Friedrich Hölderlin

Pindar-Fragmente

Untreue der Weisheit

O Kind, dem an des pontischen Wilds Haut,

Des felsenliebenden, am meisten das Gemüt

Hängt, allen Städten geselle dich,

Das Gegenwärtige lobend

Gutwillig,

Und anderes denk in anderer Zeit.


Fähigkeit der einsamen Schule für die Welt. Das Unschuldige des reinen Wissens als die Seele der Klugheit. Denn Klugheit ist die Kunst, unter verschiedenen Umständen getreu zu bleiben, das Wissen die Kunst, bei positiven Irrtümern im Verstande sicher zu sein. Ist intensiv der Verstand geübt, so erhält er seine Kraft auch im Zerstreuten; sofern er an der eigenen geschliffenen Schärfe das Fremde leicht erkennt, deswegen nicht leicht irre wird in ungewissen Situationen.

So tritt Jason, ein Zögling des Centauren, vor den Pelias:


ich glaube, die Lehre

Chirons zu haben. Aus der Grotte nämlich komm ich

Bei Charikli und Philyra, wo des

Centauren Mädchen mich ernähret,

Die heilgen; zwanzig Jahre aber hab

Ich zugebracht und nicht ein Werk

Noch Wort, ein schmutziges, jenen

Gesagt, und bin gekommen nach Haus,

Die Herrschaft wiederzubringen meines Vaters.
[305]

Von der Wahrheit


Anfängerin großer Tugend, Königin Wahrheit,

Daß du nicht stoßest

Mein Denken an rauhe Lüge.


Furcht vor der Wahrheit, aus Wohlgefallen an ihr. Nämlich das erste lebendige Auffassen derselben im lebendigen Sinne ist, wie alles reine Gefühl, Verwirrungen ausgesetzt; so daß man nicht irret, aus eigener Schuld, noch auch aus einer Störung, sondern des höheren Gegenstandes wegen, für den, verhältnismäßig, der Sinn zu schwach ist.
[306]

Von der Ruhe


Das Öffentliche, hat das ein Bürger

In stiller Witterung gefaßt,

Soll er erforschen

Großmännlicher Ruhe heiliges Licht,

Und dem Aufruhr von der Brust,

Von Grund aus, wehren, seinen Winden; denn Armut macht er

Und feind ist er Erziehern der Kinder.


Ehe die Gesetze, der großmännlichen Ruhe heiliges Licht, erforschet werden, muß einer, ein Gesetzgeber oder ein Fürst, in reißenderem oder stetigerem Schicksal eines Vaterlandes und je nachdem die Rezeptivität des Volkes beschaffen ist, den Charakter jenes Schicksals, das königlichere oder gesamtere in den Verhältnissen der Menschen, zu ungestörter Zeit, usurpatorischer, wie bei griechischen Natursöhnen, oder erfahrener, wie bei Menschen von Erziehung, auffassen. Dann sind die Gesetze die Mittel, jenes Schicksal in seiner Ungestörtheit festzuhalten. Was für den Fürsten origineller Weise, das gilt, als Nachahmung, für den eigentlicheren Bürger.
[307]

Vom Delphin


Den in des wellenlosen Meeres Tiefe von Flöten

Bewegt hat liebenswürdig der Gesang.


Der Gesang der Natur, in der Witterung der Musen, wenn über Blüten die Wolken, wie Flocken, hängen, und über dem Schmelz von goldenen Blumen. Um diese Zeit gibt jedes Wesen seinen Ton an, seine Treue, die Art, wie eines in sich selbst zusammenhängt. Nur der Unterschied der Arten macht dann die Trennung in der Natur, daß also alles mehr Gesang und reine Stimme ist, als Akzent des Bedürfnisses oder auf der anderen Seite Sprache.

Es ist das wellenlose Meer, wo der bewegliche Fisch die Pfeife der Tritonen, das Echo des Wachstums in den weichen Pflanzen des Wassers fühlt.
[308]

Das Höchste


Das Gesetz,

Von allen der König, Sterblichen und

Unsterblichen; das führt eben

Darum gewaltig

Das gerechteste Recht mit allerhöchster Hand.


Das Unmittelbare, streng genommen, ist für die Sterblichen unmöglich, wie für die Unsterblichen; der Gott muß verschiedene Welten unterscheiden, seiner Natur gemäß, weil himmlische Güte, ihret selber wegen, heilig sein muß, unvermischet. Der Mensch, als Erkennendes, muß auch verschiedene Welten unterscheiden, weil Erkenntnis nur durch Entgegensetzung möglich ist. Deswegen ist das Unmittelbare, streng genommen, für die Sterblichen unmöglich, wie für die Unsterblichen.

Die strenge Mittelbarkeit ist aber das Gesetz.

Deswegen aber führt es gewaltig das gerechteste Recht mit allerhöchster Hand.

Die Zucht, sofern sie die Gestalt ist, worin der Mensch sich und der Gott begegnet, der Kirche und des Staats Gesetz und anererbte Satzungen (die Heiligkeit des Gottes, und für den Menschen die Möglichkeit einer Erkenntnis, einer Erklärung), diese führen gewaltig das gerechteste Recht mit allerhöchster Hand, sie halten strenger, als die Kunst, die lebendigen Verhältnisse fest, in denen, mit der Zeit, ein Volk sich begegnet hat und begegnet. »König« bedeutet hier den Superlativ, der nur das Zeichen ist für den höchsten Erkenntnisgrund, nicht für die höchste Macht.
[309]

Das Alter


Wer recht und heilig

Das Leben zubringt,

Süß ihm das Herz ernährend,

Lang Leben machend,

Begleitet die Hoffnung, die

Am meisten Sterblichen

Die vielgewandte Meinung regieret.


Eines der schönsten Bilder des Lebens, wie schuldlose Sitte das lebendige Herz erhält, woraus die Hoffnung kommet; die der Einfalt dann auch eine Blüte gibt, mit ihren mannigfaltigen Versuchen, und den Sinn gewandt und so lang Leben machet, mit ihrer eilenden Weile.
[310]

Das Unendliche


Ob ich des Rechtes Mauer,

Die hohe, oder krummer Täuschung

Ersteig und so mich selbst

Umschreibend, hinaus

Mich lebe, darüber

Hab ich zweideutig ein

Gemüt, genau es zu sagen.


Ein Scherz des Weisen, und das Rätsel sollte fast nicht gelöst werden. Das Schwanken und das Streiten zwischen Recht und Klugheit löst sich nämlich nur in durchgängiger Beziehung. »Ich habe zweideutig ein Gemüt, genau es zu sagen.« Daß ich dann zwischen Recht und Klugheit den Zusammenhang auffinde, der nicht ihnen selber, sondern einem dritten zugeschrieben werden muß, wodurch sie unendlich (genau) zusammenhängen, darum hab ich ein zweideutig Gemüt.
[311]

Die Asyle


Zuerst haben

Die wohlratende Themis

Die Himmlischen, auf goldenen Rossen, neben

Des Ozeans Salz,

Die Zeiten, zu der Leiter,

Zur heiligen, geführt des Olympos, zu

Der glänzenden Rückkehr,

Des Retters alte Tochter,

Des Zevs, zu sein,

Sie aber hat

Die goldgehefteten, die gute,

Die glänzendbefruchteten Ruhestätten geboren.


Wie der Mensch sich setzt, ein Sohn der Themis, wenn, aus dem Sinne für Vollkommens, sein Geist, auf Erden und im Himmel, keine Ruhe fand, bis sich im Schicksal begegnend, an den Spuren der alten Zucht, der Gott und der Mensch sich wiedererkennt, und in Erinnerung ursprünglicher Not froh ist da, wo er sich halten kann.


Themis, die ordnungsliebende, hat die Asyle des Menschen, die stillen Ruhestätten, geboren, denen nichts Fremdes ankann, weil an ihnen das Wirken und das Leben der Natur sich konzentrierte, und ein Ahnendes um sie, wie erinnernd, dasselbige erfähret, das sie vormals erfuhren.
[312]

Das Belebende


Die männerbezwingende, nachdem

Gelernet die Centauren

Die Gewalt

Des honigsüßen Weines, plötzlich trieben

Die weiße Milch mit Händen, den Tisch sie fort, von selbst,

Und aus den silbernen Hörnern trinkend

Betörten sie sich.


Der Begriff von den Centauren ist wohl der vom Geiste eines Stromes, sofern der Bahn und Grenze macht, mit Gewalt, auf der ursprünglich pfadlosen aufwärtswachsenden Erde.

Sein Bild ist deswegen an Stellen der Natur, wo das Gestade reich an Felsen und Grotten ist, besonders an Orten, wo ursprünglich der Strom die Kette der Gebirge verlassen und ihre Richtung quer durchreißen mußte.

Centauren sind deswegen auch ursprünglich Lehrer der Naturwissenschaft, weil sich aus jenem Gesichtspunkte die Natur am besten einsehn läßt.

In solchen Gegenden mußt ursprünglich der Strom umirren, eh er sich eine Bahn riß. Dadurch bildeten sich, wie an Teichen, feuchte Wiesen, und Höhlen in der Erde für säugende Tiere, und der Centauer war indessen wilder Hirte, dem Odyssäischen Cyklops gleich; die Gewässer suchten sehnend ihre Richtung. Je mehr sich aber von seinen beiden Ufern das Trocknere fester bildete und Richtung gewann durch festwurzelnde Bäume, und Gesträuche und den Weinstock, desto mehr mußt auch der Strom, der seine Bewegung von der Gestalt des Ufers annahm, Richtung gewinnen, bis er, von seinem[313] Ursprung an gedrängt, an einer Stelle durchbrach, wo die Berge, die ihn einschlossen, am leichtesten zusammenhingen.

So lernten die Centauren die Gewalt des honigsüßen Weins, sie nahmen von dem festgebildeten, bäumereichen Ufer Bewegung und Richtung an, und warfen die weiße Milch und den Tisch mit Händen weg, die gestaltete Welle verdrängte die Ruhe des Teichs, auch die Lebensart am Ufer veränderte sich, der Überfall des Waldes mit den Stürmen und den sicheren Fürsten des Forsts regte das müßige Leben der Heide auf, das stagnierende Gewässer ward so lange zurückgestoßen, vom jäheren Ufer, bis es Arme gewann, und so mit eigener Richtung, von selbst aus silbernen Hörnern trinkend, sich Bahn machte, eine Bestimmung annahm.

Die Gesänge des Ossian besonders sind wahrhaftige Centaurengesänge, mit dem Stromgeist gesungen, und wie vom griechischen Chiron, der den Achill auch das Saitenspiel gelehrt.[314]

Quelle:
Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. 6 Bände, Band 5, Stuttgart 1954, S. 305-315.
Entstanden zwischen 1800 und 1805, Erstdruck in: Das Reich (Stuttgart), 1916, bzw. in: Hölderlins Pindar-Übertragungen, Berlin 1910.
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