Sechste Szene

[461] BARONIN vor sich. Jetzt sind wir also, da die Melanie allein kommt, plötzlich sechs zum Bridge, statt sieben. Bleibt die Wahl, ob man den Forstrat, der so laut atmet wie ein Küniglhas, oder den affektierten Bezirkskommissär ... Ruft nach links. Theodor! Erinnert sich, stampft auf den Boden, ruft. Milli!


Die Tür links wird halb geöffnet und Anna mit dem kleinen Jaromir treten ein.


DER KLEINE JAROMIR läuft hin, küßt der Baronin die Hand, sieht sich um. Wo ist denn der Onkel Ado?

BARONIN zu Anna. Was sagst du dazu, daß plötzlich der Galattis nicht mitkommt?

ANNA. Aber Mama, das haben wir ja schon vor ein paar Tagen gewußt. Hat dir denn der Jaromir –

BARONIN. Keine Silbe. Er schien sehr erstaunt darüber.

ANNA. Du mußt verzeihen, es ist seine Arbeit, die braucht ein[461] solches Maß von Vertiefung, daß er für alle anderen Sachen zerstreut ist. Du weißt, er schreibt wieder ein Buch.

BARONIN bei ihren Gedanken. Ich hab gehört, sie bringt auch keine Jungfer mit. Es ist doch unmöglich, eine junge Frau mutterseelenallein in dem Turmzimmer wohnen zu lassen, wo weit und breit kein Mensch zu errufen ist.

ANNA. Aber der Jaromir wohnt doch jetzt oben in der Mansarde.

BARONIN. Das hör ich. Das heißt, vor zwei Minuten hab ich es gehört.

ANNA. Also, wenn sie Bedienung braucht, wird sie läuten, und wenn sie sich ängstigt, was übrigens gar nicht in ihrem Charakter liegt, so ist das Fenster von Jaromir fünf Meter von ihrem Balkon, und er hört, wenn sie noch so leise ruft – also ist kein Grund, sich über Zimmereinteilung zu beunruhigen.


Baronin wirft ihr einen Blick zu und konstatiert die völlige Harmlosigkeit von Annas Miene.


DER KLEINE JAROMIR. Mami –

ANNA. Sei still. Zur Baronin. Und was das Abholen betrifft, so werd ich mich sofort herrichten und werd der Melanie entgegenfahren, ich möcht besonders artig zu ihr sein, weil sie doch früher – vor unserer Heirat – eine große Freundin von Jaromir war, – und die Marie Am Rain holt der Dogcart ab. – Der Jaromir darf unter keiner Bedingung durch irgend etwas, was mit den Gästen zusammenhängt, belastet werden. Er hat mir das erklärt: er ist, wenn er an einem Werk arbeitet, von einer einfach nicht vorstellbaren Empfindlichkeit und Verstimmbarkeit.

BARONIN. Er läßt sich sehr gehen, der gute Jaromir.

ANNA. Ich glaub, Mama, davon haben wir beide keine Vorstellung, was in einem solchen Phantasiemenschen vorgeht, wenn in diese innere Einsamkeit plötzlich die Menschen sich eindrängen –

DER KLEINE JAROMIR. Großmama, der Theodor hat mir erlaubt, wenn er einmal krank ist, so darf ich ihn besuchen.[462] Aber allein darf man nie in sein Zimmer gehen – es ist eine Zauberei im Zimmer, die macht, daß man eins zwei den Fuß nicht vom Boden wegkriegen kann und so stehen muß, bis der Theodor kommt und einen mit einem Sprüchel wieder losmacht.

ANNA. Aber Bubi, wer wird denn solchen Unsinn glauben?


Quelle:
Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Band 2–5: Dramen, Band 4, Frankfurt a.M. 1979, S. 461-463.
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