschen Maler vorstellte, dem diese Strohhütchen sehr malerisch erschienen. Aber die ragazza wird nicht stillhalten, versetzte die Dame. Ich versicherte, es sei mit einer Sitzung von zwanzig Minuten getan, worauf ich die Erlaubnis erhielt, mich nach dem Abendessen da und da in Casa Bonini einzufinden.
Sehr stolz und glücklich über meinen Erfolg kehrte ich zu meinem Freunde und einem andern Reisegefährten zurück, die mich beneideten und, als es dunkel geworden war, mich bis zu dem bezeichneten Hause begleiteten. Die Schöne wartete schon unten an der Tür und führte mich eine schmale, finstere Steintreppe hinauf in ein großes, kahles Zimmer, wo der Hausherr, ein langer, schwarzbärtiger Mann mit einer argwöhnischen Miene sich aus dem Sofawinkel ein wenig erhob und mir mit einer stummen Verbeugung den Stuhl an dem kleinen Tische anwies. Auf diesem stand eine Lampe, die nur wenig Licht gab. Ich ergab mich aber in alles und wollte eben das Mädchen bitten, auf dem andern Stuhl mir gegenüber Platz zu nehmen, als die Dame des Hauses ihr eigenes Töchterchen dort hinsetzte, dem garstigen, kleinen Geschöpf einen cappellino auf den dünnen blonden Scheitel band und ihm einschärfte, ja recht ruhig zu sitzen.
In meinem ersten Schrecken, und da ich noch nicht genug Italienisch wußte, um das Mißverständnis höflich, ohne die Muttereitelkeit zu verletzen, aufzuklären, fing ich mit verbissenem[131] Ingrimm zu zeichnen an, lehnte aber das Anerbieten des Hausherrn ab, den Bleistift an einem großen Dolchmesser zu spitzen, das er neben sich auf den Tisch gelegt hatte, und sputete mich, so viel ich konnte, da hinter mir mein eigentliches Modell nebst einigen anderen weiblichen Hausgenossinnen mir über die Schulter aufs Blatt schaute. Kein Wort wurde gesprochen, und so kam die Unglücksskizze hurtig zustande, ich bedankte mich »für gnädige Straf'« und mußte es noch leiden, daß mir das schöne Gesicht wie zum Hohn die Treppe wieder hinunterleuchtete.
Daß ich, ins Hotel zurückgekehrt, zum Schaden noch den Spott meiner Gefährten hinnehmen mußte, versteht sich von selbst.
Neben diesem unliebsamen Abenteuer hatte ich aber meinem Künstlerhut und Skizzenbuch andere, anmutigere Erlebnisse zu danken. Denn so argwöhnisch erfahrene Mütter ihre hübschen Töchter vor dem Verkehr mit einem Fremden zu behüten pflegen – die Bitte, ein schönes Gesicht porträtieren zu dürfen, klingt auch ihnen schmeichelhaft, und dem Maler, der in einer Stunde weiterfährt, öffnen sich Türen, die jedem Anderen fest verschlossen bleiben.
* * *
Am nächsten Tage wurde früh aufgebrochen und auf ziemlich schwierigen Wegen, da das Flüßchen Macra ausgetreten war, Sarzana erreicht. Erst nach vielfachen Scherereien bei den verschiedenen Doganen, die damals ebenso wie die obligaten Paßvisa und Aufenthaltskarten an jeder Grenze und jeder größeren Stadt den Reisenden in Italien Zeit und Geld kosteten, langten wir abends in Lucca an. Von hier konnte schon die Eisenbahn benutzt werden, auf der wir am nächsten Tage, Pisa nur im Fluge durcheilend, gegen Abend in Florenz landeten.
Was wir in den drei Tagen unseres damaligen ersten Aufenthalts in der entzückenden Arnostadt an Herrlichkeiten der Kunst und Natur genossen, war nur ein Vorgeschmack der eigentlichen Florentiner Freuden, die hier im nächsten Sommer[132] unser warteten. Da wir hierauf sicher rechnen konnten, setzten wir unsere Reise ohne allzu großen Kummer fort, fuhren auf der Bahn bis Siena, von dort – wo mein Tagebuch allerlei Kunsteindrücke notiert, ohne des großen Sodoma zu gedenken! – am nächsten Tage wieder mit einem Vetturin über Radicofani, Montefiascone, Viterbo, Ronciglione in vier Tagen nach Rom.
Die Fahrt war lustig und interessant genug, auch befand sich unter den Mitreisenden ein Pariser Advokat, Monsieur Landrin, der uns auf öderen Strecken mit seinen Calembourgs und pikanten Histörchen unterhielt, besonders aus dem Leben der Rachel, deren Rechtsgeschäfte er geführt hatte. Wir guten deutschen Jünglinge taten Blicke in eine Welt, die uns mit einem tugendhaften Entsetzen erfüllte. Auch Bernhardin de Saint-Pierre erschien uns in einem sonderbaren Lichte, da der Verfasser der zartsinnigen Schilderung des vielbeweinten, jungen Liebespaares seine drei Frauen zu Tode gequält haben sollte, le plus mauvais bougre du monde, un égoiste froid et sec.
Als aber am Morgen des letzten Reisetages Rom endlich sichtbar wurde und die Kuppel des Sankt Peter über die Hügel an der Landstraße aufragte, wurde der geschwätzige Franzose stumm, während ein Engländer, der bisher kein Wort gesprochen hatte, in begeisterter Beredsamkeit sich über die »Ewige Stadt« erging, und wir beide »still und bewegt« über Ponte Molle unseren Einzug in die Porta del Popolo hielten.
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Wer heutzutage nach einer unaufhaltsamen Tag- und Nachtfahrt mit dem Nord-Süd-Expreßzuge an dem südlich der Stadt gelegenen Bahnhofe anlangt und dann auf der breiten Via Nazionale gleich ins Herz der Stadt hineinrollt, erfährt nichts von der feierlichen Stimmung, in der man vor einem halben Jahrhundert Rom betrat.
Es war noch das alte Rom, fast unverändert, wie es zur Zeit des Rinascimento gewesen war, jedenfalls das Rom der[133] Winckelmann, Goethe und Wilhelm von Humboldt, das Rom des Papstes und seines geistlichen Hofstaates, der zahllosen Mönchsorden jeder Observanz, das Rom der engen, schmutzigen, winkeligen Gassen und jenes so höchst charakteristischen Volkes, das in G.G. Bellis zweitausend Sonetten mit all seinen Sitten und Unsitten, witzig, pathetisch, zynisch, bigott und pfaffenfeindlich in seiner drolligen Mundart sich sehen und hören läßt. Dann aber auch vor allem das Rom der alten Welt, dessen gigantische Baudenkmäler noch nicht wie heutzutage durch den vandalischen Forschergeist der Archäologen in ihren Grundfesten durchwühlt und aus ihrer jahrhundertelangen Verschüttung bloßgelegt waren, sondern von wilder Vegetation überwuchert in traumhaft malerischer Erhabenheit den Beschauer fesselten. Noch war weder im Forum noch im Coliseo der Boden aufgegraben, noch wandelte man zwischen den geheimnisvollen Palastruinen des Palatin ohne genauen Wegweiser herum, und aus den verwilderten Gärten der Villen schweifte der Blick über die weite Campagna mit ihren trümmerhaften Aquädukten bis an die Albaner- und Sabinerberge, ohne durch die ungefügen Zinskasernen einer neuen, nüchternen Zeit gehemmt und beleidigt zu werden.
Eine gewisse Enttäuschung freilich erfuhr der fromme Rompilger auch damals. Man hatte die berühmten Gebäude antiker und mittelalterlicher Zeit so gründlich in hundert Abbildungen studiert, wenn nicht gar aus den Lindemann-Frommelschen Steindruckblättern kennen gelernt, die durch eine romantische Beleuchtung und theatralische Gruppierung die einfache Größe jener Architekturen zu entstellen pflegen. Man dachte sich nun eine Stadt, die aus lauter Monumentalbauten hohen Stils und riesigen Trümmern von Palästen und Tempeln bestehe, und war erstaunt, im Corso an einer langen Flucht ordinärer, völlig stilloser Häuser entlang zu fahren.
Doch die Ernüchterung hielt nicht lange stand. Man erkannte bald, daß diese Verwahrlosung und Armseligkeit, die sich an die gewaltigen Überreste größerer Epochen anschloß, gegen den Eindruck der erhabenen Bauten verschwand, wie man auch in alten deutschen Städten zu Füßen der hohen[134] Domkirchen einen Kranz von unscheinbaren Häuschen und Hütten gewerbetreibender Kleinbürger angesiedelt findet, aus denen die Bogenfenster und Strebepfeiler der gotischen Architektur mit um so größerer Majestät sich emporheben. Zudem übte sich auch in Rom das Auge des Neulings bald darin, an diesen Zusätzen einer charakterlosen späteren Zeit vorbeizusehen und, wie nach chemischer Wegnahme einer zweiten jüngeren Schrift, den ehrwürdigen Palimpsest der Roma antica mühelos zu entziffern.
* * *
Es war meinem Vater und wohl auch mir als eine besonders günstige Fügung erschienen, daß ich in meinem Onkel Theodor Heyse den erfahrensten Wegweiser in dieser neuen Welt finden sollte, den ich nur wünschen konnte.
Dieser drittjüngere Bruder meines Vaters war nach eben absolvierten Universitätsstudien nach der Schweiz gegangen, um dort an einer Erziehungsanstalt in Lenzburg mehrere Jahre als Lehrer zu wirken. Dann hatte es ihn nach Italien getrieben, das ihn nicht wieder losgelassen, so daß er seinen Geschwistern völlig verstummt und verschollen war. Nur an meinen Vater wendete er sich, in langen Pausen, so oft er etwas von ihm wollte. Denn er wünschte nur sich selbst zu leben, ein Leben geistigen Genusses, von keiner Verpflichtung gegen Andere gehemmt, nur so weit mit Arbeit belastet, als nötig war, mit einigem Behagen sich durchzubringen. So hatte er seine reichen philologischen Kenntnisse nie auf eine eigene größere Arbeit angewendet, sondern sie in den Dienst Anderer gestellt, die Editionen von Klassikern, Kirchenvätern oder neue Bibeltexte auf Grund der in Italien befindlichen Handschriften veranstalteten.
Bald war sein Ruf als sommo grecista so fest gegründet, daß er, besonders von London aus, die lohnendsten Aufträge erhielt. Nebenher ging als eine früh ergriffene Lieblingsaufgabe die Beschäftigung mit Catull, dessen Text kritisch festzustellen ihm jahrzehntelang am Herzen lag, wie er auch nie[135] müde wurde, seine Übersetzung von Catulls Liederbuch immer von neuem zu feilen und umzudichten.
Mit deutscher Literatur der Zeit nach seiner Ansiedlung in Rom hatte er nicht die geringste Fühlung behalten, sondern war bei Goethe stehen geblieben, den er fast ohne jeden Vorbehalt vergötterte. In dessen Bann stand auch sein eigenes Dichten, das über ein geistreiches Nachklingen weimarischer Tonarten nicht hinauskam. Bei der völlig verwandelten ästhetischen Stimmung der fünfziger Jahre war es unmöglich, für seine Gedichte, die ich später mit nach Deutschland nahm, einen Verleger zu finden, so wenig wie für Lieder eines modernen begeisterten Haydnverehrers nach der Zeit von Beethoven und Schubert ein Publikum vorhanden wäre.
Als ich nach Rom kam, fand ich den »Onkel Catull« in einer unfreundlichen Erdgeschoßwohnung der Straße Sant' Andrea delle Fratte, die aus fünf Zimmern, einer Küche und einer Loggia bestand, diese mit einem lustigen Blick über allerlei Nachbarhöfe und sonnig genug, um hier etliche immergrüne Pflanzen zu ziehen. Auch eine kleine Menagerie hatte hier einmal ihren Platz gefunden, große Vögel in Käfigen, ein Affe und anderes seltsames Getier. Diese Passion war aber vergangen, seit der Züchter, der eigensinnige pädagogische Methoden bei seinen vernunftlosen Zöglingen anwendete, einen ungebärdigen großen Geier im Jähzorn erschlagen und auch den Affen so mißhandelt hatte, daß das alte trauliche Verhältnis in die Brüche ging. Jetzt war nur noch das Hündchen Fido und der Kater Micetto übrig, für deren leibliches Wohl die Köchin Pia sorgte, während der Onkel selbst seine Erziehungsversuche etwas gelinder an ihnen fortsetzte.
Pia war eine richtige Romana di Roma, bis auf die äußere Schönheit und Stattlichkeit, die ihr völlig gebrach, mit allem unergründlichen Aberglauben und unglaublichem Mangel an jeder, auch der geringsten Schulbildung. Ihr Mann hatte sich unfreiwillig von ihr trennen müssen, um auf einer Galeere für gewisse Messerübungen zu büßen, und ein ziemlich verwahrloster sechzehnjähriger Sohn Domenicuccio, der irgendwo[136] irgendwas bei irgendwem zu verrichten hatte, besuchte die Mutter nur von Zeit zu Zeit, meist halb berauscht, wo ihn dann der Padrone unsanft genug behandelte, wie er auch der guten Pia gegenüber oft sein jähes Temperament nicht im Zaum hielt, wenn ihre Dummheit alle Grenzen überstieg.
Sie war aber eine gute Köchin und hielt seine Zimmer und all seinen Besitz in musterhafter Ordnung und Reinlichkeit, so daß er doch besser mit ihr daran war, als wenn er eine Römerin des Mittelstandes zur Frau genommen hätte, eine von denen, die bis zehn Uhr morgens liegen bleiben, sich von ihrem Gatten die Schokolade ans Bett bringen lassen und ihn dann zum Metzger und auf den Markt schicken, um die Spesa zu machen, das heißt die Einkäufe für die Küche zu besorgen.
So sah ich die Romulusenkel täglich in dem Metzgerladen schräg gegenüber sich einstellen und das Stück Fleisch für ihr Mittagsmahl in ein buntgewürfeltes Schnupftuch wickeln, sehr selten unter ihnen die Köchin eines wohlhabenderen Bürgerhauses oder die Hausfrau selbst.
Einmal freilich war der deutsche Gelehrte nahe daran gewesen, ein römisches Mädchen heimzuführen. Nicht gar lange nach seiner Ansiedlung hatte er sich in die Tochter einer Frau, bei der er zur Miete wohnte, sterblich verliebt, ein anziehendes Gesicht von edlen, ruhigen Formen – ich sah ihr kleines Brustbildnis über dem Bücherschrank des Onkels hängen, von einem befreundeten Maler in Öl gemalt –, und als sie einmal gegen die strenge Sitte, die ihr eingeschärft worden, in sein Zimmer getreten war und sogar neben ihm auf dem Sofa Platz genommen hatte, fragte er sie, indem er ihre Hand ergriff: Mi volete un poco bene, Teresa? – Oh! molto più di Voi! hatte sie geantwortet. Als er sie aber an sich ziehen und umarmen wollte, war sie, ihn ruhig abwehrend, rasch aufgestanden und hatte ihm auch während der ganzen nun folgenden Zeit ihrer Verlobung nicht die geringste Liebkosung gestattet.
Die römischen Mädchen wissen, daß sie vor ihrem eigenen heißen Blut auf der Hut sein müssen, und da sie praktische Naturen sind, halten sie sich streng an die Warnung:
[137]
Tut keinem Dieb
Nur nichts zulieb,
Als mit dem Ring am Finger.
Daran hielt sich auch die junge Römerin, doch in etwas anderem Sinne.
Die Pfaffen hatten hier eine gute Beute zu machen gehofft, indem sie den fremden Lutheraner durch seine Liebe zu einem ihrer Beichtkinder in den Schoß der Mutterkirche zu locken dachten. Als aber der Deutsche fest blieb, wurde der Mutter seiner Braut dermaßen die Hölle heiß gemacht, daß sie die Verlobung aufhob und ihr Kind trotz alles Sträubens zwang, einem ungeliebten, halbverwandten Spießbürger sich antrauen zu lassen.
Nach der Hochzeitsnacht aber, die der unglückliche Verstoßene in Qualen schlaflos zugebracht hatte, klang morgens früh die Glocke an seiner Tür. Als er öffnete, stand die junge Frau mit hold erglühenden Wangen an der Schwelle, trat hastig ein und sagte mit ihrem klangvollen Alt freudestrahlend: Eccomi! Sono zitella ancora.
* * *
Damals muß der Sor Teodoro ein junger Mann gewesen sein, der seiner Macht über die Frauen sicher sein konnte, von all seinen Brüdern der Wohlgebildetste, ein wenig hager, aber mit Gebärden, die ein leidenschaftliches Gemüt verrieten, und schwarzen, durchdringenden Augen. Dazu eine sanfte, wenn er wollte, sehr einschmeichelnde Stimme und eine unwiderstehliche Beredsamkeit.
Als ich ihn kennen lernte, war von all diesen verführerischen Eigenschaften nur die letzte geblieben. Er hatte ein halbes Jahrhundert voll Arbeit und mancher Entbehrung hinter sich und fühlte sich selbst erschöpfter, als seine Jahre es erklären konnten. Aber wenn er an einem leidlich gesunden Tage still vor sich hin träumend aus dem Fenster des gewölbten, weißgetünchten Zimmers auf die enge Straße sah, konnte er in eine dichterische Erregung geraten, in der ihm die tiefsten[138] und seltsamsten Reden über Gott und Welt, Kunst und Natur, Menschenschicksal und Lebensüberfluß von den Lippen strömten. Wie wenn ein Musiker an seinem Flügel sitzend in glücklicher Stimmung die Finger über die Tasten gleiten läßt und in solchem Phantasieren oft Schöneres hervorbringt, als wenn er mit bewußter Künstlerschaft ans Komponieren geht.
Indem er so improvisierend sich auslebte und im Selbstgenuß seiner Persönlichkeit schwelgte, trat ihm auch das Bedürfnis nicht nahe, diese seine innere Welt zu »befestigen mit dauernden Gedanken«. Dazu kam, daß er zu den geistvollen Menschen gehörte, die eine künstlerische Befriedigung darin finden, ausgesucht reizende und gehaltvolle Briefe zu schreiben, und darauf all ihren schriftstellerischen Ehrgeiz beschränken. Er machte von diesen kleinen epistolaren Kunstwerkchen stets einen Entwurf, und die Reinschrift eines solchen war ihm ein hinlängliches Arbeitspensum, worauf der übrige Tag ihm gehörte.
Nach alledem wird es begreiflich sein, daß es mir im höchsten Grade anziehend war, diesem Onkel nahezutreten, und daß der vertraute Umgang mit ihm mir in vielfacher Hinsicht ersprießlich sein mußte. Und doch war ich sehr bestürzt, als er mir nach der ersten herzlichen Begrüßung erklärte, ich müsse durchaus bei ihm wohnen, wenn er mir auch keine volle Gastfreundschaft anbieten könne, da seine Einnahmen eben nur ausreichten, ihn selbst über Wasser zu halten.
Das war eine erste schmerzliche Erfahrung in der ewigen Stadt. Ich hatte es nicht anders gedacht, als daß ich den ganzen Winter hindurch mit meinem liebsten Otto Ribbeck alles und jedes teilen würde, und mußte mich, noch dazu mit einer dankbaren Heuchelmiene, darein finden, in der düsterlichen Straße ein langes, schmales, einfenstriges Gemach zu beziehen, während der Freund bei einer guten, dicken »weisen Frau«, Sora Rubicondi, sich eines behaglichen, sonnigen und unabhängigen Daseins erfreute.
Denn dieser letzte Punkt war's nicht zum wenigsten, der mir so manche Annehmlichkeiten des Zusammenwohnens mit dem guten Onkel aufwog. Ich hatte von vornherein das Gefühl,[139] daß er mich als eine Art Zögling betrachtete, an dem er seine pädagogische Kunst und Erfahrung bewähren sollte, in aller Lieb' und Güte freilich. Doch da ich mir bewußt war, als junger Poet, Doktor der romanischen Philologie und hoffnungsvoller Bräutigam mich selbst genügend zügeln zu können, war mir das Aufgeben meiner Ungebundenheit, abgesehen von der Trennung von meinem Freunde, im höchsten Grade verdrießlich, zumal es nicht einmal meinem Beutel zugute kommen sollte.
Doch durfte ich mich nicht gegen etwas auflehnen, was mir wie ein Beweis der gütigsten Gesinnung geboten wurde. Und um es gleich hier vorwegzunehmen: das Verhältnis gestaltete sich leidlicher, als ich anfangs gefürchtet hatte. Ribbeck fand fast täglich den Weg zu mir oder ich zu ihm, und wir absolvierten unser Studium der Stadt und all ihrer alten und neuen Herrlichkeiten gemeinsam. Und der Erziehungsversuche des Onkels wußte ich mich nach und nach immer erfolgreicher zu erwehren. Er ersparte sie mir freilich nicht, zumal wenn er sich unwohl in der eigenen Haut fühlte. Dann mußte ich wohl, wenn etwa eine Arbeit mich zu Hause hielt, von ihm hören: ich sei doch nicht nach Rom gekommen, um hinterm Ofen zu hocken und über den Büchern zu schwitzen, was ich auch in der Behrenstraße hätte tun können. Streifte ich dann aber ein paar Tage hintereinander, wenn die Vaticana geschlossen war, in Villen und Galerieen oder den Osterieen der Campagna herum und kam spät nach Hause, so empfing mich eine wohlgemeinte Paternale, daß ich von einem solchen vergnüglichen Bummelleben nicht viel geistige und künstlerische Frucht ernten würde, da es vor allem darauf ankomme, sich zu sammeln und das Erlebte und Gesehene zu verdauen.
Ich ließ mir indessen meine Freiheit nicht verkümmern, und da ich denn doch manches zustande brachte, auch im übrigen dem alten Herrn – sein Haar war in der Tat schon angegraut – zu allerlei guten Dingen hold und gewärtig war, so fanden wir uns auf die Dauer ganz wohl ineinander.
Zumal ich mehr und mehr erkannte, daß sein Leben denn doch ziemlich freudlos war und er die Freiheit, der er alles[140] geopfert hatte, teuer genug bezahlen mußte. Freunde, mit denen er früher gesellig verbunden gewesen, waren ihm weggestorben oder nach Deutschland zurückgekehrt. Die neugierigen Durchzügler, die ihn als eine römische Sehenswürdigkeit aufsuchten, konnten ihm nur eine flüchtige Genugtuung seines Selbstgefühls bieten. Die englischen Aufträge wurden spärlicher. Seine Haupteinnahme war das Honorar, das er für den Unterricht der beiden erwachsenen Töchter des Fürsten Orsini erhielt. Auch diese täglichen Lektionen, in denen, wie es mir vorkam, nur eine allgemeine Förderung in höherer Bildung beabsichtigt war, pflegten ihn zu verstimmen, da die jungen Principessen wenig begabt und für geistige Interessen nicht allzu empfänglich waren. Er kam dann schwermütig, obwohl der alte Fürst ihn aufs höchste verehrte und um jeden Preis festzuhalten suchte, in sein helldunkles Zimmer zu seinem einsamen Mahle zurück, melancholisierte mir eine Weile vor und entließ mich mit sichtbarem Neide zu meinem Mittagessen, das ich in einer der Trattorieen, wo ich Otto und andere Bekannte traf, einzunehmen pflegte.
* * *
Gleich am dritten Tage nach meiner Ankunft in Rom hatte ich durch einen Schulfreund, den ich im Café Greco getroffen, den jungen Dr. med. Klaatsch, die Bekanntschaft des Kirchenrats Hase gemacht, des berühmten Jenenser Professors und Kirchengeschichtschreibers, der mit Frau und Töchtern seit einigen Wochen in Rom sich aufhielt. Wir trafen uns bei meinem ersten Gang durch den Riesendom des Sankt Peter, und der gewaltige Eindruck, der uns wie ein Elementarereignis überstürzte, näherte uns in der ersten Stunde so herzlich, als hätten wir schon den berühmten Scheffel Salz miteinander gegessen. Der sehr lebhafte kleine Herr mit dem übersprudelnden Temperament gewann mich völlig, und ich empfand eine Lücke, als er einige Wochen später Rom verließ.
Auch war er gerade an dieser Stätte der größten päpstlichen Erinnerungen wie kein zweiter zum Cicerone geschaffen. Wir stiegen endlich miteinander die endlosen Treppen und[141] Treppchen bis in die höchste Spitze der Laterne hinauf, wo wir in dem engen runden Raum einige Zeit stumm und beklommen nebeneinander saßen und durch die offenen Fensterlöcher über die ungeheure Stadt hinabschauten. Endlich fing einer von uns »Ein' feste Burg« zu summen an, und sogleich fielen wir anderen mit ein und sangen das ganze herrliche Lutherlied auf dem obersten Gipfel dieses allerpäpstlichsten Gotteshauses fröhlich und andächtig bis zu Ende.
An dieser Stelle will ich ein für allemal erklären, daß ich nichts weniger im Sinn habe, als meine Eindrücke von römischen Bauten, Kirchen und Palästen, antiken und neueren Kunstwerken, die ich diesen Winter hindurch nach und nach kennen lernte, hier auch nur mit flüchtigen Strichen zu schildern. Was ich mit allen künstlerisch angeregten Romfahrern gemein hatte, wäre von geringem Interesse und würde diesen Bericht über meine erste italienische Reise allein schon zu einem Buche anschwellen. Nur was mir von persönlichen Erlebnissen teils in meiner inneren Welt, teils im Verkehr mit guten Leuten und bedeutenderen Persönlichkeiten in heller Erinnerung geblieben ist, soll hier erwähnt werden.
So muß ich vor allem jenes fröhlichen Ausfluges nach dem Tal der Egeria gedenken, den ich in einer Terzinenepistel an Arnold Böcklin geschildert habe. Da ich in jener Dichtung streng bei der Wahrheit geblieben bin, kann ich hier einfach darauf hinweisen. An Böcklin war ich, wenn ich mich recht erinnere, durch seinen Baseler Landsmann Jakob Burckhardt gewiesen worden. Ich hatte ihn schon am zweiten Tage nach meiner Ankunft in seiner sehr dürftigen Wohnung in der Via della Purificazione aufgesucht und mich an seinen wundervollen Landschaften erbaut. Am Abend desselben Tages führte er mich – im Stromregen – nach einer echt römischen Winkelkneipe, wo ein kleines Häuflein von befreundeten Malern und Bildhauern beisammensaß. Sie hatten sich den Namen »Tugendbund« beigelegt – lucus a non lucendo – und empfingen mich, da ich ihnen durch Böcklin angekündigt war, mit der ganzen zutraulichen Herzlichkeit unserer zwanziger Jahre. Der Angesehenste der Bande[142] war Franz, genannt Dreber, ein sehr begabter Landschaftsmaler aus Sachsen, der leider durch einen grüblerischen Zug seiner Natur sich um das volle, naive Ausleben seines Talents gebracht hat. Neben ihm sein Intimus, der Bildhauer Gerhardt, der alle Freunde außer Böcklin überleben sollte, zwei andere Bildhauer, Kaupert und der Däne Holbeck, ein langer, grotesker Geselle, endlich ein Maler, der mir nur unter seinem Spitznamen »der Indianer« im Gedächtnis geblieben ist.
In dieser Gesellschaft nahm ich an der Ottobrata nach dem Tal der Egeria teil. Sie setzte sich von dem Hause an der Ripetta in Bewegung, in dem Gerhardt und Kaupert ihre Bildhauerwerkstätten, Dreber im zweiten Stock sein Studio hatte und ich noch manchen Abend der erquicklichsten Geselligkeit genoß. An jenem ersten des 18. Oktober, nachdem wir alle Wonne des herrlichsten Tages erschöpft hatten und, wie mein Tagebuch sagt, es »immer tiefer ins Leben hineinging« (Heinses Ardinghello), bis zu jenem Tanz ums Feuer nach abgeworfenen Kleidern, traten wir, eh' wir unter der zauberhaften Abendbeleuchtung der stillen Campagna uns zur Heimfahrt nach den »bunten, schimmernden« Straßen der Stadt entschlossen, noch einmal in die Grotte der Egeria zu einer dankbaren Abschiedsfeier ein, bei der unser Däne mit seinem mächtigen Baß der gastfreundlichen Nymphe in der Arie Casta diva unsern letzten Gruß zurief.
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Von all diesen aufstrebenden jungen Künstlern blieb mir Böcklin damals der nächste und anziehendste. Auch er begegnete mir, so weit es seine verschlossene, schwerflüssige Natur zuließ, mit freundschaftlichem Vertrauen. Gleich bei meinem ersten Besuche erzählte er mir von dem fatalen Abenteuer, in das er sich bei seinem letzten Besuch in seinem heimatlichen Basel verstrickt hatte. Aus dépit amoureux, da eine alte Jugendliebe ihm kalt begegnet war, hatte er sich mit dem ersten besten hübschen Kinde, das er auf der Straße getroffen,[143] obwohl er sah, daß sie dem dienenden Stande angehörte, allen Ernstes verlobt und einige Tage in der lieblichen Nähe des guten Kindes sich's auch wohl sein lassen. Nun aber in der Ferne war ihm dieser frevelhafte Leichtsinn schwer aufs Herz gefallen, zumal das Bräutchen im ersten Brief, den sie ihm schickte, aus einem Briefsteller immer noch unorthographisch genug abgeschrieben, von seinen – Böcklins – »Rosenlippen« geschwärmt hatte.
Ich erwarb mir das Verdienst um den sehr niedergeschlagenen Freund, ihm zu einer möglichst raschen Aufhebung der Verlobung zuzureden, zu der er sich freilich erst Ende Februar entschloß.2
Er war damals noch völlig unbekannt, eben aus Paris gekommen und in Rom ohne alle Gönner und Fürsorger in tiefster Armut, dabei stets durch seinen Stolz aufrecht gehalten, der ihm jedes noch so läßliche Paktieren mit dem Geschmack eines Publikums, das er verachtete, verwehrte. Von der späteren kühnen Phantastik, die ihm seinen Weltruhm eintrug, und der überströmenden Farbenfreudigkeit war noch nichts in seinen Landschaften zu spüren, auch von einer menschlichen Staffage noch keine Rede, dagegen in minder gewaltigem Stil schon das ganze intime Naturgefühl, das keiner fleißigen und peinlichen Studien mit Stift und Pinsel bedurfte, um dies wundersame Gedächtnis mit allen charakteristischen Formen und Farben, an denen seine Augen sich weideten, zu erfüllen. Ich bewahre noch eine Landschaft von ihm aus den Pontinischen Sümpfen, ein großartig einfaches Waldmotiv immergrüner Eichen, über dem er die Lust verloren hatte. So lag die unvollendete zerknüllte Leinwand im Winkel seines Ateliers, und er ließ es geschehen, daß ich sie glättete und an der nackten Wand meiner Klause in S. Andrea delle Fratte annagelte, bis ich ihr später in Berlin einen Rahmen gab.
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[144]
Hier will ich auch einiger anderer Künstler gedenken, mit denen ich in mehr oder minder häufigen Verkehr kam.
Die Zeit war noch nicht fern, wo in Rom eine neue Blüte der deutschen Kunst aufgegangen war. Von den Malern, die in der Casa Bartoldi jenen reizvollen Freskenzyklus geschaffen hatten, traf ich freilich nur Overbeck noch an, der an gewissen Tagen in seinem Atelier auch fremden Kunstfreunden Zutritt gewährte. Ich entsinne mich deutlich seiner hohen, etwas vorgebeugten Gestalt und der sinnend gesenkten Augen, wie er neben der Staffelei stand und einer mutwilligen schönen Dame, die ihn mit einer etwas aszetisch aufgefaßten Eva zu necken wagte, da sie nicht wie die allgemeine Menschenmutter, sondern wie eine verschämte entkleidete Heilige aussah, mit leisem Erröten verlegen erwiderte. Mir selbst sind seine zartempfundenen und harmonisch zusammengestimmten biblischen Kompositionen, die freilich ein warmblütiges Naturgefühl vermissen lassen, stets erfreulich gewesen. Sein mächtigerer und tiefgründigerer Gesinnungsgenosse Cornelius hatte Rom schon seit Jahren verlassen, auch Thorwaldsen war in seine Heimat zurückgekehrt. Aber ihr Andenken war in den Kreisen der Jüngeren noch lebendig, wie auch von den verstorbenen Landschaftern Reinhardt und Koch manches charakteristische Histörchen immer von neuem erzählt wurde. Am Leben war noch der jüngere der beiden Brüder Riepenhausen, die sich durch ihr Nachschaffen der von Pausanias beschriebenen Polygnotischen Fresken in der Lesche Delphis einen Namen gemacht hatten. Mein Onkel veranlaßte mich, diesen seinen alten Freund zu besuchen, ich fand aber mehr an seiner treuherzig-milden Person als an seiner Kunst Gefallen.
Der alte Willers war, als ich nach Rom kam, schon mit den Zurüstungen zu seinem Aufbruch beschäftigt, und ich konnte nur noch an seinem Abschiedsfeste teilnehmen. Dagegen war es mir oft vergönnt, dem alten Martin Wagner zu begegnen, jenem merkwürdigen Künstler, den das Machtwort König Ludwigs I. aus einem Maler zum Bildhauer umgewandelt hatte, in richtiger Erkenntnis seiner eigentlichsten[145] Kraft. Er ist bekanntlich der Schöpfer der Bavaria und der kriegerischen Reliefs am Münchener Siegestor, in denen sich eine etwas trockene, aber energische plastische Phantasie offenbart. Damals, im Herbst 1852, schien er auf seinen Lorbeeren auszuruhen und keine Hand mehr zu rühren. Er gehörte zu den Stammgästen der Trattoria del Lepre, in der auch wir häufig unser Mahl einnahmen. Da ergötzte er uns durch seine derben Auslassungen über Menschen und Kunstwerke und durch gewisse Sonderlingszüge seiner in allem Äußeren völlig nachlässigen Erscheinung. Unter anderm ließ er sich von allen Tischgenossen die Reste ihrer Mahlzeiten beisteuern zur Fütterung seiner Katzen. Dieses bunte Gemisch von Fleisch- und Knochenstückchen, Fischköpfen und Gemüsen packte er dann in zwei große, notdürftig aus Zeitungen hergestellte Tüten, die er in die tiefen Seitentaschen seines Rockes versenkte. Da er dann regelmäßig mit diesen Vorräten beladen einen weiten Nachmittagsspaziergang machte, auch wenn die Herbstsonne noch so scharf herabglühte, kann man denken, daß seine Kleidung nach und nach einen seltsamen Duft verbreitete.
Nicht säuberlicher sah es in seiner Wohnung aus. König Ludwig hatte ihn zum Kustoden der Villa Malta gemacht, die ein königlich bayerischer Besitz war. Hier besuchte ich ihn einmal und fand ihn inmitten einer so greulichen genialen Wüstenei, wie sie mir noch nie vorgekommen war. Auf Tischen und Stühlen lagen große Blätter mit künstlerischen Entwürfen chaotisch übereinandergeschichtet, Teller mit Speiseresten, leere Weinflaschen, Kleidungsstücke und alte Schuhe, dazwischen ein wertvolles Gemälde aus der Kölnischen Schule, das er bei einem Trödler gekauft, alles mit einer dicken Schicht grauen Staubes friedlich eingehüllt. Zwischen diesen Herrlichkeiten führte er mich mürrisch herum und klagte mir seine Not: König Max habe seinen Besuch in Rom angekündigt und werde natürlich bei ihm absteigen. Er werde Mühe haben, hier alles »elegant« zu machen – ja freilich! dacht' ich – und um seine Behaglichkeit sei es geschehen.
Von den älteren Künstlern muß ich noch Riedels gedenken, dessen Atelier in Via Margutta lag, nach drei Seiten[146] mit Fenstern versehen, durch deren halb oder ganz geöffnete Läden mehr oder weniger Sonnenstrahlen eingelassen werden konnten, immer genau so viel, wie der Maler jedesmal zur transparenten Beleuchtung einer Wange, eines Nackens oder auch nur eines Ohrläppchens bedurfte. Von dieser Künstelei abgesehen, die Riedel zu einer virtuosen Spezialität ausgebildet hatte, war der völlig zum Römer gewordene prächtige Mann ein ganzer Künstler, an dessen Werken man seine ehrliche Freude haben konnte, und ich habe in seinem Studio, von dem man einen herrlichen Blick auf den Monte Pincio hatte, mich auch an seinem treuherzig-klugen Gespräch manche gute Stunde erfreut, während seine Kanarienvögel zirpend und zwitschernd von Staffelei zu Staffelei flogen.
Ein Freund von ihm, der Wiener Maler Pollack, bildete nur seinen Schatten und brachte selbst nicht viel Wertvolles zustande. Dagegen machte damals der junge Bildhauer Wittig einiges Aufsehen mit seiner lebensgroßen Gruppe Hagar und Ismael (jetzt in der Berliner Nationalgalerie), die auch mich bewog, die Bekanntschaft des liebenswürdigen Künstlers zu suchen. Er gehörte oft zu dem Trüpplein, in dessen Gesellschaft ich Ausflüge machte oder dieser und jener Sehenswürdigkeit nachging, zu der gerade der Zutritt eröffnet war. Auch ein sehr feiner Landschaftsmaler Flamm, ein Rheinländer, ging uns flüchtig vorüber, nicht ohne daß ich von seiner Kunst einen hohen Begriff erhielt. Und ein einziges Mal begegnete ich auch dem Größten unter den zeitgenössischen Historienmalern, dem Schöpfer des genialen Totentanzes und des grandiosen Hannibalzuges über die Alpen, Alfred Rethel. Schon damals war sein hoher, phantastischer Geist von der beginnenden Krankheit verschattet, die dann so bald ihn hinraffen sollte. Seine treffliche, charaktervolle Frau hatte ihn nach Rom geführt, in der Hoffnung, sein verstörtes Gemüt werde sich in der Nähe seiner geistesverwandten großen Vorgänger beruhigen. Ich sah an ihrem tieftraurigen Blick, als ich sie in einer Trattorie begrüßte, daß sie an diesem Heilversuch bereits zu verzweifeln begonnen hatte.
Unter all meinen Malerfreunden der Stammfreund aber[147] war der mir von Berlin her bekannte Julius Muhr, der mit Echter zusammen die großen Kaulbachschen Wandgemälde im neuen Museum in enkaustischer Technik ausgeführt hatte. Durch diese jahrelange Frone im Dienst eines anderen Meisters von sehr ausgesprochener Eigenart war seine selbständige künstlerische Entwicklung gehemmt worden, was er hier in Rom erst recht mit Schmerz empfand, so daß er es in der ersten Zeit nicht übers Herz brachte, einen Pinsel anzurühren. Er war in seiner feinen Bescheidenheit und Herzenswärme ein so erfreulicher Kamerad, daß wir ihn bald liebgewinnen mußten. Ein weiteres Band zwischen uns Beiden war seine heimliche und im stillen erwiderte Herzensneigung zu einem auch mir bekannten liebenswürdigen Berliner Fräulein, Mathilde v. Colomb, die er erst neun Jahre später heimführen konnte. Leider sollte das Glück dieser Ehe nicht lange dauern, da er schon 1865, nachdem wir in München vier Jahre lang die alte römische Kameradschaft erneuert hatten, uns durch den Tod entrissen wurde. Seine Witwe – ich hatte sie in meinem sechzehnten Jahr kennen gelernt, im Hause ihres Onkels, des Leibarztes der Königin, Dr. v. Stosch, der unser Hausherr in der Behrensstraße war, – ist mir bis zum heutigen Tage in ältester herzlicher Freundschaft verbunden geblieben.
Auch Muhr aber hatte endlich wieder zu malen angefangen, sogar ein größeres Bild aus der Sixtinischen Kapelle entworfen, in der während einer feierlichen Funktion Seine Heiligkeit der Papst und sämtliche Kardinäle versammelt erschienen. Einflußreiche geistliche Würdenträger hatten ihm ihre Protektion und sogar einige Sitzungen gewährt, in der stillen Hoffnung, den jüdischen Künstler dadurch zur Taufe zu locken, was ihnen freilich mißlang. Daneben aber wurde unser Freund noch immer von dem Romweh geplagt, das alle redlichen Künstler befällt, die vom Norden in diese Welt erhabener Reliquien einer größeren, künstlerisch begabteren Zeit eintreten und zunächst in tiefer Verzweiflung ihres Unvermögens sich bewußt werden, bis sie nach und nach, wenn sie sich zu dem demütigen Verzicht auf die höchsten schöpferischen Großtaten durchgerungen haben, sich auf ihr eigenes Lebensrecht[148] besinnen und von jenem schmerzlichen Aufruhr ihres Innern wenigstens den Gewinn davontragen, daß sie sich geloben, stets ihr Bestes zu tun und, so viel oder wenig es sein möchte, alles an alles zu setzen.
So kam denn auch unser guter Freund mit der Zeit wieder ins Gleichgewicht und nahm an allerlei Humoren harmlos teil. Unter anderm half er zu einem scherzhaften Projekte mit, durch das wir unserer satirischen Stimmung gegen den archäologischen Dünkel, der in Rom grassierte, Luft machen wollten. Wir verabredeten, daß ich ein Gedicht in elegischem Versmaß schreiben und Muhr, ohne den Inhalt zu kennen, Zeichnungen nach Art antiker Vasenbilder entwerfen sollte. Ribbeck hatte dann die Aufgabe, eine gelehrte Abhandlung zu schreiben, in der er nachwies, daß jene Vasenbilder sich unzweifelhaft nur auf diese Dichtung beziehen könnten. Letztere kam denn auch zustande (»Die Furie«) und Muhrs Illustrationen ebenfalls. Die Abhandlung aber, zu der es unserm Freunde nicht an satirischem Talent fehlte, blieb in den ersten Anläufen stecken, da seine Arbeit am Vergil ihm hinlänglich zu schaffen machte.
* * *
Indem ich hieran zurückdenke, ist es mir verwunderlich, was uns zu dieser heimlichen Bosheit gegen die hohe Wissenschaft, die ihren Sitz auf dem Kapitol hatte, aufreizen konnte.
Wohl hatte mich Burckhardt, als ich ihn vor der römischen Reise sprach, gewarnt, den kapitolinischen Großmächten nicht zu nahe zu kommen, da sie harmloser Rompilger sich gern bemächtigten. Wir hatten jedoch allen Grund, dieser Gespensterfurcht zu lachen, da von keiner Seite ein Versuch gemacht wurde, Ribbeck einzufangen, und wir uns nur der größten Bereitwilligkeit zu rühmen hatten, mit welcher der treffliche Henzen und der jüngere Brunn, die neben dem weniger bedeutenden Braun auf dem Kapitol die deutsche Wissenschaft mit allem Glanz vertraten, uns in Rom die Wege ebneten. Dazu kam, was uns als ein besonders günstiges Zusammentreffen erschien, daß auch der ehrwürdige Welcker, der Patriarch der damaligen antiken Altertumsforschung,[149] diesen Winter in Rom zubrachte und uns beide mit der ganzen Herzensanmut, die ihm eigen war, als seine Schüler von Bonn her begrüßte. Trotz seiner hohen Jahre und nicht gar festen Gesundheit ließ er es sich nicht nehmen, am 10. November bei kalter Nebelluft uns zu einer Fahrt nach Tivoli abzuholen, wo er uns zu allen malerischen oder sonst denkwürdigen Stätten führte, zehn Tage später mit uns und Braun nach dem Tal der Egeria und dem Grabmal der Cecilia Metella zu wallfahrten und an einem strahlend hellen Sonnentage zu Ende des Jahrs unsern Cicerone in der Villa Ludovisi zu machen, deren herrliche Bildwerke durch sein deutendes Wort ein ganz ungewöhnliches Leben gewannen.
Wir hatten noch die Freude, den verehrten Alten an einem gastlichen Abend in Ottos Wohnung zu sehen, bei gutem Orvieto, einem Gallinaccio und römischem Salat, nur unser sieben, von denen der Alte der geistsprühendste war, der vor Mitternacht nicht an den Aufbruch dachte.
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An all dieser fröhlichen Geselligkeit nahm Onkel Theodor keinen Teil, eingerostet, wie er war, in seine Junggesellengewohnheiten, aus denen ihn auch die beflissensten Versuche einer Wiener Dame, mit der ich durch ihn bekannt geworden war, nicht herauszulocken vermochten.
Es war dies eine Frau Obermeier, die, von ihrem Manne getrennt, mit ihren beiden eben herangeblühten Töchtern ihren bleibenden Wohnsitz in Rom aufgeschlagen hatte. Ein Hausfreund, Bosino, den der Gatte selbst als einen Ersatz für das gestörte Eheglück ihr zugeführt hatte, ein Grieche von ungewöhnlicher Bildung und den besten gesellschaftlichen Formen, leitete die Erziehung der jungen Mädchen und besorgte alle geschäftlichen Angelegenheiten der Mutter. Jedermann fand dieses Verhältnis durchaus in der Ordnung, wenn auch die römisch-deutschen Familien die treffliche Frau mit ihren Töchtern und dem Freunde nicht an sich herankommen ließen. Sie empfand durchaus keinen Kummer darüber und entschädigte sich für das Versagte durch den häuslichen Verkehr[150] mit alleinstehenden Künstlern, unter denen Riedel der verehrteste war, und Fremden, die ihr von irgend einer Seite wünschenswert erschienen.
Ein Abend in jeder Woche versammelte die Intimen in diesem liebenswürdigen Hause, wo man nach der Cena, bei der es an edlem Wein nicht gebrach, noch eine Stunde beisammen blieb, in angeregtem Gespräch. Zuweilen wurde auch Musik gemacht; eine der sehr anmutigen Töchter, die schwarzäugige Jetti oder die blonde Miezi, setzte sich an den Flügel und begleitete den jungen Bremer Komponisten Reinthaler, der damals auch mit unserm Freundeskreise zusammenhing, bei seinem sonoren Gesang. Manchmal wuchs die Stimmung zu solcher Höhe, daß es nicht möglich war, sich nur in Prosa der verehrten Hausfrau dankbar zu bezeigen, und ich wohl oder übel mich zu einer Improvisation verstehen mußte.
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Über all diesen geselligen Freuden und den Streifzügen durch Kirchen, Paläste und Galerieen kam jedoch auch die Arbeit nicht zu kurz.
Von Florenz her war mir der Perseus des Benvenuto Cellini während der ganzen Fahrt beharrlich nachgegangen. Wie ich ihn auf seinem hohen Piedestal in der Loggia de' Lanzi hatte stehen sehn, das Haupt der Medusa, das er abgeschlagen, hoch erhoben, den Blick düster gesenkt, war mir's vorgekommen, als habe ihn eine schaudernde Reue erfaßt, daß er dies zauberhafte Weib entseelt habe und nun verdammt sei, auf ihren kalten, weichen Leib mit seiner geflügelten Sohle zu treten. Ich hatte mir ein tragisches Märchen zusammenphantasiert, das ich, sobald ich zu einem Schreibtisch beim Onkel gelangt war, aufzuschreiben begann, in Knittelversen, die mir zu einem mythischen Puppenspiel, dem auch der Kasperle nicht fehlte, einzig geeignet schienen. Ich brachte das kuriose Ding sehr con amore in wenigen Wochen zustande und las es dem Onkel vor, der, wie mir schien, etwas anderes von mir erwartet hatte. Auch Anderen erging es so; ich wüßte nicht, daß einer meiner späteren Kritiker sich im Guten oder Bösen darauf[151] eingelassen hätte, als dieser mein römischer Liebling in den »Hermen« gedruckt erschien. Was ging mich's an? Hatt' ich doch meine Freude dran.
Weit mehr als an zwei anderen poetischen Aufgaben von größerem Gewicht: einem Trauerspiel »Saul«, zu dem mich meine fleißigen Bibelstudien angeregt hatten, und dem epischen Gedicht »Thekla«, dessen Stoff ich meinem Freunde Jakob Bernays verdankte. Er hatte mir die Legende von Paulus und Thekla in einem lateinischen Legendenbuch nach Rom geschickt und mir die Bearbeitung ans Herz gelegt. Zunächst ging ich mit lebhaftem Eifer daran, wagte freilich nicht, die Gestalt des großen und größten Apostels in meiner Dichtung erscheinen zu lassen, und schob ihm einen apokryphen Tryphon unter. Bald aber, aus verschiedenen Ursachen, erkaltete mein Feuer, nur die anerzogene Pflichttreue gegen eine begonnene Arbeit ließ mich den ersten Entwurf vollenden, und erst nach mehreren Jahren, auch dann nur mit halber Neigung, gewann ich es über mich, wieder daranzugehen.
»Saul« war in den ersten Szenen stecken geblieben. Vielleicht weil ich inzwischen, da ich an Alfieris Vita und seine Dramen geraten war, sein gleichnamiges Trauerspiel kennen gelernt hatte, wohl das farbigste und poetisch bedeutendste unter all seinen Stücken.
Auch an anderer Lektüre fehlte es nicht, soweit Onkel Theodors kleine Bibliothek versehen war. Zunächst Dante; es tauchte sogar einmal der Plan auf, gemeinschaftlich die Vita nuova zu übersetzen, aus der ich einige der schönsten Sonette und Kanzonen nachgedichtet hatte. Übrigens eine unmögliche Hoffnung, von dem Reiz einer altertümlichen, mit Edelrost angehauchten und doch seit sechshundert Jahren unverwüstlich jungen Dichtersprache eine Vorstellung zu erwecken.
Manzonis »Adelchi« waren dazwischen an die Reihe gekommen, Apulejus, Lucians Göttergespräche und saturnalische Verhandlungen. Von Deutschen natürlich in der Gesellschaft des Onkels, des andächtigen Goetheverehrers, viel von ihm, seine lyrischen Sachen zumal, die wir beide freilich auswendig[152] wußten. Sie dienten aber als Stimmgabel, um die Catullübersetzung zu prüfen, ob überall der natürlichste Ausdruck gefunden war. So saßen wir, da ich die Morgenstunden stets zu Hause blieb, manchmal Jeder in seinem Zimmer mit Versen des Anderen beschäftigt, die einer strengen Feile unterworfen wurden, die Tür zwischen uns offen, damit wir uns sofort über unsere Anstöße und Änderungsvorschläge verständigen konnten.
Gegen Zehn, wenn er sich zu seinem Gange in den Palazzo Orsini rüstete, brach ich nach dem Vatikan auf, wo die eigentliche »offizielle« Arbeit meiner wartete. Am 12. November hatte ich den hohen Arbeitssaal der Bibliothek Seiner Heiligkeit zum erstenmal betreten, den ersten provenzalischen Codex in Empfang genommen und mir meine paläographischen Sporen daran verdient. Freund Otto saß nahe bei mir über einer großen Vergilhandschrift, ein paar andere deutsche Gelehrte hatten uns bewillkommnet, es war eine behaglich feierliche Stimmung in dem stillen Gemach, über das der wortkarge, aber höfliche Kustode Monsignor Martinucci die Aufsicht führte. Von den italienischen Kollegen sind wir keinem einzigen nähergekommen.
Mein Reisestipendium war mir bewilligt worden, um auf italienischen Bibliotheken nach ungedruckten romanischen Handschriften zu forschen, und eine Anzahl von Troubadour-Codices, die mir teils durch meinen Lehrer Mahn, teils durch Adalbert v. Kellers »Romvart« bekannt waren, hatte ich nach und nach durchzusehen und auszubeuten im Sinne. Dabei hatte ich aber die Rechnung ohne den Wirt gemacht.
Nach den Verordnungen der päpstlichen Bibliothek war es verboten, irgend etwas ohne vorher erlangte Erlaubnis abzuschreiben. Man hatte nur das Recht, nachdem man überhaupt in dem Arbeitssaal zugelassen war, die Handschrift zu studieren, di studiare sopra i codici, und kleine Notizen zu machen.
Hieran war mir wenig gelegen. An eine kritische Textausgabe, wie Otto Ribbeck sie bei seinem Vergil im Auge hatte, dachte ich nicht. Es wäre mir töricht erschienen, die provenzalische[153] Lyrik mit ihrem konventionellen Redeschmuck so wichtig zu nehmen, wie einen griechischen oder römischen Dichter, bei dem es oft auf ein mehr oder minder charakteristisches Beiwort ankommt. Freilich galt es auch hier, einen richtigen Text zu schaffen. Das aber überließ ich den richtigen Philologen, während ich vor allem an der Erweiterung unserer Kenntnis von dem, was überhaupt vorhanden war, Interesse hatte, besonders daran, ob neben der höfischen Lyrik nicht auch noch epische Dichtungen zu finden seien, von denen bisher so gut wie nichts überliefert war.
Auf Abschlag nahm ich indessen auch mit unedierten Liedern vorlieb, die nun freilich verbotene Ware waren. Ich hatte mir ein Exemplar der Mahnschen Troubadours mit weißem Papier durchschießen lassen und dachte es sehr klug anzustellen, wenn ich zwischen dem Kollationieren schon gedruckter Texte dann und wann ein vollständiges, noch unediertes Lied in mein Buch hinüberschmuggelte. Aber den scharfen Augen des Herrn Kustode entging dies Manöver nicht. Plötzlich schoß er wie ein Sperber auf ein Huhn, das eben ein gutes Korn aufgepickt hat, auf mich zu und untersagte mir im schärfsten Ton, die regolamenti fernerhin zu verletzen.
Damit war der wissenschaftliche Zweck meines römischen Aufenthaltes so gut wie vereitelt. Zwar standen mir noch einige andere Bibliotheken offen, so die Casanatensis, die aber wenig Ausbeute bot, und die Barberiniana, aus der ich wenigstens ein langes, nicht uninteressantes altfranzösisches Lehrgedicht mir an eignen durfte. Der Hauptschatz aber an handschriftlichen Seltenheiten befand sich in der Vatikana, und wahrlich, es war ein törichtes Vorurteil, als ob der Wert derselben durch die Bekanntmachung verringert würde, da vielmehr Edelsteine, die in einer dunklen Truhe vergraben jedem Auge entrückt bleiben, nicht mehr Wert haben als gemeine Kiesel.
Nun hatte es freilich eine besondere Bewandtnis damit, daß das vatikanische Hausgesetz gerade an mir mit so rigoroser Strenge geübt wurde. Von Berlin her war mir durch die Schuld meiner »Francesca von Rimini« der Ruf eines unsittlichen jungen Menschen voraus- oder nachgegangen und auch[154] zu der geistlichen Behörde gedrungen, die darüber zu wachen hatte, daß keine anrüchigen Fremdlinge in das Heiligtum der päpstlichen Bücherei eindrängen. Zum Überfluß hatte ich in meiner Eingabe erklärt, daß es mir um die provenzalischen Handschriften zu tun sei, und ihre Dichter standen in dem wenig begründeten Verdacht, das Äußerste an Zuchtlosigkeit geleistet zu haben, so daß man besorgen mußte, dieser liederliche junge Berliner, noch dazu ein Protestant, wünsche nur sich einzuschleichen, um noch unbekannte obszöne Dichtungen aus der Bibliothek Seiner Heiligkeit zu veröffentlichen.
Ich wurde daher von verschiedenen Seiten scharf bewacht, und als ich zu schreiben fortfuhr, sogar nur abweichende Lesarten auf einzelne Blätter notierte, erfolgte meine Ausweisung – am 8. Januar – und auf meine Frage nach dem Grunde, da ich mich jetzt in nichts mehr vergangen hätte, der lakonische Bescheid: Questo è il mio ordine.
Nun muß ich freilich bekennen, daß diese Wendung der Dinge mir nicht halb so unerwünscht war, wie ich den maßgebenden Personen gegenüber in sittlicher Entrüstung verlauten ließ. Statt der unersprießlichen Bibliotheksfrone war vieles in Rom, was ich mit mehr Freude und Nutzen an den nun freigewordenen Vormittagen mir zu Gemüte führen konnte. Aber da ich in offizieller Mission auf Staatskosten in die Vatikana abgeordnet war, konnte ich mich bei der Tatsache, daß der Kardinalstaatssekretär Antonelli meine Ausweisung befohlen hatte (Scacciatelo subito!), nicht beruhigen.
Mein Onkel dachte zuerst durch seine alten römischen Verbindungen es dahin zu bringen, daß ich wieder zugelassen würde. Sie versagten alle. Auch diplomatische Vermittlungsversuche, die Verwendung des Königs von Bayern, an den ich auf den Rat des Grafen Spaur eine Eingabe machen mußte, zu meinen Gunsten, nicht minder die Bemühungen des preußischen Gesandten Graf Usedom blieben ohne Erfolg. Bei letzterem wurde ich einmal zu Tisch gebeten, wo ich außer dem alten Kestner (dem »Sohn von Werthers Leiden«) auch einen andern Träger eines berühmten Namens, den Legationsrat[155] Wolfgang v. Goethe traf, einen stillen, ernsten Mann, der über Tisch nicht zehn Worte von sich gab.
Die Sache selbst rückte trotz aller Bitten und Beschwerden nicht vorwärts. Nur zuletzt erlebte ich noch ein Pröbchen römischer Geschäftspraxis. Es wurde mir eröffnet, daß sich ein Grieche gefunden habe, ein gewisser Matranga, der sich der Mühe unterziehen wolle, diejenigen Troubadourlieder, die ich bezeichnete, und die vorher geprüft werden sollten, für ein anständiges Honorar zu kopieren. Da dieser dunkle Ehrenmann mir sehr wohl bekannt war, konnte mir dieses Kompromiß nicht einen Augenblick verlockend erscheinen. Ich war nicht nach Rom geschickt worden, um für schweres Geld von einem Andern, der kein Wort Provenzalisch verstand, Inedita abschreiben zu lassen.
Ich wies also dies freundliche Ansinnen zurück und nahm, wie gesagt, die Sache auf die leichte Achsel, da ich dem preußischen Ministerium gegenüber meinen Eifer, das Reisestipendium redlich zu verdienen, klar bewiesen hatte.
* * *
Um so freier und fröhlicher genoß ich nun alles Herrliche, was ein römischer Winter nur bieten konnte. Unter anderen freien Künsten befliß ich mich auch wieder des Zeichnens, nach einem oder dem anderen der Modelle, die an der Spanischen Treppe den Malern sich anzubieten pflegten, darunter eine nicht mehr ganz junge Chiaruccia, die einen prachtvollen Rassekopf hatte, und anderer römischer Typen, wie sie mir in den Ateliers meiner Malerfreunde vor Augen kamen. Eines der schönsten Mädchen Roms wohnte unserm Hause benachbart. Ich hatte oft Gelegenheit, sie von unserer Loggia aus zu beobachten, wenn sie auf ihrem Altan mit einer häuslichen Verrichtung beschäftigt war. Leider war es nicht möglich, sie zu einer Sitzung zu bewegen. Unsere Pia wußte, wie Jeder in der ganzen Nachbarschaft, daß die Schöne in festen Händen war, da sie vor dem Herrn Pfarrer von S. Andrea delle Fratte Gnade gefunden hatte. Auch der talentvolle neapolitanische Maler Morani, dessen Studio im dritten Stock unseres Hauses[156] lag, hatte vergebens seine Angel nach ihr ausgeworfen. Für hundert Scudi wollte ihre Mutter ihre Einwilligung geben. Das war ihm denn doch zu teuer erschienen.
So kam langsam und doch zu schnell der Karneval heran; am 7. und 8. Februar verzeichnet mein Tagebuch unsere Teilnahme an dem tollen Maskengewimmel, das sich den Corso hinauf und hinunter trieb. Damals wohl noch ziemlich im Stile jener alten Zeit, wie wir sie aus Goethes gewissenhafter Schilderung kennen. Doch war das Wetter schlecht, die Straße schmutzig, der Confettiregen, von den Balkonen brutaler Engländer schaufelweise auf die bunte Menge hinabgeschüttet, durchaus kein anmutiger Scherz, so daß es eine Weile dauerte, bis auch wir auftauten, Sträußchen schleuderten und an den schönen Augen an Fenstern und Balkonen Feuer fingen. Bald hatte jeder die Seine gefunden, der er vorzugsweise huldigte, und ich besonders als ein leidenschaftlicher Ballspieler betrieb das Werfen und Fangen der kleinen Blumensträuße mit immer lebhafterem Eifer, bis ich zuletzt an einem stillen, blonden Gesicht mit großen, grauen Augen hängen blieb, das zwischen greisen Eltern- und Tantenhäuptern vom Balkon eines Erdgeschosses mir zulächelte und mich durch eine gewisse deutsche Sanftmut und unrömische Lieblichkeit fesselte. Ich ließ nun alle anderen weit Schöneren fahren und eröffnete auf dieses zarte Wesen ein hitziges Blumenbombardement, das kräftig erwidert wurde. Die Dunkelheit stellte einen Waffenstillstand her; am andern Nachmittag aber wurde der lustige Krieg von neuem eröffnet, und als wir im Obermeierschen Wagen den Corso hinunterfuhren, ein wahrer Blütenregen auf das blonde Fräulein herabgesendet. Ja, ich stieg dann aus, kaufte einen großen Rosenstrauß und kletterte damit an ihrem Balkon hinauf, ihn feierlichst ihr zu überreichen und mit einem Händedruck dafür belohnt zu werden.
Am andern Tage, dem Aschermittwoch, begegnete ich ihr im Corso und zog mit einem halb vertraulichen Lächeln den Hut. Mein Gruß wurde nur mit einem unmerklichen Neigen des Kopfes und einem völlig fremden Blick erwidert. Man war in die Fasten getreten, und die ungebundene Maskenfreiheit[157] mußte der strengen römischen Sitte weichen, die einem Mädchen jeden Verkehr mit einem fremden Herrn verbietet.
Auch Freund Muhr hatte für seine Huldigungen einen anmutigen Gegenstand gefunden, eine schöne, schlanke Engländerin, die leider ihren Platz am Fenster eines zweiten Stockwerks hatte, so daß eine Verbindung mit ihr durch Blumensendlinge einige Schwierigkeiten hatte. Damit aber wollte der galante Freund sich überhaupt nicht begnügen. Er entwarf auf einem Quartblatt eine allegorische Zeichnung mit Amoretten, Rosen und Nachtigallen, zu der er sich von mir einen Vers erbat. Um zu zeigen, wie sehr uns die Karnevalslaune zu Kopf gestiegen war, mag diese Probe meiner sehr fragwürdigen englischen Verskunst hier ihren Platz finden:
Such is old Carnival's stern sentence:
After short joy long sorrow and repentance.
Fresh flowers, sweet confetti, sweeter eyes
Are in his lovely malice his allies,
And the poor victim makes – o irony! –
A trophy to his own fair enemy.
Dies sorgsam gemalte und geschriebene Blatt wurde zusammengerollt und mit einem roten Seidenbande umwickelt, das zugleich ein Veilchensträußchen festhielt. Ich wurde dann mit der Aufgabe betraut, die Rolle nach jenem Fenster des zweiten Stocks hinaufzuschleudern. Zweimal fiel sie, da man sie nicht geschickt auffing, zurück auf die schmutzige Straße und mußte erst am nächsten Brunnen wieder gereinigt werden. Beim dritten Male erreichte sie ihr Ziel. Es war aber verlorene Liebesmüh'. Von einem besonders liebenswürdigen Dank oder gar einer Erwiderung war keine Rede.
* * *
So ging der Winter zu Ende, einer jener gelinden römischen Winter, in denen man schon im Januar Veilchen in der Campagna pflückt, aber während der langen, schwülen Scirokkowochen manchmal ein starkes Heimweh nach nordischem Schnee und klingendem Frost verspürt.[158]
Zumal wenn in den trüben und feuchten Häusern die eisernen Öfen versagen, wie es auch der meine zu tun pflegte, den ich in meiner kahlen Erdgeschoßklause auf eigene Kosten hatte setzen lassen, ohne sonderlichen Nutzen, da er bei dem leisesten Wind dermaßen zu rauchen anfing, daß ich mich vor ihm auf die Straße flüchten mußte.
Zu diesem meteorologischen Heimweh gesellte sich auf die Länge noch ein anderes, das in der Seele seinen Sitz hatte. Die Trennung von meiner Liebsten, über die ich anfangs durch hundert merkwürdige neue Eindrücke mich hatte beschwichtigen lassen, wurde zuweilen, wenn ein Brief ungebührlich lange ausblieb oder gar verloren ging, schier unerträglich, die sehnsüchtige Stimmung machte sich vergeblich in lyrischen Stoßseufzern Luft, und auch die Ungebühr, die mir im Vatikan angetan worden war, und für die ich keine Genugtuung erhalten konnte, nagte an mir, da sie beständig durch den Kampf um mein Recht mir gegenwärtig blieb. Zum Ausbruch kam's am 10. März durch die Eröffnung eines Freundes meines Onkels, Dr. Marstaller, über die Intrige jenes Don Pietro Matranga und meinen üblen Ruf als Verfasser »lasziver Poesien«, in den mich nur ein Landsmann bei der geistlichen Behörde gebracht haben könne. Der Ingrimm darüber verursachte mir ein heftiges Kopfweh, eine Erkältung trat hinzu, und an die erste Fiebernacht reihten sich acht kranke Tage einer schweren Influenza, die damals als ein Nervenfieber angesehen wurde und einmal sich so bedenklich steigerte, daß die Sache eine schlimme Wendung zu nehmen schien. In jener gefährlichen Stunde ereignete sich auch der seltsame Fall einer geistigen Wirkung in die Ferne, den ich in der ersten Geschichte der »Geisterstunde« erzählt habe, meine »Ankündigung« bei meinen beiden teuersten Menschen zu Hause.
Mein Onkel, der mit der treuen Pia mich aufs liebevollste pflegte, hatte gleich bei Beginn der Erkrankung seinen alten Freund, Dr. Alertz, zu Hilfe gerufen, der durch eine glückliche Kur an Pio nono, zu der keiner der italienischen Ärzte Mut und Kenntnisse genug besessen, das Vertrauen des Papstes gewonnen hatte und sein Leibarzt geblieben war. Ob ich es[159] mehr diesem trefflichen Manne oder meiner Jugendkraft verdankte, daß ich die böse Anfechtung überwand, will ich nicht untersuchen. Genug, nach einer Woche stand ich von meinem Schmerzenslager auf, genesen, aber mit wankenden Knieen und so taumelndem Gehirn, daß an eine Fortsetzung meiner Romstudien nicht zu denken war und eine gründliche Luftveränderung geboten schien.
Unter den Freunden, die mich während meiner Rekonvaleszenz besuchten, war auch einer, dessen ich bisher nicht erwähnt habe, obgleich ich bald nach meiner Ankunft mit ihm bekannt geworden war, Ferdinand Gregorovius, der spätere Geschichtsschreiber der Stadt Rom im Mittelalter. Wir hatten wohl bald den Gegensatz unserer Naturen empfunden, da er, ein Anhänger der Schlosserschen Schule, mit einem gewissen sittlichen Rigorismus alle Zustände der bunten römischen Welt betrachtete, während ich zunächst an ihrer naiven, sinnlichen Lebenskraft mich ergötzte und moralische Maßstäbe anzulegen mich nicht berufen fühlte. Dazu kam bei dem um einige Jahre älteren Ostpreußen, der in der Stadt der reinen Vernunft aufgewachsen war, ein feierlich getragenes Benehmen, ein pathetischer Stil, der sich auch in seinem Gespräch nicht verleugnete, und ein völliger Mangel an Humor, so daß ich mich kaum entsinne, ihn je herzlich lachen gehört zu haben. Er blieb sich jeden Augenblick in gehobener Stimmung bewußt, daß, wohin er auch treten mochte, überall geweihter historischer Boden sei, während ich mir durch antike Reminiszenzen die harmlose Freude an der Gegenwart nicht einschüchtern ließ.
Bei alledem schätzte ich seine Kenntnisse und Talente und hatte seine schöne epische Dichtung »Euphorion« im »Literaturblatt zum Deutschen Kunstblatt« aufs günstigste besprochen, während ich mit seinem »Hadrian« mich nicht befreunden konnte. So behandelten wir uns mit kühler Freundlichkeit, die auch lange Jahre nachher, als der römische Ehrenbürger nach München übergesiedelt war, sich nicht zu einem tieferen Einverständnis erwärmen wollte.
Ich finde eine Stelle in meinem Tagebuch vom 21. März,[160] bald nach meiner Auferstehung, die dies Verhältnis anschaulich schildert.
»Gregorovius kam mit einer Beichtvater- und Seelsorgermiene, mir mein Wesen klarzumachen. Meine Gedichte seien nicht warm und so weiter. (Es fehlte ihnen freilich jede Spur von Gesinnungsrhetorik.) Er fragte dann, ob ich mich (über diese freimütige Kritik) ärgere. Allmählich ward mir's dieses naiven Moralisierens zu viel (zumal ich vom Fieber noch geschwächt war). Onkel Theodor wurde dann hereingezogen. Jeder sprach seine Sprache, und der Teufel verstand's.«
Meiner Rekonvaleszentenüberreizung mag es zugute gehalten werden, daß ich einen gewiß gutgemeinten Versuch, sich um mein dichterisches Seelenheil verdient zu machen, so übel aufnahm. Ich war sonst immer dankbar für unumwundene Freundeskritik; aber wessen Natur nicht mit einem vollen Tropfen Humor gewürzt war, auf dessen Verständnis meiner Art und Kunst verzichtete ich von vornherein.
* * *
Die zweite Hälfte des März hatte greuliche Regen- und Hagelstürme gebracht, so daß wir endlich froh waren, die unwirtlich gewordene Stadt verlassen zu können. Ein Vetturin war gedungen worden, der uns für zehn Scudi die Person und die mancia nach Neapel bringen sollte. Zwölf Paul hatte der Paß gekostet, aber der babbo zu Hause hatte gesorgt, daß wir nicht als Landstreicher, sondern als Signori unsere Reise antreten sollten. Zum Schlusse erlebten wir noch am 29. März das überwältigende Schauspiel der Girandola, des Feuerwerks, das von der Höhe der Engelsburg in märchenhafter Pracht gegen den schwarzen Sternenhimmel emporflammte, während Tausende von Lampen die erhabenen Umrisse der Peterskuppel und alle Säulen und Architrave ihrer Fassade mit Perlenschnüren einsäumten.
Noch eine Menge Abschiedsbesuche, bei den Kapitolinern Welcker, Henzen und Brunn, den lieben Obermeiers, meinem Lebensretter Dr. Alertz, und am Abend des 30. ein Fest im Künstlerverein, wo fünfundneunzig efeubekränzte Kollegen[161] Riedels fünfundzwanzigjähriges Romjubiläum feierten (Anrede der Roma an ihn, Lorbeerkranz mit sibernen Früchten und silbernem Ring, Festgesang und Überreichung eines Diploms mit einer Zeichnung, wie Riedel die Sonne bestiehlt) – und unser letzter Tag in Rom war zu Ende gegangen.
Am andern Morgen holte uns der Vetturin aus unseren Häusern ab, und um acht Uhr fuhren wir in weicher Regenluft dem Lateran vorbei gen Süden.
Vier volle Tage brauchte man damals zu der Fahrt, die heute in einem einzigen zurückgelegt wird. Man gewann dabei aber eine Kenntnis jenes merkwürdigen Gebietes zwischen Rom und Neapel, wie man sie im Vorübersausen auf der Eisenbahn nicht erlangen kann. Über Albano lief die Straße zunächst bis Velletri, von da am zweiten Tage, immer das reizende Kap Circello im blauen Duft vor Augen, bis Terracina. Wie schauerlich »romantisch« war's, langsam durch die Pontinischen Sümpfe zu fahren, immer bedacht, die Augen offen zu halten wegen der Warnung vor der Malaria, die jeden Schläfer befalle, zum Teil auch, um gleich auf dem qui vive zu sein, wenn Fra Diavolos Spießgesellen aus der macchia sprängen und uns ihr faccia in terra! zubrüllten. Fieber und Banditen ließen uns ungeschoren, nur an der Rechnung am andern Morgen erkannten wir, daß die räuberischen Traditionen dieser klassischen Brigantengegend noch im stillen forterbten. Aber was man in dem malerischen Neste zu sehen bekam, war's schon wert, als unsichtbarer Posten auf der Nota mitzufigurieren. Spaziergang den Felsen hinauf zwischen Fichi d'India, Palmen und schönen Ölbäumen. Der Weg biegt vor der Stadt rechts ab, steil hinauf, an Hütten vorbei, in denen Steinmetzfamilien hausen. Auf der Höhe wächst Stadt und Kloster sehr stattlich empor. Ein Schwarm bildschöner Jungen in Lumpen geleitet uns rechts die steinige Straße hinauf nach Kastell S. Angelo. Stadt und Hafen, das Meer, links das Gebirge, rechts Kap Circello und die schwarzen Wasser der Sümpfe. Meer und Luft von heiterer Bläue. Die Ruinen nicht bedeutend, eine verfallene Kapelle mit verblichenen Fresken. An der Spitze des Knabenschwarms[162] ein stolzer Junge, der die andern anfuhr wie der Wolf eine Schafherde. Dann zurück, dem Kloster vorbei durch engste Straßen, wunderschöne Männer, Frauen mit Locken an den Seiten, die Haare schön geflochten. Alles bettelt. Eine Art Markt im Durchgang neben der Kirche, zu der eine Freitreppe aufsteigt, mit schlankem Campanile. Drinnen nichts von Belang. Hinab an die Küste, wo eine Schöne, namens Silvia, sich nicht dazu versteht, gezeichnet zu werden, während eine Horde Fischerbuben die halben Bajoccos, die ins Meer geworfen werden, um die Wette tauchend herausfischt.
»Dann am Abend die ganze Felswand dem Wirtshaus gegenüber von Millionen Leuchtkäfern überflimmert und der herrlichste Glanz des Firmaments.«
Der geneigte Leser fürchte aber nicht, daß ich ihn mit ähnlichen Auszügen aus meinem Tagebuch bis nach Neapel hinhalten werde. Nur der Versuchung konnte ich nicht widerstehen, in einer Probe zu zeigen, was das heutige atemlose Hindurchjagen durch die merkwürdigsten südlichen Gegenden dem Reisenden an wundersamen Eindrücken vorenthält.
Und so brachte uns der 2. April über Fondi, Itri, Molo di Gaeta nach Sant' Agata. Ein biederer irischer Brauer aus Belfast, der sich zur Ruhe gesetzt hatte – den Namen dieses Ehrenmannes, John Porter, will ich nicht verschweigen, da er eine so erfreuliche Ausnahme von der unholden Manier der meisten seiner reisenden Landsleute machte – dieser Treffliche hatte mich und Ribbeck in Affektion genommen und sorgte bei jeder Gelegenheit wie ein alter Onkel für unser Wohl. So war er, da die Straße bergauf ging, drei Miglien vor Sant' Agata ausgestiegen und hastig vorangestiefelt. Als wir dann unser Nachtquartier erreichten, begrüßte er uns mit stolzem Augenzwinkern vor dem Gasthause und vertraute uns, daß er das beste, einzig gute Zimmer für uns in Beschlag genommen habe.
Am nächsten Tage erreichten wir zu Mittag Capua, fuhren durch Atella durch, wo mein philologischer Freund, der einmal seine berühmte Geschichte der lateinischen Dichtung schreiben sollte, auf den Straßen nach Gesichtern spähte, die an die[163] Masken der alten, Atellanen genannten, Possenspiele erinnerten, und langten gegen Ave Maria in Neapel an.
* * *
Acht Tage hatten wir dazu bestimmt, »das Leben zu schlürfen an Parthenopes üppigem Busen«, nachdem wir »den Tod gelernt über den Trümmern der Welt«, wie A.W. Schlegel sich ausdrückt. Seltsam genug, daß wir lebensfrohen, jungen Leute einige Mühe hatten, nachdem wir den römischen Tod liebgewonnen, uns mit dem parthenopeischen Leben zu befreunden.
Wir waren nicht übel untergebracht im vierten Stock einer Maison garnie, wo wir die herrlichste Aussicht auf das Meer und zum Vesuv hinüber hatten. Auch war, trotz der heftigen Frühlingswinde, das Wetter leidlich genug, um von früh bis spät zu Fuß, zu Wagen und in der Barke alle berühmten Stätten: Posilipp, Grab des Vergil, Kastell S. Elmo, San Martino, Camaldoli zu besuchen, zuletzt auch noch eine schöne Meerfahrt an der Küste von Bajä zu unternehmen. Aller Zauber des Himmels und der Erde konnte uns aber unser Rom nicht vergessen machen, das hinter uns lag wie ein geheimnisvolles, mit wundersamen Bildern geschmücktes Buch, in dem wir nur erst geblättert, nur erst das Inhaltsverzeichnis studiert hatten, so daß uns eine unendliche Sehnsucht nachging, in den unerschöpflichen Text tiefer einzudringen.
Von antiken oder bedeutenden Bauwerken des Cinquecento war hier unten nichts zu finden, die Kirchen innen und außen in schlechtem Geschmack oder wie San Martino mit übermäßigem Prunk ausgestattet. Das Museo Borbonico bewahrte zwar die wundervollsten antiken Bronzen, aber mit dem überwältigenden Eindruck des Braccio Nuovo im Vatikan war nichts zu vergleichen, so wenig die Gemäldesammlung im oberen Stock, der es doch auch an Meisterwerken nicht fehlte, sich neben der Galerie Borghese oder gar den Stanzen Raffaels und der Sixtinischen Kapelle sehen lassen konnte.
Nach und nach fanden wir uns darein, hier auf große Kunstgenüsse zu verzichten und vor allem »das Leben zu[164] schlürfen«. Das wogte, lachte und lärmte nun freilich wilder und farbiger hier unten, als selbst im Corso Roms an den Tagen des Karnevals, und zumal in der breiten Straße, die vom Postgebäude unten am Hafen ins Herz der Stadt hineinläuft, konnte man sich stundenlang am Volksgewühl ergötzen, das sich um die offenen Garküchen und Weinbuden drängte und für wenige Gran seinen Hunger an Meerfrüchten stillte, die eben aus der siedenden Ölpfanne gefischt oder auf runde Maisfladen gelegt und gebacken wurden. Dazwischen flimmerten die ewigen Lämpchen vor den Madonnenbildern in den offenstehenden Häusern, Karren mit Orangen, lustig mit grünen Zweigen herausgeputzt, wanden sich langsam durch das Gewühl, hier und da saß eine Geldwechslerin an einem niederen Tische, auf dem die kupfernen Tornesi in großen Säcken aufgepflanzt standen, oder ein Weib, in Lumpen gekleidet, kauerte auf einem Strohstühlchen und bot mit der mageren, schmutzigen Hand ein kleines Bündel Kerzen oder ein paar Früchte zum Verkauf.
Hatte man sich endlich an diesem ewig gleichen und ewig wechselnden Schauspiel satt gesehen, so ging man in das unfern gelegene Theater San Carlino – das große San Carlo hatte Ferien – um in einer übermütigen Posse im Dialekt seine Studien des neapolitanischen Volkscharakters fortzusetzen.
Vom italienischen Theater hatten wir in Rom nur wenig charakteristische Eindrücke empfangen. Mein Tagebuch verzeichnet nur eine Aufführung zweier Komödien im Teatro Valle, La bella e la bestia und L'anello della madre, letztere besonders Kotzebuisch, beide sehr gut gespielt.
Außerdem ist mir noch eine wunderschöne Tänzerin Fuoco lebhaft in der Erinnerung geblieben, deren leidenschaftlicher Tanz ganz ihrem Namen entsprach. Eine Operngesellschaft scheint in jenem Winter in Rom nicht aufgetreten zu sein.
Desto glänzender erschien das mimische Talent, das den Italienern im Gegensatz zu uns Nordländern angeboren ist, in diesen Volkskomödien, die uns manchen Abend nach San Carlino lockten. So wenig wir wegen des Dialekts vom Dialog verstanden, so hoch ergötzten wir uns an der unwiderstehlichen[165] Komik der Gebärden, die uns den Gang der Handlung vollkommen verständlich machten. Die alte Tradition der Commedia dell' arte mit ihrer Improvisation auf Grundlage eines bloßen Szenars war hier noch lebendig, und das sprühende Temperament der Schauspieler hielt das ganze hohe und niedere Publikum unablässig im Bann eines wahrhaft elementaren Entzückens.
Selbst unser treuer irischer Reisegefährte, der sich unzertrennlich an unserer Seite hielt, fand an Pulcinella Vergnügen. Im übrigen hatte er mehr die Gabe, uns zu ergötzen, als sich selbst. Sein sonderbares französisches Radebrechen – er verstand nicht ein Wort Italienisch – brachte ihn oft genug in Verlegenheiten, ohne daß er darüber verlegen wurde. Den Doganieri in Fondi, die ihm andeuteten, er möge sich mit der üblichen Geldspende von der Durchsuchung seines Gepäcks loskaufen, erklärte er trotzig: Pas du tü! Vüs êtes tüs des voleurs, oui! (Er sprach das ou stets wie u.) Doch kam er damit durch. È malsano questo Signore, erklärte der Grenzwächter achselzuckend; non capisce l'italiano. – Auf der Fahrt an der Küste von Bajä geriet er, da die Schiffer sich nicht an das halten wollten, was wir ausbedungen hatten, in Wut und rief: Vüs êtes un farceur, oui! Um ein Haar wäre es zwischen ihm und dem beleidigten Barcarolen, der etwas von falsario gehört zu haben glaubte, zu einem Faustkampf in unserem schwanken Boot gekommen. Es gelang aber, die feindlichen Mächte zu versöhnen, nur verlangte Mister John Porter schleunigst ans Land gesetzt zu werden. Er liebte überhaupt Meerfahrten nicht. C'est trop motonone, oui!
Wir nahmen ihn dann auch nicht nach Pompeji mit, da wir fürchteten, er werde auch dort wenig nach seinem Geschmack und alles trop motonone finden. Uns selbst aber, zumal die glorreichste Frühlingssonne in die Gassen der auferstandenen Stadt hereinsah, waren dort einige Stunden so märchenhaften Zurückträumens in eine entschwundene Welt vergönnt, wie wir sie selbst in unserm geliebten Rom, zwischen Kaiserpalästen und Thermen nicht erlebt hatten.
[166] * * *
Nach acht Tagen nahmen wir Abschied von Neapel und unserm biederen irischen Freunde und fuhren in einem leichten Wägelchen an der lachenden Küste zu Füßen des Vesuvs nach Sorrent.
Was ich hier in der Rosa magra, »jener billigen, bescheidnen Künstlerherberg alten Stiles« durch vier unvergeßlich schöne Frühlingswochen erlebt habe, mag, wer daran Interesse hat, in den »Idyllen von Sorrent« nachlesen, die in ihrem Distichengeplauder ein wahrheitsgetreues Tagebuch jener Zeit enthalten.
Ich zumal genoß alles Schöne, Heitere und Seltsame des Sorrentiner Frühlings um so mehr con amore, da erst hier die letzten Nachwehen der römischen Fieberwoche mich verließen. Auch hatten wir uns bisher noch nie so tief in italienisches Volksleben eingelassen, wie in diesem Hause, wo kein deutscher Laut vier Wochen lang an unser Ohr drang und wir von den elf Geschwistern, die von vierzehn noch am Leben waren, nur allzu bereitwillig in die Lehre genommen wurden, da wir bei jeder Mahlzeit wenigstens drei oder vier Zuschauer hatten3.[167]
Daß hinter dieser zudringlichen Neugier doch auch ein herzlicheres Gefühl verborgen war, sollte ich fünfzehn Jahre später erkennen, als ich mit meiner Frau wieder nach Sorrent kam, Luisa, die Älteste der Familie, als Mutter einer erwachsenen Tochter und meinen damaligen Aufenthalt so unvergessen fand, wie ich es in einer Epistel an Scheffel mit einiger Rührung berichtet habe.
Dieser Altersgenosse war mir zuerst im vorigen November in Rom begegnet, und durch unsere gemeinsame Freundschaft mit Friedrich Eggers, der die Gabe besaß, kunstbeflissene junge Leute (seine »Leibschwaben«) an sich zu fesseln, waren wir bald einander näher gekommen.
Als ich ihm jetzt in Capri wieder begegnete, stand er noch am Scheidewege zwischen der Malerei, die seine erste Liebe gewesen war, und der Poesie. Doch hatte sich während der einsamen Monate, die er auf dem Eiland der Sirene verbracht, die Schale stark auf die Seite der letzteren gesenkt. Der »Trompeter von Säckingen« war entstanden, indem er auf dem flachen Dache der Herberge Paganos »unbarmherzig dichtend« auf und nieder schritt, mitten unter allem südlichen Zauber von Land und Meer ein Schwarzwaldlied voll von deutscher Minne und Humor »Aus dem Engern«. Wir beschlossen, in Sorrent eine »Akademie« zu gründen, in der aus Leibeskräften gezeichnet, gedichtet, philosophiert werden sollte. Das dritte Mitglied dieses würdigen Instituts ließ uns aber im Stich. Otto Ribbeck mußte nach Rom zurück seiner Arbeiten wegen, dann kam Scheffel in meine Rosa magra zu mir herüber, und wir blieben vierzehn Tage in heiterer Kameradschaft beisammen. Abend für Abend las er mir ein Kapitel seines »Sangs vom Oberrhein« und ich ein Stück meines »Perseus«. Ich ergötzte mich sehr an Fludribus, dem Zwerg Perkeo und dem Kater Hiddigeigei, mehr als an der Liebesgeschichte, die mir etwas düsseldorfisch-romantisch schien, und ahnte nicht von fern den ungeheuren Erfolg, den dieser Erstling des Freundes gewinnen sollte. Ja ich fand es immerhin verwegen, darauf eine Poetenzukunft zu gründen.
Um so freudiger habe ich dann den herrlichen Ekkehard begrüßt[168] und begriffen, daß die deutsche Jugend, zumal die trinkbare, das »Gaudeamus« mit heller Begeisterung aufnahm.
Wir machten noch zusammen einen fröhlichen Ausflug nach Pästum, bei dem uns eine Empfehlung Don Paganos an den Wirt der Cappuccini in Amalfi und die Padrona della Locanda del Sole in Salern sehr zustatten kam. Der Tag aber, der uns nach Pästum brachte, leuchtet noch heute in meiner Erinnerung nach als einer der seltenen, an denen kein Erdenrest den Flug in die Regionen des Erhabenen behindert hat.
Bei der Rückkehr in unsere Rosa magra fand der Freund einen Brief seiner Eltern vor mit der Nachricht, daß die Verlobung seiner schönen, sehr geliebten Schwester gelöst und sie infolge davon in eine schwere Krankheit verfallen sei.
Am nächsten Tage reiste der Bruder ab, um den Seinigen in dieser schweren Zeit nahe zu sein. Ich selbst blieb noch fünf Tage einsam zurück, um einer Arbeit willen, die mir auf der Fahrt über Amalfi nach Salern im Kopfe herangereift war.
Gleich in den ersten Sorrentiner Tagen hatte ich mich an ein wunderliches Lustspiel gemacht, zu dem ich den Plan fertig von Rom mitgebracht hatte, eine Episode aus dem Leben Samuel Footes (1719 in Cornwallis geboren), des originellen, dicken, witzigen Schauspielers und Theaterdichters, der durch einen Sturz mit dem Pferde ein Bein verloren hatte, aber mit seinem Stelzfuß in burlesken Rollen, zumal in Weiberröcken, große Erfolge hatte. In dem englischen Reisebuch des Peter Helferich Sturz hatte ich die Anekdote gelesen, wie er, um einem Freunde zu einer reichen, abergläubischen Frau zu helfen, den Wahrsager gespielt, so erfolgreich, daß er zur Belohnung von dem glücklichen Ehemann eine Leibrente erhielt, die ihm aus seiner beständigen Geldnot heraushalf. Was mich bewegen konnte, dieses dürftige Schwankmotiv zu bearbeiten, noch dazu in unserm Sorrentiner Paradiese, ist mir heute noch rätselhaft. Auch war das Ergebnis so armselig, daß, als ich das Stück später meinen lieben Kuglers vorlas, niemand sich daran belustigte, ja überhaupt, nachdem ich geendet hatte, kein Wort der Kritik laut wurde, so daß ich die Blätter, gleichfalls ohne ein Wort zu sagen, sofort in den Ofen steckte.[169]
Mit allerlei Lyrik, die in das Schreibheft des alten Justinus eingetragen wurde, war mir's besser geglückt. Nun, in der tiefen Einsamkeit, brachte ich auch die Novelle der Arrabbiata zustande, zu der ich ausgiebige Studien nach dem lebenden Modell gemacht hatte. Es war ein kaum siebzehnjähriges, blutarmes Ding, das mir dazu – saß, kann ich nicht sagen, da der Wildfang in beständiger, heftiger Bewegung war und daher von den Geschwistern in der Rosa magra jenen Spitznamen erhalten hatte; von Schönheit war in ihrem leidenschaftlichen, jungen Gesicht nichts anderes zu entdecken, als die feurigen Augen, die wundersam blitzten, wenn die Kleine mittags bei mir eintrat, mir ein paar irgendwo gestohlene Blumen auf den Tisch warf und dann im Zimmer herumsauste, daß ich sie endlich auf den Balkon hinausschaffen und die Glastür hinter ihr zuschließen mußte, durch die sie dann wie eine wilde Katze zu uns hereinfeixte. Sie hatte aber auch ihre stillen, melancholischen Tage, und beim Abschied brach sie in Tränen aus. Nach fünfzehn Jahren, als ich sie wieder sah, war sie eine gesetzte, gleichmütige, etwas korpulente Frau geworden und entsann sich nicht des Unfugs, den sie damals getrieben, während Luisa und ihre Schwester alles in gutem Gedächtnis behalten hatten.
Auch in einigen damals entstandenen Liedern spielt Laurella eine Rolle, gleichsam die Inkarnation wilder südlicher Mädchenjugend. Und so konnte ich, als ich am 15. Mai mein Bündel schnürte, doch auch ein paar dichterische Früchte mit hineintun, die mir in den Sorrentiner Zaubergärten herangereift waren.
* * *
An eine Besteigung des Vesuvs hatte ich nicht denken können, so lange Freund Ribbeck bei mir war, da wir ihn der Anstrengung nicht gewachsen glaubten. Als nun auch Scheffel mich verlassen hatte, fühlte ich mich nicht mehr dazu aufgelegt, das Abenteuer allein zu bestehen, sondern ließ den alten Wolkenversammler in Hoffnung eines späteren besseren Glücks hinter mir, zu dem es niemals kommen sollte.
In gleicher Hoffnung, die ebensowenig späterhin sich erfüllt[170] hat, hatte ich auch auf Sizilien verzichtet. Je höher die Sonne stieg, je rascher schmolz mir das Gold im Beutel. Auch stand ich im Dienst der Troubadours, denen ich weder in Palermo noch in Messina und Taormina zu begegnen Aussicht hatte. So fuhr ich am Pfingstmontag früh von Neapel fort, in einem überfüllten Postwagen (ein fetter Prete, ein englisches Ehepaar, ein Kapuziner, drei barmherzige Schwestern) den nun schon bekannten Weg über Capua, Sant' Agata und Molo di Gaeta, diesmal aber rascher als auf der Herfahrt, da wir Terracina schon am Abend des ersten Tages bei Mondschein und Illumination durch Lucciole erreichten. Am Nachmittag des 17. traf ich dann den Onkel und Freund Ribbeck, die mir bis Albano entgegengekommen waren. Wir schlenderten erst durch die schöne Villa Torlonia und die sehr verwilderte des Fürsten Barberini (olim ein Palast Domitians) und fuhren dann die vier Stunden lange Straße durch das Heideland nach Porto d'Anzio, wo Seine Heiligkeit der Papst ein paar Sommermonate zuzubringen pflegte. Auch wir begegneten ihm mit der Guardia nobile und sonstigem Gefolge, wie er im roten Hut und langem weißem Gewande vom alten Hafen herüber sehr rüstig nach seiner Villa schritt.
Infolge dieses hohen Gastbesuchs war für uns niedere Sterbliche kein Unterkommen in Porto d'Anzio zu finden. Wir mußten eine Miglie weiter nach Nettuno wandern, wo uns der alte Gemahl einer dicken Kaffeewirtin in seinem Hause Herberge gab und mir und Otto sein eigenes Ehebett abtrat, während der Onkel mit einem Lager auf einem Sofa vorlieb nahm. Die Nichte der Padrona, ein feines, schnippisches Ding, sorgte für unsere frugale Cena, während die ihre nur aus rohem Salat ohne Öl und die ihrer Magd aus gekochten Seeschnecken bestand. Um sie zu essen, zog sie eine Nadel aus ihrem sehr unfrisierten Haar und holte damit die einzelnen frutti di mare aus ihren Häuschen. Auch im übrigen war dieses malerische Strandnest von aller modernen Kultur noch unangekränkelt. Auf unsere Frage nach einer gewissen Bequemlichkeit wurde uns achselzuckend, aber wie selbstverständlich erwidert: Si fa in strada.[171]
Nach wohldurchfrorener Nacht wendeten wir den hellen Tag dazu an, Porto d'Anzio in seinem päpstlichen Glanze zu betrachten, und landeten abends wieder in Albano. Onkel fühlte sich matt und ging zu Bette, bestand aber darauf, sich die »Arrabbiata« vorlesen zu lassen.
Am andern Morgen war er vor Tau und Tage plötzlich verschwunden und nach Rom zurückgekehrt. Wir beide schickten unser Gepäck nach Frascati voraus und genossen die nächsten Tage auf einer Leib und Seele erquickenden Wanderung durch Ariccia, Genzano, um den Monte Cavo herum nach Rocca di Papa und Grotta Ferrata, bis wir durch die herrliche Ulmenallee, stets von Nachtigallen begleitet, das reizende Frascati erreichten.
Wer das Bild dieser gesegneten Bergnester in eigener Erinnerung bewahrt, dem wird bei der bloßen Nennung ihrer Namen das Herzblut aufwallen. Wem dies Glück noch nicht zuteil geworden, dem würde die liebevollste Schilderung kaum einen schwachen Begriff von ihrem Zauber zu geben vermögen.
Endlich rissen wir uns los und fuhren am Sonntag mit drei Malern, darunter dem virtuosen Architekturmaler Werner, nach Rom zurück.
* * *
Hier wartete meiner eine hocherfreuliche Überraschung. Jakob Burckhardt war angekommen und hatte mich sogleich aufgesucht. Die achtzehn Tage, die mir noch für Rom übrig blieben, wurden mir durch seine Gesellschaft unendlich wertvoll, da er täglich entweder schon früh oder bald nach Tische sich in unserer Wohnung einfand, mich zu einem Rundgang abzuholen. Wer aus seinem »Cicerone« Anregung und Belehrung in Fülle geschöpft hat, wird ermessen, wie unschätzbar es für mich war, an der leibhaftigen Hand eines solchen Führers alles, was ich von Roms Denkmälern und Kunstwerken schon zu kennen glaubte, nun erst noch einmal aus dem Grunde mir anzueignen und auf so vieles hingewiesen zu werden, was meiner Kenntnis entgangen war. Mein Tagebuch verzeichnete ausführlich, wie wenn ich zu einem kunstwissenschaftlichen[172] Werk Notizen hätte machen wollen, den Gewinn eines jeden Tages.
Daß ich über diesen Studien mit dem Freunde die alten römischen Bekannten nicht ganz vernachlässigte, die Archäologen auf dem Kapitol, die Maler, vor Allen Böcklin und den »Tugendbund«, Reinthaler, Riepenhausen, Gregorovius – die lieben Obermeiers hatten Rom verlassen – versteht sich von selbst. Auch von Frau Livia Frege, deren ich noch nicht erwähnt habe, verabschiedete ich mich. Sie war bekanntlich die Gattin eines Leipziger Bankiers und durch ihren schönen Gesang in ein freundschaftliches Verhältnis mit Felix Mendelssohn gekommen, dem sie seine Lieder frisch vom Blatte weg, auf dem die Tinte kaum trocken geworden war, vorzusingen pflegte. In ihrem Hause war ich im November des vorigen Jahres dem damaligen Erbgroßherzog Karl Alexander von Sachsen-Weimar vorgestellt worden, dem ich dann in den langen Jahrzehnten seit jener Zeit für ein stets sich gleichbleibendes, immer neu bewiesenes Wohlwollen mich herzlich verpflichtet fühlen sollte. Nun rüstete sich auch diese liebenswürdige Frau zur Heimkehr, mit allen, die sich nicht malariafest fühlten, oder nicht durch höhere Pflichten gebunden waren, in Rom zu übersommern, was trotz alledem auch uns gereizt haben würde.
Zuletzt verabschiedete ich mich noch von Graf Usedom, der mir mitteilte, er habe die Akten über meine Ausweisung aus dem Vatikan nach Berlin geschickt, es sei a good grievance, mein Fall werde hoffentlich dazu dienen, daß denen, die nach mir kämen, keine ähnliche Unbill zugefügt würde. Ein Trost, mit dem ja auch das gesamte Menschengeschlecht abgefunden wird, dessen üble Erfahrungen den folgenden Generationen zugute kommen sollen.
* * *
Am regnerischen Morgen des 9. Juni fuhren wir, Ribbeck und ich, in ziemlich trübseliger Abschiedsstimmung aus unserm geliebten Rom gen Norden und erreichten am Abend des ersten Tages Civita Castellana, am Mittag des folgenden Terni,[173] wo uns ein Eselritt zu den berühmten Wasserfällen brachte. Abends blieben wir in Spoleto, dann ging's weiter über Foligno, Assisi, Perugia, Arezzo, bis wir am 16. Florenz erreichten.
Daß der Zögling Burckhardts allem, was auf diesem verschwenderisch von allen Künsten geschmückten Wege sich darbietet, begierig nachging, wird man ihm aufs Wort glauben. Statt kunstgeschichtlicher Exkurse aber, die nur für Eingeweihtere Interesse hätten, sei hier nur der angenehmen Reisegesellschaft gedacht, die bis Foligno den Wagen mit uns teilte: die Frau eines Letterato aus Perugia mit ihrer Schwester, deren Bekanntschaft uns zuerst einen Begriff von dem sogenannten gebildeten Mittelstande in Italien gab, da wir bisher nur von den niederen Klassen und ich durch Onkels fürstliche Schülerinnen von dem Zuschnitt der höheren Stände eine Ahnung erhalten hatten.
An diesen beiden gutbürgerlichen Damen zog uns die natürliche Lebhaftigkeit und Abwesenheit jeder konventionellen Prüderie aufs angenehmste an. In der ersten Viertelstunde wurden wir ins Verhör genommen, ob wir keine Liebsten in Rom zurückgelassen hätten, und da ich mich als ehrbaren Bräutigam eines deutschen Mädchens vorstellte, wollte man dies als ein vollgültiges Zeugnis für meine Tugend nicht gelten lassen und bezeigte starken Zweifel, daß es zwischen mir und der Mariuccia in Sorrent nur zu einem platonischen Verhältnis gekommen sein sollte. Die Rede kam dann auf Volkslieder, ich gab die neapolitanischen zum besten, die ich der Luisa verdankte, und die Damen allerlei etwas leichtfertige Canzonetten aus ihrer Gegend, deren versteckte Zweideutigkeiten sie uns zu erklären schuldig zu sein glaubten. Alles aber blieb auf dem Fuß einer mutwilligen Plauderei, und da wir auch sonst schon Proben davon erhalten hatten, wie ländlich sittlich die Begriffe von dem, »was sich ziemt«, bei italienischen »edlen Frauen« von unseren deutschen verschieden sind, verloren unsere Reisegefährtinnen durch ihre Schelmenliedchen nichts an unserer Hochachtung.
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Die fünf Sommerwochen, die wir dann in Florenz verlebten, waren die gleichmäßig freuden- und arbeitsreichsten des ganzen Reisejahrs.
In keiner der großen italienischen Städte hat sich die neue Zeit mit der mittelalterlichen so glücklich verschmolzen, daß alles wie aus einem Gusse erscheint. Auch heute noch, wo in Rom durch die plumpen hastigen Neubauten zwischen den antiken Trümmern und den Palästen der Renaissance das Stadtbild sich immer unharmonischer darstellt, liegt die reizende Blütenstadt in ihr heiteres Tal eingebettet, wie wenn sie dem schöpferischen Geist eines einzigen Baumeisters entsprungen wäre. Keine Wohnkasernen beleidigen, wie in den Mauern Roms, das Auge, das zu den Hügeln von San Miniato und nach dem luftig thronenden Fiesole emporschweift, und der moderne Viale dei Colli, der vor fünfzig Jahren noch zu keiner Piazza di Michelangelo hinaufführte, hat sich so wenig durch ehrwürdige charakteristische Stätten Bahn machen müssen, daß einem ist, als hätte er nie in dem Gesamtbilde der Stadt und ihrer Umgebungen fehlen können.
Manches kam noch hinzu, unser Florentiner Dasein uns sofort heimisch und behaglich zu machen.
Wir hatten gleich am ersten Tage eine uns völlig zusagende Wohnung in der Via del Cocomero gefunden, bei einer freundlichen Dame, der ich in der Novelle »Erkenne dich selbst« ein pietätvolles Denkmälchen gesetzt habe. Auch später zog ich auf meinen südlichen Fahrten ein Quartier bei guten Privatleuten den Gasthöfen vor, da sich dann bald das Gefühl, zu Hause zu sein, einstellte und Blicke in das Innere des bürgerlichen Wesens sich tun ließen, zu denen der Verkehr mit Kellnern und Portiers keine Gelegenheit gibt.
Bei unserer guten Donna Eugenia, die ein kontemplatives Leben auf ihrer Poltrona führte und Verse machte, hatten wir zu Zimmernachbarn ein junges Freundespaar aus Venedig, Maler, die ihren Studien in den Uffizien und der Akademie nachgingen und uns durch die Anmut ihrer Erscheinung sofort anzogen. Dieser Eindruck verstärkte sich noch, als wir dahinterkamen, daß der Jüngere, Zartere und Kleinere der[175] beiden eine Frau oder ein Mädchen war, das in Männerkleidern ihren Gatten oder Geliebten nach Florenz begleitet hatte. Das durchsichtige Geheimnis wurde jedoch von allen Seiten respektiert und gab unserm Verkehr nur einen romantischen Reiz, dem – wie jene Novelle andeutet – auch die dichtende Hauswirtin nicht widerstehen konnte.
Daß wir im übrigen hier durchaus keine Bekannten hatten, sondern auf uns allein angewiesen waren, empfanden wir nach dem zerstreuenden Verkehr in Rom als eine besondere Wohltat. Nicht minder auch die regelmäßige Arbeit, mit der wir beide durch ein paar fleißige Vormittagsstunden das Glück erkauften, so Herrliches an Kunst und Natur zu genießen. Ein Reiseleben ohne einen solchen Pflichtteil, den man seiner ernsten Lebensaufgabe bezahlt, wird auf die Länge so schwer zu ertragen, wie jede »Reihe von schönen Tagen«, in denen kein Wechsel von Arbeit und Genuß für das Gleichgewicht unseres Geistes und Gemütes sorgt. So war ich stets darauf bedacht, unterwegs eine leichte Arbeit mit mir zu führen, die mich wenigstens eine Morgenstunde lang in Atem hielt, und wäre es nur die halbmechanische Beschäftigung mit einer Übersetzung. (Habe ich doch sogar auf der Hochzeitsreise im Sommer 1867 Shakespeares »Timon« zustande gebracht, immer des fröhlichen Gegensatzes mir bewußt, den die Tragik dieses Lebens- und Menschenverächters zu meinem reinen Glücksgefühl bildete.)
Damals, vierzehn Jahre früher, war mein Tagewerk noch besonders darum ersprießlich, weil ich damit der Verpflichtung gegen diejenigen genügte, die von meiner Wanderung durch die Bibliotheken Italiens die Erweiterung unserer Kenntnis der romanischen Literaturen erwarteten. Ich fand hier im wohltuenden Gegensatz zu der üblen Behandlung im Vatikan überall das freundlichste Entgegenkommen und mancherlei Ausbeute auf nicht weniger als vier an Handschriften reichen Bibliotheken, der Riccardiana, Magliabecchiana, Maruccelliana und Laurenziana. Die Schätze der letzteren, die mich am längsten fesselten, waren offen ausgebreitet in dem weiten, von keinem Geringeren als Michelangelo architektonisch ausgestatteten[176] Saal, wo jeder Codex an seinem bestimmten Platz auf den schöngeschnitzten Pulten angekettet liegt, bis der Kustode ihn von der Kette befreit und im Arbeitssaal dem, der ihn studieren will, einhändigt.
Wir arbeiteten freilich im Schweiß unsres Angesichts, denn die Glut dieses Hochsommers wuchs von Tag zu Tag. Doch war's eine reine, trockene Hitze ohne den lähmenden Sciroccohauch, der über der römischen Campagna zu brüten pflegt. Dazu gab es überall Granita und Sorbetti, in den Kirchen und Galerien erhielt sich eine sanfte Kühle, und auf des Tages Last und Hitze folgte die wundervolle reichgestirnte Nacht.
In den Stunden der Siesta freilich war's wohlgetan, das Haus nicht zu verlassen. Wir lasen dann zusammen Terenz oder die übermütigen Geschichtchen der alten Florentiner Novellisten Boccaccio und Sacchetti, dazwischen die ernsthafteren Istorie fiorentine des Machiavelli, die uns noch bis Venedig begleiteten. Ja so wenig hatte die tropische Temperatur Macht über Leib und Seele des dreiundzwanzigjährigen fahrenden Schülers, daß ich eine freche kleine mythologische Farce in Jamben verfaßte, zu der mich die Freske der Caracci vom Polyphem und der schönen Meernymphe Galatea im Palast Farnese angeregt hatte.
Meine alte Leidenschaft für das Drama erhielt aber noch eine ganz andere, viel bedeutendere Nahrung. Im Teatro Cocomero spielt die Ristori, damals in der herrlichsten Blüte ihrer jungen Schönheit und schon ausgereiften Kunst. Neben geringeren Stücken, in denen ich sie bewunderte, sah ich sie in der »Francesca von Rimini« Silvio Pellicos. Der junge Rossi spielte den Paolo. So wenig das Stück mit seiner konventionellen, weichen Rhetorik mir genügte, zumal die Gestalten mir in meiner eigenen Jugendsünde so ganz anders aufgegangen waren, so hinreißend wußte die große Künstlerin durch ihre leidenschaftliche Rezitation und den Adel ihrer Gebärden die Figur zu beleben, so daß ich dem wunderbaren tragischen Duett bis zum Ende des dritten Akts mit wonnevollem Herzklopfen folgte. Von da an freilich konnte selbst diese Francesca den Eindruck nicht auf der gleichen Höhe halten und die schwachen[177] letzten Akte retten. Alles in allem aber war es eine der höchsten dramatischen Offenbarungen, die mir je zuteil geworden waren.
Auch Donizettis Maria de Rohan im Teatro Nuovo war ein denkwürdiges Erlebnis durch die begeisterte Stimmung des Publikums, das wir in solchem Taumel noch nicht beobachtet hatten, und die vollkommene Gesangskunst, die eine uns wenig sympathische Musik mit so echter, feuriger Empfindung zu beseelen wußte.
Wir hatten den Florentinern so viel Temperament nicht zugetraut, da sie uns bei allen Anlässen als völlig gelassen, feingeartet und wohlerzogen erschienen waren. Auch bei öffentlichen Festen war man vor allen Ausbrüchen zügelloser Lustigkeit oder gar weinseliger Frechheit sicher, wie sie in Neapel uns so oft begegnet waren. So verhielt sich die ungeheure Menschenmenge, die am Vorabend des höchsten florentinischen Festtages, San Giovanni gewidmet, an dem Feuerwerk sich ergötzte, das über dem Arno abgebrannt wurde, so still und gesittet, daß die Freudenlaute eines jungen Mädchens, das jedes Herniederrieseln schöner Feuerkugeln mit dem entzückten Ausruf: Ohi! Ohi! ciliege! ciliege! (Kirschen! Kirschen!) begrüßte, im weiten Kreise von den Umstehenden belacht wurden.
Am andern Tage sahen wir dieselbe Volksmenge lautlos in und vor dem Dom geschart, wo der Großherzog und die Großherzogin von Toscana dem Hochamt beiwohnten, unter einem prunkvollen Baldachin links vom Altar, »die Großherzogin alt, mit schönen neuen Zähnen und einem Brillantdiadem, der Großherzog weißgrau, mürrisch, mit welken, verschwommenen Zügen«. Er hatte seine Toscaner milder und freundlicher regiert als irgend einer seiner Nachbarfürsten auf italienischen Thronen und Thrönchen, freilich mit Hilfe der verhaßten Tedeschi, die ich an jenem Feiertage in Reih' und Glied, Eichenblätter an den Tschakos, vor dem Portal des Domes aufgepflanzt sah. Selbst der unerbittliche Giusti, der in seinem »Fürstenkongreß« von ihm gesagt hatte:
Da kommt auch König Morpheus sachte, sachte,
Den Kranz von Mohn und Lattich um den Scheitel –
[178]
hatte nicht umhin gekonnt, ihm in einem späteren Gedicht eine Art Ehrenzeugnis für seinen guten Willen auszustellen. Trotzdem dauerte es nur wenige Jahre, und der Sturmwind der Begeisterung, der das junge Italien durchbrauste und alle Schlagbäume der kleinen Fürstentümer niederriß, hatte auch dem guten Granduca die Krone vom Haupt gerissen.
* * *
Am stürmischen Abend des 21. Juli verließen wir Florenz und fuhren, während der Mond nach und nach den Himmel klärte, die Nacht durch über den Apennin bis Bologna, wo wir morgens um acht Uhr eintrafen.
Auch hier hielten uns Bibliothekspflichten ein paar Tage fest. Ribbeck lag es neben seinen Vergilcollationen ob, sich um die Inschriftenkunde verdient zu machen, da er die wichtigsten noch unedierten, von denen ihm eine Liste mitgegeben worden war, mit angefeuchteten großen Blättern eines starken Löschpapiers abzuklatschen und, sobald sie getrocknet waren, abzulösen hatte. Von solchen genau abgedrückten authentischen »Klätschen«, wie wir sie nannten, führten wir eine ansehnliche Zahl in einem Blechtubus unter unserm Gepäck mit uns, zum argwöhnischen Erstaunen der Doganieri an jeder Grenze. Eine frühere Kollektion war schon von Rom aus heimgeschickt worden.
Dies alles jedoch ist für jeden nichtphilologischen Leser sehr gleichgültig; ich will denn auch die ferneren Etappen unserer Forschungsreise, Modena, Reggio, Parma, Mantua, nur mit ihren Namen anführen, auch von meinem besonders geliebten Verona, wo wir uns volle acht Tage aufhielten, nur im Fluge erwähnen, daß wir in dem antiken Amphitheater, dem besterhaltenen aus der spätrömischen Zeit, an mehreren Abenden moderne Komödien spielen sahen, einmal sogar eine Tragödie Alfieris, den »Oreste«, in einer Aufführung, die einen parodistischen Anstrich hatte. Klytämnestra war eine weinerliche alte Mama, Aegisth ein grotesker Birbante, Elektra eine verbitterte alte Jungfer, Orest nicht übel, bis auf sein beständiges Schreien, Pylades sich gebärdend wie ein kompletter[179] Narr. Sogar die Schauspieler empfanden das Unzulängliche ihrer Leistungen und spielten, sich selbst ironisierend, das Stück, das jedenfalls besser war als die Aufführung, mit schlechtverhaltenem Lachen zu Ende. Von alledem merkte das Publikum, das unten in der Arena um das rohgezimmerte Bühnenhäuschen geschart saß, nicht das mindeste. Die Gewalt des alten Stoffes bemächtigte sich dieser einfachen Gemüter, und sie strömten nach dem Schluß sichtbar ergriffen zu den steinernen Pforten hinaus.
Am Nachmittag des 6. August fuhren wir dann auf der Eisenbahn den schönen Weg an Padua und Vicenza vorüber, die Euganeen zu unsrer Linken, in der traumhaft aufgeregten Stimmung, die jeden, auch den stumpfsinnigsten Touristen überkommt, der sich zum erstenmal der Märchenstadt an der Adria nähert.
Für den Eindruck, den auch wir empfingen, da wir in der schweigenden Mondnacht in die schwarzen Kanäle einfuhren und bald darauf auf den schimmernden Platz von S. Marco traten, ein neues Wort zu suchen, nachdem Tausende in allen Zungen davon gesungen und gesagt haben, wäre ein törichtes Unterfangen. Nicht Allen aber mag es so wie uns ergehen, daß sie sich schon am zweiten Tage unter so fremdartiger Umgebung, wo statt Wagenrollen und Peitschenknall nur das eintönige Stalì und Premì der Gondoliere erklingt und die Paläste statt aus dem festgegründeten Erdboden aus dem Meeresgrunde aufsteigen, dennoch wie zu Hause fühlen. War es die alte Bekanntschaft mit dieser Wunderwelt, die wir von früh an aus unzähligen Büchern und Bildern gewonnen hatten, und die durch die lebendige Wirklichkeit nicht wie die Erwartung der römischen Herrlichkeiten enttäuscht, sondern noch überboten wurde? War's das Trauliche der engen Gassen und Gäßchen, wo man sich nicht wie auf der Straße fühlt, sondern auf dem blanken Steinparkett unter dem wimmelnden Volke mitwandelt, wie in einer großen Gesellschaft, in die man von einem hohen Herrn geladen wäre? Oder heimelte uns die Anmut der schlanken, jungen Weiber an, die unter den dunkeln Tüchern, mit denen sie Kopf und Schultern verhüllten,[180] die Augen verstohlen blitzen ließen und dem Fremdling allerlei holde Dinge versprachen, die sie durchaus nicht immer zu halten geneigt waren?
Mir wenigstens ist es jedesmal, wenn ich wiederkehrte, so zumut gewesen, als gehörte mir diese wundersame Stadt als Ergänzung meiner nordischen Heimat mit so gutem Recht, wie Jeder neben seiner wachen Wirklichkeit ein zweites Leben im Traum führt. Alles ist unwahrscheinlicher, glänzender und schwermütiger zugleich, das Lachen leiser, die Erlebnisse schattenhafter, und doch fühlt sich die Brust von allem irdischen Druck entladen, wie ja auch in diesem zweiten Element der Staub nicht mehr lästig wird, während aus dem dumpfen Anschlagen der Lagunenwelle an die Pfahlroste das alte tröstliche Lied klingt:
Acqua del canal
Guarisce d'ogni mal.
(Wasser vom Kanal
Kuriert radikal.)
Uns wurde es damals auch aus dem Grunde leicht gemacht, uns sofort heimisch zu fühlen, da wir eine Wohnung fanden bei einer guten, freundlichen Frau und ihrer schlanken, blutjungen Tochter, echten Venezianerinnen mit der schmiegsamen Grazie ihres Stammes, dem leichten, zwitschernden Geplauder, den Liedchen und Sprichwörtern, deren unerschöpfliche Fülle ihren ganzen Bildungsvorrat ausmacht. Das Haus in der Calle della Cortesia neben der Calle degli Assassini habe ich in der Novelle »Andrea Delfin« ausführlich beschrieben. Auch die Hauswirtin und ihre Tochter Marietta findet man lebensgetreu dort geschildert. Unser traulicher Verkehr mit ihnen war freilich erquicklicher, als jener düstere Gast ihn genießen konnte. Einer meiner liebsten Bonner Universitätsfreunde, Levin Goldschmidt, war uns am dritten Tage auf der Straße begegnet und hatte ein Zimmer neben dem unsern bezogen. Nun wurde alles zu dreien erlebt, Kirchen, Akademie, Dogenpalast und Merceria durchwandert und bis in die Nacht hinein auf der Piazza die auf und ab wogende Menge studiert. Oft[181] konnten wir uns auch dann noch nicht zum Schlafen entschließen. Wir trugen eine Flasche Cipro nach Hause, die wir langsam bei einem Robber Whist ausschlürften, während Marietta mit dem Räucherpfännchen sacht an den Wänden herumging, um die Zanzaren auszuräuchern.
In einem der Fenster gegenüber erschien dann wohl das bedenkliche Lacertchen, das dort hauste und mit allerlei Singsang und in abenteuerlichen Verkleidungen uns herüberzulocken suchte. Wir blieben aber standhaft unserer Marietta treu, in die wir alle drei ein wenig verliebt waren, ohne daß einer von uns sich einer besonderen Gunst zu rühmen gehabt hätte.
Auch gearbeitet wurde, und an einem meiner Troubadourtage auf der Markusbibliothek tat ich einen Fund, der mir seltsamerweise wertvoller schien als irgend ein anderer von größerem Umfang. In einem Pergamentdeckel sah ich zwei fast verblichene Strophen geschrieben, in denen ich den bisher unbekannten Anfang einer Kanzone des ältesten Troubadours, des Grafen Wilhelm von Poitiers, erkannte. Drei Stunden brachte ich damit zu, die kaum noch leserlichen Schriftzüge zu enträtseln. Als es mir endlich gelungen war, empfand ich eine so stolze Freude, wie nie bei einer eigenen Dichtung, und wenn auch bei Entrollung dieses »würdigen Pergamens« nicht »ein ganzer Himmel zu mir niederstieg«, konnte ich mich doch der stillen Ahnung nicht erwehren, daß immerhin vielleicht ein romanischer Philologe in mir steckte, um den es schade war, daß er so früh sich hatte verführen lassen, aus der Schule zu laufen.
* * *
Auf einmal aber überkam mich das Gefühl wie bei einem schwelgerischen Feste, wo man an Genuß übersättigt ist, aus keinem Becher mehr trinken, keinen Geigenstrich mehr hören und in keine schönen Augen mehr blicken mag. Zu dem Bedürfnis, auszuruhen von allen aufregenden Freuden, das so überreich Aufgenommene zu sammeln und innerlich zu verarbeiten, gesellte sich ein Heimweh nach meinen liebsten Menschen, denen ich nun Jahr und Tag fern geblieben war.[182] Am 26. August verließen wir Venedig. Von der unaufhaltsamen, besinnungslosen Fahrt über Peschiera, Gardasee, Innsbruck, Bodensee usw. bis nach Dürkheim in der Pfalz, wo meine Eltern und die gesamte Kuglersche Familie mich erwarteten, finde ich in meinem sonst so gewissenhaften Tagebuch nichts verzeichnet, so wenig vermochte alles, woran ich vorüberjagte, mein Interesse zu fesseln. Was ich aber mit heimbrachte, als die Frucht dieses Wanderjahrs, die neuen Maßstäbe für das wahrhaft Echte und Mächtige in der Kunst und die unvergängliche Liebe zu dem großen Stil der Natur, wie er mir im landschaftlichen und Volkscharakter Italiens aufgegangen war, davon habe ich mein langes Leben hindurch in so mannigfacher Weise Rechenschaft abgelegt, daß ich an dieser Stelle mir den zweifelhaften Versuch ersparen kann, von so reichen und tiefen Eindrücken die Summe zu ziehen.
1 | Er ergötzte sich daran, ein Blatt Papier in der Mitte zu brechen, spritzte auf die eine Seite Tintenkleckse und drückte sie dann auf der Gegenseite ab. In die dadurch entstandenen breit ausgelaufenen Flecken zeichnete er mit der Feder Striche und Punkte, die Umrisse ergänzend, in denen er dann allerlei Figuren sah (unter anderen »eine Nonne, auf einem Husaren reitend«), wie Mädchen beim Bleigießen den unförmlichen Klümpchen mit der Phantasie nachhelfen. |
2 | S. die Novelle »Vetter Gabriel« (Bd. III der Volksausgabe). |
3 | In dieser Umgebung empfing ich auch die erste Anregung zu meinen späteren Forschungen im Bereich der italienischen Volkspoesie. Die Töchter der Rosa magra wußten eine Menge von damals beliebten Canzonen, die nicht im eigentlichen Sinne dem Volksmund selbst entsprungen, sondern von bekannten volkstümlichen Dichtern in der neapolitanischen Mundart gedichtet und von »gelernten« Musikern komponiert worden waren. Viele von ihnen fand ich später in Sammlungen wieder, die unter dem Titel Pascariello und L'aura di Mergellina in Neapel erschienen waren. Hier aber, unter lustigem Schwatzen von den hellen Mädchenstimmen gesungen, entzückten sie mich höchlich, ich behielt die munteren Melodieen und legte einer oder der anderen von ihnen deutsche Texte unter. So entstand unter anderem das seitdem auch von deutschen Musikern oft komponierte: »Sei gegrüßt, du mein schönes Sorrent!« auf die Melodie von Sto crescenno no bello cardillo, und aus diesen Sorrentiner Anfängen ist später mein »Italienisches Liederbuch« hervorgegangen. |
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