Achte Szene

[426] Helene ist durch die unsichtbare Tür links herausgetreten, im Mantel wie zum Fortgehen. Sie wartet, bis Crescence und Stani sie nicht mehr sehen können. Gleichzeitig ist Karl durch die Glastür rechts sichtbar geworden; er legt Hut, Stock und Mantel ab und erscheint. Helene hat Karl gesehen, bevor er sie erblickt hat. Ihr Gesicht verändert sich in einem Augenblick vollständig. Sie läßt ihren Abendmantel von den Schultern fallen, und dieser bleibt hinter der Treppe liegen, dann tritt sie Karl entgegen.


HANS KARL betroffen. Helen, Sie sind noch hier?

HELENE hier und weiter in einer ganz festen, entschiedenen Haltung und in einem leichten, fast überlegenen Ton. Ich bin hier zu Haus.

HANS KARL. Sie sehen anders aus als sonst. Es ist etwas geschehen!

HELENE. Ja, es ist etwas geschehen.

HANS KARL. Wann, so plötzlich?

HELENE. Vor einer Stunde, glaub ich.

HANS KARL unsicher. Etwas Unangenehmes?

HELENE. Wie?

HANS KARL. Etwas Aufregendes?

HELENE. Ah ja, das schon.

HANS KARL. Etwas Irreparables?

HELENE. Das wird sich zeigen. Schauen Sie, was dort liegt.

HANS KARL. Dort? Ein Pelz. Ein Damenmantel scheint mir.

HELENE. Ja, mein Mantel liegt da. Ich hab ausgehen wollen.[426]

HANS KARL. Ausgehen?

HELENE. Ja, den Grund davon werd ich Ihnen auch dann sagen. Aber zuerst werden Sie mir sagen, warum Sie zurückgekommen sind. Das ist keine ganz gewöhnliche Manier.

HANS KARL zögernd. Es macht mich immer ein bisserl verlegen, wenn man mich so direkt was fragt.

HELENE. Ja, ich frag Sie direkt.

HANS KARL. Ich kanns gar nicht leicht explizieren.

HELENE. Wir können uns setzen.


Sie setzen sich.


HANS KARL. Ich hab früher in unserer Konversation – da oben, in dem kleinen Salon –

HELENE. Ah, da oben in dem kleinen Salon.

HANS KARL unsicher durch ihren Ton. Ja, freilich, in dem kleinen Salon. Ich hab da einen großen Fehler gemacht, einen sehr großen.

HELENE. Ah?

HANS KARL. Ich hab etwas Vergangenes zitiert.

HELENE. Etwas Vergangenes?

HANS KARL. Gewisse ungereimte, rein persönliche Sachen, die in mir vorgegangen sind, wie ich im Feld draußen war, und später im Spital. Rein persönliche Einbildungen, Halluzinationen, sozusagen. Lauter Dinge, die absolut nicht dazu gehört haben.

HELENE. Ja, ich versteh Sie. Und?

HANS KARL. Da hab ich unrecht getan.

HELENE. Inwiefern?

HANS KARL. Man kann das Vergangene nicht herzitieren, wie die Polizei einen vor das Kommissariat zitiert. Das Vergangene ist vergangen. Niemand hat das Recht, es in eine Konversation, die sich auf die Gegenwart bezieht, einzuflechten. Ich drück mich elend aus, aber meine Gedanken darüber sind mir ganz klar.

HELENE. Das hoff ich.

HANS KARL. Es hat mich höchst unangenehm berührt in der Erinnerung, sobald ich allein mit mir selbst war, daß ich in meinem Alter mich so wenig in der Hand hab – und ich bin wiedergekommen, um Ihnen Ihre volle Freiheit, pardon,[427] das Wort ist mir ganz ungeschickt über die Lippen gekommen – um Ihnen Ihre volle Unbefangenheit zurückzugeben.

HELENE. Meine Unbefangenheit – mir wiedergeben?

HANS KARL unsicher, will aufstehen.

HELENE bleibt sitzen. Also das haben Sie mir sagen wollen – über Ihr Fortgehen früher?

HANS KARL. Ja, über mein Fortgehen und natürlich auch über mein Wiederkommen. Eines motiviert ja das andere.

HELENE. Aha. Ich dank Ihnen sehr. Und jetzt werd ich Ihnen sagen, warum Sie wiedergekommen sind.

HANS KARL. Sie mir?

HELENE mit einem vollen Blick auf ihn. Sie sind wiedergekommen, weil – ja! es gibt das! gelobt sei Gott im Himmel! Sie lacht. Aber es ist vielleicht schade, daß Sie wiedergekommen sind. Denn hier ist vielleicht nicht der rechte Ort, das zu sagen, was gesagt werden muß – vielleicht hätte das – aber jetzt muß es halt hier gesagt werden.

HANS KARL. O mein Gott, Sie finden mich unbegreiflich. Sagen Sie es heraus!

HELENE. Ich verstehe alles sehr gut. Ich versteh, was Sie fortgetrieben hat, und was Sie wieder zurückgebracht hat.

HANS KARL. Sie verstehen alles? Ich versteh ja selbst nicht.

HELENE. Wir können noch leiser reden, wenns Ihnen recht ist. Was Sie hier hinausgetrieben hat, das war Ihr Mißtrauen, Ihre Furcht vor Ihrem eigenen Selbst – sind Sie bös?

HANS KARL. Vor meinem Selbst?

HELENE. Vor Ihrem eigentlichen tieferen Willen. Ja, der ist unbequem, der führt einen nicht den angenehmsten Weg. Er hat Sie eben hierher zurückgeführt.

HANS KARL. Ich versteh Sie nicht, Helen!

HELENE ohne ihn anzusehen. Hart sind nicht solche Abschiede für Sie, aber hart ist manchmal, was dann in Ihnen vorgeht, wenn Sie mit sich allein sind.

HANS KARL. Sie wissen das alles?

HELENE. Weil ich das alles weiß, darum hätt ich ja die Kraft gehabt und hätte für Sie das Unmögliche getan.[428]

HANS KARL. Was hätten Sie Unmögliches für mich getan?

HELENE. Ich wär Ihnen nachgegangen.

HANS KARL. Wie denn »nachgegangen«? Wie meinen Sie das?

HELENE. Hier bei der Tür auf die Gasse hinaus. Ich hab Ihnen doch meinen Mantel gezeigt, der dort hinten liegt.

HANS KARL. Sie wären mir –? Ja, wohin?

HELENE. Ins Kasino oder anderswo – was weiß ich, bis ich Sie halt gefunden hätte.

HANS KARL. Sie wären mir, Helen –? Sie hätten mich gesucht? Ohne zu denken, ob –?

HELENE. Ja, ohne an irgend etwas sonst zu denken. Ich geh dir nach – Ich will, daß du mich –

HANS KARL mit unsicherer Stimme. Sie, du, du willst? Für sich. Da sind wieder diese unmöglichen Tränen! Zu ihr. Ich hör Sie schlecht. Sie sprechen so leise.

HELENE. Sie hören mich ganz gut. Und da sind auch Tränen – aber die helfen mir sogar eher, um das zu sagen –

HANS KARL. Du – Sie haben etwas gesagt?

HELENE. Dein Wille, dein Selbst; versteh mich. Er hat dich umgedreht, wie du allein warst, und dich zu mir zurückgeführt. Und jetzt –

HANS KARL. Jetzt?

HELENE. Jetzt weiß ich zwar nicht, ob du jemand wahrhaft liebhaben kannst – aber ich bin in dich verliebt, und ich will – aber das ist doch eine Enormität, daß Sie mich das sagen lassen!

HANS KARL zitternd. Sie wollen von mir –

HELENE mit keinem festeren Ton als er. Von deinem Leben, von deiner Seele, von allem – meinen Teil!


Eine kleine Pause.


HANS KARL. Helen, alles, was Sie da sagen, perturbiert mich in der maßlosesten Weise um Ihretwillen, Helen, natürlich um Ihretwillen! Sie irren sich in bezug auf mich, ich hab einen unmöglichen Charakter.

HELENE. Sie sind, wie Sie sind, und ich will kennen, wie Sie sind.[429]

HANS KARL. Es ist so eine namenlose Gefahr für Sie.

HELENE schüttelt den Kopf.

HANS KARL. Ich bin ein Mensch, der nichts als Mißverständnisse auf dem Gewissen hat.

HELENE lächelnd. Ja, das scheint.

HANS KARL. Ich hab so vielen Frauen weh getan.

HELENE. Die Liebe ist nicht süßlich.

HANS KARL. Ich bin ein maßloser Egoist.

HELENE. Ja? Ich glaub nicht.

HANS KARL. Ich bin so unstet, nichts kann mich fesseln.

HELENE. Ja, Sie können – wie sagt man das? – verführt werden und verführen. Alle haben Sie sie wahrhaft geliebt und alle wieder im Stich gelassen. Die armen Frauen! Sie haben halt nicht die Kraft gehabt für euch beide.

HANS KARL. Wie?

HELENE. Begehren ist Ihre Natur. Aber nicht: das – oder das – sondern von einem Wesen: – alles – für immer! Es hätte eine die Kraft haben müssen, Sie zu zwingen, daß Sie von ihr immer mehr und mehr begehrt hätten. Bei der wären Sie dann geblieben.

HANS KARL. Wie du mich kennst!

HELENE. Nach einer ganz kurzen Zeit waren sie dir alle gleichgültig, und du hast ein rasendes Mitleid gehabt, aber keine große Freundschaft für keine: das war mein Trost.

HANS KARL. Wie du alles weißt!

HELENE. Nur darin hab ich existiert. Das allein hab ich verstanden.

HANS KARL. Da muß ich mich ja vor dir schämen.

HELENE. Schäm ich mich denn vor dir? Ah nein. Die Liebe schneidet ins lebendige Fleisch.

HANS KARL. Alles hast du gewußt und ertragen –

HELENE. Ich hätt nicht den kleinen Finger gerührt, um eine solche Frau von dir wegzubringen. Es wär mir nicht dafür gestanden.

HANS KARL. Was ist das für ein Zauber, der in dir ist. Gar nicht wie die andern Frauen. Du machst einen so ruhig in einem selber.

HELENE. Du kannst freilich die Freundschaft nicht fassen, die[430] ich für dich hab. Dazu wird eine lange Zeit nötig sein – wenn du mir die geben kannst.

HANS KARL. Wie du das sagst!

HELENE. Jetzt geh, damit dich niemand sieht. Und komm bald wieder. Komm morgen, am frühen Nachmittag. Die Leut gehts nichts an, aber der Papa solls schnell wissen. – Der Papa solls wissen, – der schon! Oder nicht, wie?

HANS KARL verlegen. Es ist das – mein guter Freund Poldo Altenwyl hat seit Tagen eine Angelegenheit, einen Wunsch – den er mir oktroyieren will: er wünscht, daß ich, sehr überflüssigerweise, im Herrenhaus das Wort ergreife –

HELENE. Aha –

HANS KARL. Und da geh ich ihm seit Wochen mit der größten Vorsicht aus dem Weg – vermeide, mit ihm allein zu sein – im Kasino, auf der Gasse, wo immer –

HELENE. Sei ruhig – es wird nur von der Hauptsache die Rede sein – dafür garantier ich. – Es kommt schon jemand: ich muß fort.

HANS KARL. Helen!

HELENE schon im Gehen, bleibt nochmals stehen. Du! Leb wohl!


Nimmt den Mantel auf und verschwindet durch die kleine Tür links.


Quelle:
Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Band 2–5: Dramen, Band 4, Frankfurt a.M. 1979, S. 426-431.
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