[429] Costa ist bei den letzten Worten eingetreten. Alexis.
COSTA.
Hier sind wir ja im besten Zuge.
ALEXIS. Wie, Narr? So spät? Ließ dich der Kommandant noch ein?[429]
COSTA. Ich komme nicht auf dem Kommandantenwege. Ich bin auf meinen eignen Pfaden gekrochen, gerutscht, gestolpert, wie's ging und fiel.
Er schüttelt sich.
Prr! Die Molche, die Unken, die Feuerkröten gedeihen gut in solchen Löchern, immer saß es mir im Nacken wie ein tausendbeiniges Amphibium, es ist erstaunlich, was man in der Finsternis sieht, grüne Augen und gelbe Augen und rote, und Nasen und Schnauzen! Hast was zu trinken? Ich bin nur noch ein halber Mensch.
ALEXIS. Ich verstehe nicht, was du meinst.
COSTA zieht einen großen Schlüssel hervor. Das ist ein Schlüssel, und in die Festung führt ein Diebessteig. Verstehst nun?
ALEXIS. Warum schlichst du dich ein?
COSTA. Mußt' Euch sprechen.
ALEXIS. Um Mitternacht? Geh, leg dich schlafen, du König der Samojeden.
COSTA. Ihr sollt mich nicht hohnnecken!
ALEXIS. Ist's nicht dein Titel?
COSTA. Bin ich jetzt im Dienste? Wenn ich muß, so muß ich, aber jetzt stehe ich als Mensch, nicht als Narr vor dir.[430]
ALEXIS. Nicht einmal die Narrheit ist hier freiwillig. Ich erinnre mich. Du solltest einen Brief nach Kiew bringen. Der Stadthauptmann wollte dich bei der Nacht nicht einlassen. Statt zu warten bis morgen, machtest du mit deinem Briefe die dreißig Meilen zurück, und verklagtest den Stadthauptmann.
COSTA. Lassen wir das ruhn.
ALEXIS. Die wichtige Botschaft war versäumt; sie sprachen dir das Leben ab. Der Zar begnadigte dich.
COSTA. Eine schöne Gnade, einem Schellen anzuhängen!
ALEXIS. Nun, du Mensch, nicht Narr, was bringst du mir zu dieser ungewöhnlichen Stunde?
COSTA. Erstens: meine Denkwürdigkeiten.
Er zieht eine Rolle hervor.
Für den Fall, daß du dich einmal durchaus in diese Kasematten verliebt haben willst.
ALEXIS nimmt die Schrift.
»Geheime Geschichte von St. Petersburg. –
Erstes Kapitel: Schlechte Streiche Menzikofs ...
Zweites Kapitel: Der Betrüger Schaphirow.
Drittes Kapitel: Der Verräter Ostermann.
Viertes ...« Von wem ist das?
COSTA. Von mir. Ich schrieb's in meinen Freistunden. Mir gefällt die lebhafte Jacke nicht, die sie mir angezogen haben, kein ordentlicher Mensch will mit mir trinken; meine Sippschaft[431] hat sich von mir losgesagt. Da bin ich hypochondrisch geworden, und in der Stimmung paßt man scharf auf.
ALEXIS der indessen gelesen. Hier seh' ich schwarze Taten der Ersten dieses Reichs angemerkt. Ich lese die Namen meiner Feinde und an jedem hängt ein unverzeihlicher Frevel.
COSTA. Nebst Angabe der Zeugen und Beweise. Es ist gewöhnlich, daß es in einer großen Wirtschaft nicht so eben hergeht, des Herrn Auge reicht nur, wie weit es reicht. Aber, wie der Zar belegen und betrogen wird, das läuft ins Ungewöhnliche.
ALEXIS. Im allgemeinen ist mir das bekannt.
COSTA. Und im besondern mir. Menzikof baut Kanäle und was alles noch, in der Einbildungskraft, und hat seine Hand in der Tasche jedes Russen. Schaphirow geht wie der Schakal mit dem Löwen jagen, nimmt, was Menzikof übriggelassen, und ist ihm Feind, weil es nicht mehr ist. Der Bischof von Pleskow handelt mit Geld und Versprechungen Seelen für die neue, allerhöchst approbierte Religion ein. Jaguschinsky läßt im Zorn und Rausch verhaften ad libitum. Ostermann hat sich den Rückzug nach Schweden vorbehalten, wenn es hier übel gehen sollte.
ALEXIS. O armes Rußland!
COSTA. Heute morgen war große Haupt- und Staatsaktion im Thronsaale. Ich saß hinterm Getäfel. Sie traten vor Ihn, wie die Kinder Gottes vor den Herrn, Hiob am ersten, Vers sechs. Mein Kollege, der Zar, war so glücklich und gerührt, wie Schach Riar bei den Märchen der Scheherezade. Ich war's auch.[432] Es ist traurig, allein stehn zu müssen auf der Welt. Ich stand nicht mehr allein.
ALEXIS. Verruchte Fratzenschöpfung! Seelenmörderisches Affentreiben! Ich hatte ja immer recht! – Aber woher erfuhrst du das alles?
COSTA. Von den Schenkstuben, den Kirmessen und den Tanzböden. Du treibst Geschichte in deiner Eremitage, du solltest den trivialen Satz weg haben, daß das ganze Land immer gewußt hat, was der König nicht wußte. Außerdem lästern sie selbst einer über den andern, und vor mir hält sich niemand zurück. Sie sagen: »Es ist nur der Narr«, und schwatzen weiter. Ich höre zu, und bring's zu Papier.
ALEXIS. Sollte denn das alles sich wirklich so verhalten?
COSTA. Ach nein. Aus ihrem Leben Wahrheit und Dichtung. Gute Memoiren verlangen diese Mixtur, wie die größten Geister behaupten. Was tut's? Hast du's zu prüfen?
ALEXIS. Ich verstehe dich.
COSTA. Hier wird einem geglaubt, wenn man nur Übles spricht, denn keiner taugt etwas.
In meiner Hand ist's nicht nutz. Ich schenke dir meine Denkwürdigkeiten.
ALEXIS. Ich behalte sie und danke dafür. Das ist keine Welt für Edelmut. Haß für Haß, Vernichtung für Verfolgung! Ich bin Meister Eures Schicksals. Warum lachst du?[433]
COSTA. Du bist, wie ich dich erwartete. Schlimm, wie dein Vater. Sie sagen, Ihr wärt so verschieden. Es ist nicht wahr. Ihr könnt einander nicht leiden, aus Handwerksneid.
ALEXIS. Kannst recht haben. Ich bin nicht gut, wie hätt' ich's werden sollen? – Nun geh, du Chronist.
COSTA. Ich hab' noch eine gar andre Geschichte.
Er nimmt eine Laute vom Tische.
Wenn die Euch recht ans Herz spricht, braucht Ihr weder Wahrheit noch Dichtung.
ALEXIS. Was willst du?
COSTA. Singen. Ein Nachtlied. Geister schweben, schwanken, weiße, draußen am Weidenbaum. Wollen sie beschwören.
ALEXIS. Aberwitz! Wenn man dich hört ...
COSTA. Summe zwischen den Zähnen ...
Er singt leise.
Jörru, Jörru, darf ich kommen?
Nicht o Liebchen, heute.
Wärest du doch gestern kommen!
Nun sind um mich Leute.
ALEXIS.
Nicht dieses Lied! Es löst mein Herz in Tränen.
Wie fällst du auf das Lied? Auf seinen Wellen
Wiegt, wie ein lächelnd Kind, Erinnrung sich
Heran! Heran! – Es macht mich mild zur Unzeit,
Ich brauche Kraft. Gib Wermut mir zu trinken![434]
Das Süße, was mein bittres Leben bot,
Stell weit hinweg! – Hör auf zu singen, Bursch.
COSTA singt.
Aber morgen, früh am Morgen,
Schlanke, liebe Kleine,
Kannst du kommen ohne Sorgen,
Da bin ich alleine.
ALEXIS.
Nicht mehr dies Lied! Ich bitte dich ... Sie sang's.
Es war das erstemal, daß ich sie sah.
Sie saß im kühlen Busch mit sich allein,
Und netzt' im Wasser spielend ihre Füßchen.
Und ich belauschte sie. – Da trat ich zu ihr,
Und Rose ward nun Wange, Kinn und Hals.
Nun, warum singst du nicht?
COSTA singt.
Wenn die Vögelein sich regen
Früh im reinen Taue,
Hüpf' ich, Liebste, dir entgegen
Weißt? Auf jener Aue.
ALEXIS.
O reiner Tau, wann stärkst du meine Brust?
Ihr Vögelchen, wann hör' ich euer Singen?
Wann hüpf' ich dir entgegen, meine Lust,
Auf jener Au', wo wir so fröhlich gingen?
COSTA legt die Laute weg.
Gleich, hoff' ich, gleich, wenn sie zu bitten weiß.
Eine Uhr schlägt zwölf.
Die Stund' ist da. Nun Mut ... bring' Euch Gesellschaft.[435]
ALEXIS.
Gesellschaft? Du?
COSTA.
Ja, durch den finstern Gang.
ALEXIS.
Wen? Wen?
COSTA.
Ein Mädchen, die das Liedchen auch
Zu singen weiß.
ALEXIS.
Das Liedchen! Mädchen! Singen?
Ist's möglich ... Sie ...
COSTA.
Sie!
ALEXIS.
Euphrosyne?
COSTA.
Richtig,
Wenn's keine andre ist.
ALEXIS.
O all ihr Rosen
Von Ispahan! – Sie! Warum kam sie?
COSTA.
's wollt
Sich in der Fremde kein Alexis finden.
Ich bring' die Torheit Euch durch Finsternis,
Durch Qualm, Gewürme, Nessel, Dornenriß!
Ab.
[436]
ALEXIS allein.
Halt du! Du sollst nicht! Lauscht nicht hier der Tod?
O treues Veilchen! ... Fort! Hinweg! Hinweg!
Herbei! ... Wer reißt den Becher von den Lippen
Des halb Verschmachteten? ...
Ausgewählte Ausgaben von
Alexis
|
Buchempfehlung
Während seine Prosa längst eigenständig ist, findet C.F. Meyers lyrisches Werk erst mit dieser späten Ausgabe zu seinem eigentümlichen Stil, der den deutschen Symbolismus einleitet.
200 Seiten, 9.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.
434 Seiten, 19.80 Euro