Viertes Kapitel

[176] Draußen, auf grünem birkenbesetzten Rasen, machten sich die Frauenzimmer um das Feuer zu schaffen. Der Ort war wirklich allerliebst und verdiente zum Familien- und Nachmittagsplätzchen ausersehen zu werden. Links und rechts sah man in das lichte, weißstämmige Gehölz, zwischen den Bäumen lag das reinlich gehaltne Häuschen des Hirten, am Fuße der Anhöhe sprang die Stadt in einem scharfen, mit Warttürmen gekrönten Winkel vor, der Fluß wand sich blinkend um diese Ecke. Nimmt man dazu, daß unter den Birken ein Sauerwasser aus der Erde quoll, über welchem von vorsorglicher Hand das Brunnendach gewölbt worden war, so hat man das Bild der friedlichen anmutigen Stelle.

Der Konrektor sprach mit einem Menschen, der seinen Gesichtszügen nach unkenntlich, auf einer Bank abseits am[176] Hause saß. Er trug einen ziemlich verbrauchten Rock von weißlicher Farbe, und einen Hut mit breiter Krempe, der das Antlitz verschattete. Was davon noch zu sehen gewesen wäre, bedeckte zum Teil wieder eine schwarze Binde, die über dem linken Auge und über der Wange lag.

»Wer ist der Mensch?« fragte die Rektorin, welche jetzt, geführt von Hermann, zum Platze gekommen war.

»Ein armer Spätrückkehrender aus Spanien, wie er sagt, wo er die sonderbarsten Schicksale erlebt haben will«, versetzte der junge Schulmann. »Er wandert zu seinen Eltern, die noch weit von hier wohnen sollen. Da er nicht Geld genug hatte, um in der Stadt einzukehren, so hat er seine paar Groschen dem Hirten gegeben, der ihm dafür auf einige Tage Obdach gewähren will. Er hat sich nach Ihnen und Ihrem Gemahle eifrig erkundigt, wie mir der Hirt sagte.«

Die Rektorin trat auf den Verhüllten zu, und fragte ihn: »Kennen Sie uns? Wissen wir etwas von Ihnen?«

»Wohl schwerlich«, versetzte der Fremde mit einer tiefen und rauhen Stimme. »Ich hatte nur von Ihnen, als von mildtätigen Leuten gehört, und da mein Weg noch weit ist, und mein Geld mir ausgegangen war, so ließ ich mir Ihr Haus beschreiben. Sie um eine Gabe anzusprechen.«

Sie erwiderte ihm etwas Freundliches und reichte ihm vorderhand, was sie bei sich trug, mit gutmütiger Einladung auf Speise und Trank in ihrem Hause. »Wenn ich auch den Bettlern sonst eben nicht hold bin«, mit diesen Worten wandte sie sich an Hermann, »so bekommt doch jeder Soldat etwas, der aus der Kriegsgefangenschaft in den fremden Ländern, wohin unser junges deutsches Blut geschleppt wurde, zurückkehrt. Mit diesen Almosen ehre ich das Andenken meines umgekommnen Sohns.«

Hermann, dem es lieb war, daß sich die Gelegenheit zu einer von ihm ablenkenden Unterredung darbot, erkundigte sich nach diesem Hausunfall und hörte ein Geschick, wie es durch die ungeheuren Kriegsereignisse leider so vielen deutschen Familien bereitet worden ist. Die Rektorin erzählte ihm, daß ihr ältester Sohn, ein wilder siebenzehnjähriger Bursche, mit dem der Vater nie zurechtkommen können, im Jahre Zwölf[177] ihnen fortgelaufen und der Fahne des Eroberers nach Rußland gefolgt sei. Bis Smolensk, ja bis zur Moskwa habe er, da er bald seinen Schritt bereut, noch Nachricht gegeben, nachher sei er verschollen.

»Wir hatten nach dem Frieden alle möglichen Erkundigungen angestellt, wir hatten, da diese nichts fruchteten, ihn betrauert und ihn darauf zu den Toten geschrieben«, fuhr die Rektorin gleichmütig fort. »Da machte er uns vor kurzem auf einmal wieder Unruhe. Ein hübsches Erbteil, welches ihm angefallen ist, und auf welches wir nach seinem Tode Anspruch haben, kann von uns nicht erhoben werden, bevor er nicht bei den Gerichten förmlich für tot erklärt worden ist. Und dieses Geld käme uns grade jetzt sehr zustatten, da die Bibliothek eines Professors in H. aus freier Hand verkauft werden soll, die der ganze Herzenswunsch meines Mannes ist, weil sie die Lücken seiner eignen vollständig ergänzt. Auch den beiden halben Liebesleuten da soll die Todeserklärung helfen. Zu den törichten Streichen meines Sohns gehörte auch, daß er sich mit Wilhelminen, welche damals sechzehn Jahre alt war, alles Ernstes versprochen hatte. Die Sache ist natürlich veraltet, der Konrektor und sie geben ein gutes Paar ab, sie ist auch mit ihm einig; dann aber kommen wieder Tage, wo ein überspannter Begriff von Treue in ihr aufwacht, wo sie Gewissensbisse empfindet, daß sie einem Zweiten angehören wolle, ehe sie noch völlig überzeugt sei, daß der Erste nicht mehr unter den Lebendigen wandle – kurz auch da wird der Ausspruch nötig sein, daß der Tote wirklich tot sei, um alles zum Abschluß zu bringen. Wir haben viele Umstände von dieser Angelegenheit gehabt, mein Alter war deshalb nach S. gereist, ich hoffe, daß er seinen Zweck erreicht hat.«

In dieser Erzählung fuhr sie noch eine Zeitlang fort, und sprach über die Dinge, welche sie und ihr Haus betrafen, mit derselben Rückhaltlosigkeit, welche ihr in Reden über fremde Verhältnisse eigentümlich war. Hermann, welcher diesen Geschichten etwas zerstreut zuhörte, und seine Augen umherschweifen ließ, bemerkte, daß der Fremde von seiner Bank gespannt lauschte, und das Haupt nicht von der Redenden abwandte.[178]

Indessen war das Getränk am Feuer zubereitet worden, Cornelie und Wilhelmine verteilten die Tassen und als hätte die Nachahmung der »Luise« vollkommen getreu werden sollen – die Löffel waren wirklich vergessen und mußten durch Birkenstäbchen ersetzt werden, die der Konrektor rasch zu dem Zwecke zu liefern wußte. Cornelie hatte, da dieser sich seinen Platz neben Wilhelminen nicht rauben ließ, neben Hermann sitzen müssen, machte ihn aber ihrer Nähe nicht froh, sondern benutzte jeden Vorwand, um aufzustehn und etwas zu besorgen.

Als es Abend werden wollte, kam der Rektor den Hügel herauf. Zugleich erschien von der Wiesenseite der Hirte, welcher sein Vieh eintrieb. Sie begegneten einander auf halbem Wege und der Rektor, welcher mit dem Hirten immer seinen archäologischen Verkehr hatte, begrüßte ihn, und sagte: »Wie geht es dir, männerbeherrschender Sauhirt?«

»Herr Rektor«, versetzte der Hirt, »Sie wissen es ja, daß ich keine Schweine hüte, sondern nur Ziegen- und Schafvieh. Und was die Männerbeherrschung angeht, so bin ich froh, wenn ich meine Herde in Ordnung halte, mit weiterem Regiment gebe ich mich nicht ab. Aber Sie haben hier so oft die alte Geschichte von dem Manne erzählt, der, ich weiß nicht, wie? heißt, und so lange fortgewesen ist, und endlich zurückkommt und bei dem Hirten liegt ...«

»Nun, und? Pergas!« sagte der Rektor.

»Ich meine nur, daß noch alle Tage kuriose Dinge vorfallen können«, sagte der Hirte.

»Nun erzähle mir, wie deine Reise abgelaufen ist«, sagte die Rektorin zu ihrem Manne.

»Ganz nach Wunsch«, versetzte dieser. »Unsre Zeugnisse und Bescheinigungen sind endlich als gültig angenommen worden. Wir haben nur noch den üblichen Eid zu leisten, daß wir seit dem Verschwinden Eduards nichts von ihm vernommen haben und ihn wirklich für tot halten, und dazu ist schon der nächste Donnerstag angesetzt worden. Tandem aliquando, kann ich sagen; die Bibliothek ist unter Brüdern das Dreifache wert, was dafür gefordert wird.«

Beide Gatten ergingen sich noch in behaglichen Gesprächen über die gehabte Mühe, die nunmehr hinter ihnen lag, Hermann[179] war in eigne Gedanken verloren, und Cornelie zerpflückte wie im Traume Blumen. Aus diesem Gespräche und Sinnen wurden alle durch einen dumpfen Schrei aufgeschreckt, den der Fremde ausstieß. Sie sahen sich um, und erblickten den jungen Schulmann, der neben Wilhelminen, verlegen, die Augen gesenkt, stand. Auch sie war errötet. Der Fremde erhob sich, und ging in die Hütte. Man konnte bemerken, daß er wankte.

Hermann war ihm gefolgt. Der Fremde lag schluchzend, das Haupt auf einen Tisch gelegt, und rief, da er den Eintretenden in seinem Schmerze nicht gewahr wurde, selbstvergessen: »Ja, ich bin ein Toter, und unter den Lebendigen ausgetan!« – In Hermann stieg blitzschnell eine Vermutung auf, die ihn vermochte, leise wie er eingetreten war, die Stube zu verlassen, um nicht eine zu gewaltsame Szene herbeizuführen.

Er sagte der draußen wartenden Gesellschaft, daß der Wandrer von der großen Anstrengung, die er gehabt, ein Übelbefinden gespürt habe, jedoch sich schon wieder erhole, und bewog sie, von weitrer Sorge um ihn abzustehn, und den Rückweg nach der Stadt anzutreten.

Nach so mannigfaltigen Vorfällen, die sich im engen Rahmen einer beschränkten bürgerlichen Haushaltung ereignet hatten, fühlte er das Bedürfnis der Einsamkeit, und war sehr froh, als er sich nach überstandnem Abendessen auf seinem Erkerzimmerchen befand. Er ließ den Zustand, in den er, ohne es zu wollen, eingetreten war, an seiner Seele vorübergehn, und wenn ihm die Weise dieser Leute freilich etwas eng und einförmig vorkommen wollte, so fühlte er doch, daß auf so schlichtem Denken und Empfinden eigentlich das Glück des Daseins ruhe. Aber auch dieser Idylle waren die düstern Farben der entsetzlichen Welterschüttrung zugeteilt, auch in sie ragte eine fremde unheimliche Gestalt hinein. »Ach!« rief er aus, »wer kann jetzt wissen, ob er nicht auch einmal, unkenntlich seinen Nächsten, fremd und abgeschieden umherschwanken wird?«

Er sah durch das Fenster. Ein schöner Stern ging hell am Horizonte auf. In diesem Augenblicke trat das Bild Corneliens wieder vor seine Seele, und eine innige Wärme durchdrang[180] ihn. Er hatte nicht zehn Worte mit ihr gesprochen und doch war es ihm, als kenne er sie seit Jahren. Er hatte geglaubt, sein Herz sei in Liebeshändeln abgemüdet, und nun kam es ihm vor, als habe er noch nie empfunden. Er fühlte ein unaussprechliches Verlangen, sich anzuheften, anzuklammern, und dem zweck- und planlosen Leben ein Ende zu machen. Mit diesen frommen Regungen sank er auf sein Lager zum erquickendsten Schlummer nieder.

Quelle:
Karl Immermann: Werke. Herausgegeben von Benno von Wiese, Band 2, Frankfurt a.M., Wiesbaden 1971–1977, S. 176-181.
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