Siebentes Kapitel

[444] Hermanns erster Gang nach der Rückkehr in die Stadt war zu Wilhelmi. In seinem Quartiere hörte er, daß der Freund zur Meyer in das Haus gezogen sei. Dort vernahm er von einem Bedienten einen abermals erfolgten Wechsel der Wohnung. Bestürzt meinte er schon, daß sich auch hier unangenehme Dinge ereignet haben möchten, als er Madame Meyer im Gespräch mit einigen Handelsleuten die Treppe herabkommen sah. Es wurden Bestellungen gegeben, und die Dame schien in diese Geschäfte so vertieft zu sein, daß sie selbst der Anwesenheit Hermanns eben keine Aufmerksamkeit widmete. Sie rief ihm flüchtig die jetzige Wohnung Wilhelmis zu, und sagte bescheiden errötend, daß unter den eingetretnen Verhältnissen eine kurze Trennung schicklich gewesen wäre, und daß ihm der Freund viel zu erzählen haben würde.

Im neuen Quartiere fand er Wilhelmi ebenfalls nicht. Um die Zeit hinzubringen, begab er sich nach einem öffentlichen Garten, wo er hoffen durfte, Bekannte zu treffen. Einer derselben, ein Hausfreund der Madame Meyer, und einer der Spottvögel, nahm ihn sogleich beiseite, und fragte ihn, ob er die Neuigkeit des Tages schon kenne? Ohne seine Antwort zu erwarten, fuhr er fort: »Saturn und Pallas sind in Konjunktion getreten, Wilhelmi und die Meyer haben sich verlobt.«

Nichts hätte ihn mehr überraschen können, als diese Nachricht, die bei Wilhelmis krittelndem Sinne und der von Madame Meyer oft ausgesprochnen Ehescheue auch wirklich sehr auffallend war. Er fragte den Spötter nach der Zeit und dem Einhergange dieses Vorfalls, worauf er eine Stadt- und Tagesgeschichte zu hören bekam, von welcher wir freilich nicht wissen, wieviel davon der Wahrheit und wieviel der Läst-rung angehörte.

»Unsre Freunde«, berichtete der Spötter, »sind unter lauter Kunstbestrebungen auf den Weg der Natur geraten. Schon lange hatten wir eine Annäherung zwischen beiden bemerkt;[444] die Vereinigung der Hälften des Sankt Stephansbildes mochte die der Herzen gewaltsam nach sich ziehn, aber den eigentlichen Ausschlag gab doch ein verfehltes Fest zu Ehren des byzantinischen Stils.«

»Wie soll ich das verstehn?« fragte Hermann.

»Sie wissen«, versetzte der Spötter, »daß die Meyer mit fester Treue an jenen langen spinnenbeinigen Gestalten, an den gebräunten Schwarten und glitzernden Goldgründen hangengeblieben ist, welche die übrige Welt nun auch schon wieder zu ermüden beginnen. Das wissen Sie aber nicht, und wir wußten es auch nicht, daß sie im stillen beschlossen hatte, das Ihrige werktätig zur Auferweckung dieses kindlichen Stils beizutragen.

Eines Tages, kurz nach Ihrer Abreise, erhielten die nächsten Freunde des Hauses Einladungen zu einem Frühstücke. Sie waren nicht förmlich, sondern der eine sollte dem andern wissen lassen, daß, wenn man sich von ohngefähr zu der und der Stunde einfände, man willkommen sein würde. Wir schlossen aus diesen Anstalten zu einer Vereinigung durch Zufall, daß etwas Besondres im Werke sein müsse, und verfehlten nicht, uns sämtlich einzustellen.

In einem Vorgemache trafen wir Wilhelmi, der uns unter allerhand Gesprächen dort zurückhielt, dann wie zufällig die Tür öffnete, und uns in die Kapelle führte, wo uns denn durch Zufall der Anblick eines lebenden Bildes ward. Die Meyer stand nämlich, durch Diadem, gescheiteltes Haar und altdeutsches Gewand der heiligen Elisabeth verähnlicht, in einer Blende, zu welcher Stufen emporführten, und reichte aus einem Korbe, den ein schöner Knabe ihr vorhielt, Semmeln und Wecken an arme Leute, welche von den Stufen oder von dem Fußboden der Kapelle in mannigfaltigen Stellungen zu ihr emporsahn. Einige Dienstmägde in ansprechender Kleidung vollendeten die Gruppe, welche wirklich ein recht artiges Tableau bildete. Die Zofen verrieten durch ihr Blinzeln, daß sie uns wohl bemerkten, während die Meyer mit niedergeschlagnen Wimpern tat, als habe sie unser leises Eintreten nicht wahrgenommen, und durch Wählen und Verwerfen der Eßwaren im Korbe die armen Leute in ihren Stellungen festzuhalten wußte.[445]

Endlich mußte man uns aber doch sehen, und nun löste sich das lebende Bild schnell auf. Die heilige Elisabeth kam, anscheinend überrascht, von den Stufen herab, bewillkommte uns höflichst, der Junge mit dem Brotkorbe lief davon, ihm folgten die armen Leute, und auch die Dienstmägde verloren sich still durch Seitentüren.

Man servierte uns hierauf in der Kapelle Schokolade und Likör, doch wußte die Meyer das Gespräch durchaus in einer religiös-gemütvollen Schwingung zu erhalten, wobei ihr Wilhelmi trefflich sekundierte. Nur die Vertrautesten des Hauses waren eingeladen worden; die Gesellschaft betrug nicht über zehn Personen.

Wie gewöhnlich, wurde nur von Kunst gesprochen. Die Meyer äußerte fromm-seufzend den oft vorgetragnen Wunsch, daß die Maler sich doch nur alle erst zu jener ältesten kindlichsten Auffassung zurückwenden möchten, durch welche allein das Höchste und Tiefste darzustellen sei.

Das letztere wurde ihr zwar in diesem zu gefälliger Nachgiebigkeit eingewöhnten Kreise einstimmig zugestanden, dagegen erhoben sich bescheidne Zweifel, ob jene alte Kunst mit Glück wieder heraufzubeschwören sei. ›Man hat doch nun einmal Jahrhunderte hindurch seinen Blick für die menschliche Gestalt, wie sie ist, und für die übrigen Dinge, wie sie wirklich erscheinen, geöffnet‹, sagten einige. ›Wie sollte man also die Augen wieder verschließen können, und den Menschen zumuten dürfen, anstatt der Muskel eine Linie, gewissermaßen eine Chiffre anstatt des verständlich ausgeschriebnen Worts anzunehmen‹.

Da diese Sätze, welche in mannigfachen Nutzanwendungen erläutert wurden, den gesunden Menschenverstand für sich hatten, so trieben sie unsre gute Wirtin etwas in die Enge.

Sie warf einen ängstlichen Blick auf Wilhelmi, der denn auch die Stimme erhob und sich also vernehmen ließ:

›Die Kunst‹, sagte er, ›sieht wohl nie die Dinge, wie sie sind, hat sie nie so gesehn, und noch weniger in ihrer Reinheit jemals versucht, sie so nachzubilden. Wollte man dies annehmen, so käme man auf jenes System von der Nachahmung der Natur zurück, welches denn wieder den Gemälden den höchsten[446] Wert beilegen würde, in welchen sich die getreuste Abschrift der menschlichen Haut mit allen Haaren, Mälern, Warzen und Schrunden zeigt. Diese Wahnmeinungen sind aber abgetan, und man braucht sie kaum noch zu bestreiten.‹

›Aber was sieht denn die Kunst, und was versucht sie darzustellen?‹ fragte jemand.

›Den Geist in der Natur‹, versetzte Wilhelmi, ›oder vielmehr die Form, welche der jedesmaligen Evolution des Geistes draußen in der Welt der Erscheinungen entspricht. Die Kunst ist geistiger Abkunft, sie erscheint immer im Gefolge irgendeiner großen religiösen, philosophischen oder poetischen Bewegung, selten mit ihr zugleich, meistenteils etwas nach ihr. So schuf Phidias in seinem erhaben-strengen Stile gewissermaßen noch einmal die ernsten Betrachtungen des Thales und der Pythagoräer aus, welche dieser Kunstepoche vorangegangen waren, so waren die späteren schönen und anmutigen Werke Nachklänge der allgemeinen Geistesblüte der Griechen, in welcher die reichste Mannigfaltigkeit nur die einfachste Harmonie umkleidete.

Und um nun auf unsre byzantinischen Bilder zu kommen, so sehe ich in ihren steifen, schmalen, langen Gestalten, in ihrer symmetrischen Anordnung keinesweges eine so unschuldige Kindlichkeit, die nicht weiß, was sie will und erstreben möchte. Vielmehr erscheint mir hier auf der Holztafel und in Farben dieselbe Richtung, welche sich kurz zuvor auf dem reingeistigen Felde der Scholastik veroffenbart hatte. Das Christentum hatte die Welt von Grund aus umgekehrt, und der menschlichen Seele ein Gebiet eröffnet, auf welchem sie sich nur tappend bewegte. Durch die Scholastik suchte sie sich zu orientieren, das schwankende Göttliche auf die Festigkeit des Begriffs zu bringen, das unerklärbar-Eine durch die Entgegensetzungen dem Dialektik dem Verstande anzunähern. Die erste Kunstform, welche nach der Scholastik, und zum Teil noch gleichzeitig mit den späteren Entwicklungen derselben durch Occam, auftrat, zeigt nun alle diese Elemente vereinigt, und zugleich das Ehrwürdige, wie das Subtile und Dürftige jener Richtung. Ganz bewußt, mathematisch-streng, nicht etwa schwachgemütlich bildet der Kirchenglaube die Grundlage der Werke,[447] von diesem gehn sie aus; in der Steifheit und Magerkeit der Formen erscheint der Begriff, und in der symmetrischen Anordnung die Dialektik, kurz jene Bilder sind nichts als gemalte Scholastik.

Diese verfiel, der Glaube verlor von seiner Strenge, der Geist suchte in Freiheit sein Ziel, und konnte auf diesem Wege der ganzen Fülle der Realitäten nicht entbehren. Wieder treu diesem Vorgange schreitet die Kunst der Periode nach, von welcher Cimabue und Giotto die Anführer sind. Das Strengkirchliche tritt mehr und mehr zurück, Maria wird ein schönes, wunderbares Weib, Christus ein begeisterter Lehrer, statt der symmetrischen bildet sich die dramatische Gruppe aus, und wenn die Maler nun allerdings Muskeln statt der parallelen und triangulären Linien malen, so sind es doch Muskeln in Handlung, mithin nur Träger einer geistigen Bewegung. Auch hier ist es nicht die sinnliche Natur, welche gesucht wird, sondern der Geist spiegelt in ihr, welche alle Bilder wiedergibt, nur seine eigne Emanzipation ab.

Jene Periode erreicht ihren Gipfel und stirbt darauf in kranken Zuckungen nach und nach ab. Die Symptome des Verfalls sind trockne Empirie, wollüstiger Materialismus, kokettierende Selbstsucht. Alle diese Übel hat die Kunst mitgelitten.

Wir sind nun auf dem Punkte angelangt, wo wir uns von geistiger Schwelgerei übersättigt fühlen, das heftigste Bedürfnis nach einem Obersten, Leitenden empfinden, und uns selbst einen gewissen Schematismus gefallen lassen würden, wenn er nur dahin führte, in unsre Unordnung Ordnung zu bringen. Ich frage: Liegen einer solchen Stimmung die freien, sinnlichglänzenden Kunstwerke nahe? Wird uns aus den fliegenden Gewändern, aus dem gefälligen Faltenwurfe, und den runden Gliedern und Formen nicht immer eine gewisse Leere und Kälte entgegenhauchen? Wird unser nach der Einheit der Regel schmachtender Geist nicht eine innigere Wahlverwandtschaft mit den alten strengen, symbolischen Bildern empfinden? – Und in diesem Sinne muß ich unsrer Freundin vollkommen recht geben, und wenigstens meinesteils auch so viel behaupten, daß wenn in unsrer Zeit eine eigentlich große Kunst entstände (was ich aber aus vielen Gründen für mehr als[448] zweifelhaft halte) diese mit der sogenannten byzantinischen eine starke Ähnlichkeit haben müßte.‹

Diese Rede, welche manchen Widerspruch fand, wurde von Wilhelmi mit so geschickten und glänzenden Wendungen verfochten, daß er endlich alle Opponenten zum Schweigen brachte. Die Meyer genoß ihren Triumph, und holte leise ein paar uns noch unbekannte Täflein herbei, von welchen allerhand heilige Gestalten, so schmal, als man sie nur verlangen konnte, auf Goldgründen die Beschauer ansahn. Eine allgemeine Erbauung griff um sich; man fragte die Besitzerin, aus welchem Kloster diese Schätze herrührten, welche jeder anwesende Kenner unbedenklich dem dreizehnten Jahrhundert zuschrieb.

Unsre Wirtin lächelte und sagte: ›Freund Wilhelmi zweifelt an dem Aufblühn einer großen Kunst unter uns, so viel ist aber gewiß, daß es Gemüter heutzutage gibt, in welchen die ganze Begeisterung jener alten Meister schlummert. Ja, meine Freunde, diese Tafeln, von welchen Sie glauben, sie seien ein halbes Jahrtausend alt, sind vor noch nicht zwei Monaten, und hier in meinem Hause gemalt.‹

Sie weidete sich an dem Erstaunen der Gesellschaft, und fuhr fort: ›Ich halte einen frommen Jüngling bei mir verborgen, welcher diese Bilder verfertigt hat. Durch Zufall machte ich seine Bekanntschaft, und fühlte mich verpflichtet, ihm fortzuhelfen, da ich sah, daß der Geist der Väter auf ihm ruhe. Noch mehreres als dieses hat er bereits geliefert. Ich sehe Ihr Erstaunen über das wundersame Talent, und da wir so freundlich beisammen sind, so erlauben Sie mir, ihn unter Ihnen einzuführen, Ihrer Huld und Gunst ihn zu vertrauen. Gewiß, Sie werden ihn lieben und fördern, wie ich. Gegenwärtig malt er an einem Heilande, mit mystisch geschlitzten Augen, welcher die Welt segnet, überaus ähnlich einem lieben Bilde, dessen ich mich aus einer böhmischen Kirche erinnre. Wenn es Ihnen ebenso viele Freude macht, wie mir, das stille Weben des Genius zu belauschen, so folgen Sie mir zu jenem Schiebefensterchen, durch welches ich oft stundenlang, von ihm unbemerkt, in seine stille Werkstatt blicke, und meinem Angelo (denn so nenne ich ihn wegen seines engelreinen Gemüts) zusehe.‹[449]

Wir erhoben uns, und zufällig war ich in dem Zuge nach dem Schiebefenster der vorderste. Ich schob sacht das Vorhängelchen von den Scheiben hinweg, und sah in die Werkstatt des jungen Byzantiners. Hier bekam ich aber etwas zu schauen, worauf ich keinesweges gefaßt war, und welches mir zugleich bewies, daß unsre Zeit wenigstens noch zwischen der Sehnsucht nach dem Symbolischen und dem Verlangen nach sinnlicher Naturwahrheit sich schwankend mitteninne hält. In der Werkstatt lag nämlich auf einem dunkelroten Teppich, der über ein Ruhebett gebreitet war, ein schönes Mädchen, in dem Zustande, wie sie Gott der Herr erschaffen, und in der Stellung der Danae oder Leda; denn der Einzelheiten erinnre ich mich so genau nicht mehr. Der Byzantiner stand neben ihr, mit Kohle und Malerstock bewaffnet, und rückte an ihren Gliedmaßen, um die Stellung noch natürlicher zu machen.

Ich hütete mich wohl, meine Überraschung laut werden zu lassen, sondern trat, nachdem ich einige Sekunden dieser keinesweges unerfreulichen Anschauung genossen, still zurück. Nach mir gelangte ein Pietist zum Schiebefenster, welcher in ein Gebetbuch geschrieben hatte, er bezeuge mit seiner Hand, daß der Herr an ihm ein Zeichen gesetzt habe. Dieser sagte auch kein Wort, sondern seufzte nur nachdrücklich, und zog dann den Kopf, scheinbar nicht ohne Widerstreben, hinweg. Bis dahin war alles leidlich gegangen; nun aber wollte eine alte Dame das Weben des Genius sehen, legte Augen und Nase dicht an das Glas, fuhr aber dann mit einem fürchterlich zu nennenden Geschrei zurück. Dies hörten der Byzantiner und die Nackte; sie sahen die fremden Zuschauer hinter den Glasscheiben. Rot und sprachlos stand der junge Mann da, stampfte mit den Füßen, und hielt den Malerstock gleichsam drohend in die Luft; das arme Geschöpf schlüpfte hinter die Staffelei, welche sie nicht ganz verdeckte.

Die Wirkung dieses so ganz unerwarteten Ereignisses war außerordentlich. Wir jüngeren Leute sahen verlegen vor uns hin, und taten, als ob wir uns schämten, der Pietist faltete die Hände und blickte gen Himmel, die alte Dame eiferte gegen die Meyer, welche, durch einen flüchtigen Blick in die Werkstatt auch von dem Unheil in Kenntnis gesetzt, wie vernichtet[450] dastand, und sich auf Wilhelmi lehnte. Umsonst war dessen Trostspruch, daß es ja nur ein Modell sei, sie flüsterte ihm unter zornigen Tränen zu, er solle den sittenlosen Heuchler auf der Stelle aus dem Hause schaffen. Einige junge Mädchen, welche sich im Zuge verspätet hatten, und nun neugierig herandringen wollten, wurden von der alten Dame mit der Eröffnung, daß eine Fledermaus dort umherschwirre, die sich ihnen leicht in die Haare setzen könne, zurückgehalten.

Nachdem Wilhelmi seinen strengen Auftrag in der Stille ausgeführt hatte, und wir wieder zu unsern Sesseln in der Kunstkapelle gelangt waren, fühlten wir wohl, daß fernere gesellschaftliche Freuden schwerlich geraten möchten, und wollten uns in schicklicher Weise entfernen. Leider aber hatte die Meyer einen fremden durchreisenden berühmten Künstler auf ihren Byzantiner bitten lassen, zu dessen Veröffentlichung und Ruhm der Tag ausdrücklich von ihr bestimmt worden war. Dies erfuhren wir durch einige Reden Wilhelmis, als wir der beim Abschiede empfangnen Einladung uns entziehen wollten. Unter solchen Umständen wäre ein Außenbleiben unhöflich gewesen, und so stellten wir uns denn sämtlich, mit Ausnahme der alten Dame, am Abend wieder ein, obgleich mir von einem Tage, der so quer begonnen hatte, nichts Gutes ahnte, und die verstörten Augen der Wirtin zu erkennen gaben, daß ihr die härteste Strafe lieber gewesen sein würde, als eine zierliche, im heiligen Geiste der Kunst versammelte Gesellschaft.

Wir kamen in Zimmern zusammen, wo wir früher nie waren empfangen worden, weit von der Kapelle und von den Sammlungen der alten Periode. Papiertapeten bekleideten die Wände, gleichgültige elegante Meubles standen umher. Nur ein Gemälde war vorhanden, das Bildnis des seligen Meyer, im braunen Frack, von Weitsch gemalt. Es hing über dem Sofa; wie ich hörte, hatte der verstorbne Eheherr diese Gemächer bewohnt.

Das Gespräch lahmte, und wurde eigentlich nur von dem fremden Künstler im Gange erhalten, den ein Kreis andächtiger Verehrer umgab. Er erzählte viel von seinen Reisen, von seinen Bekanntschaften mit Kaisern und Königen, wobei eine[451] angenehme Selbstgefälligkeit zum Vorschein kam, die unter uns, wie Sie wissen, nie ihre Wirkung verfehlt. Seine beiden Knaben, junge mutwillige Eulenspiegel, trieben sich umher und verübten allerhand Possen, welche die Zeit hinbringen halfen. Zuletzt, und ziemlich spät, erschien unser Dichter, welcher sein neuerdings bedeutend angeschwollnes Manuskript mitbrachte und nach kurzer Weigerung sich bereitwillig finden ließ, daraus die zuletzt ausgearbeiteten Kapitel vorzutragen.

Nun war er aber leider an die Darstellung des fünfzehnten Jahrhunderts geraten und hatte diesem wegen seiner Wichtigkeit die gründlichste Durchführung gewidmet. Besonders erschöpfend handelte er die Frage ab, ob die Kunst jener Zeiten noch eine religiöse zu nennen sei? und hatte das Für und Wider nach allen Richtungen hin in seinen Versen versammelt.

Die Terzinen wälzten sich wie ein endlos flutender Strom daher, eine Stunde nach der andern schlug, und noch war kein Ziel der Sache abzusehn. Ich betrachtete zu meiner Unterhaltung die Gesellschaft ringsumher, und sah die verschiedenartigsten Versuche, sich durch tiefes Atemholen, Rücken auf dem Stuhle, Spielen mit den Uhrketten usw. munter zu erhalten.

Nur die Höllenstrafen sind ewig, jede Vorlesung aber hört denn doch endlich auf. Der Kunstdichter schloß und trocknete sich den Schweiß ab, wir durften uns von unsern Stühlen erheben und die abwesenden Lebensgeister wieder herbeirufen; die Meyer aber, welche vielleicht allein an dieser poetischen Leistung Behagen gefunden hatte, weil dieselbe sie über einen lästigen Abend hinwegbrachte, nötigte mit artiger Verbeugung in ein Nebenzimmer, wo uns eine kalte Kollation erwarten sollte.

Ich hatte die Knaben des fremden Künstlers nach der ersten Lesestunde in das Nebenzimmer schleichen sehn, und die Glücklichen beneidet, welche dort ruhig auf einem Sofa die Vorlesung verschlummern durften. Nicht ahnete ich, daß sie weit verhängnisvollere Absichten im Schilde führten und wirklich durchsetzten.[452]

Als wir nämlich das Nebenzimmer betraten, und die Wirtin uns mit dem verbindlichen: ›Wenn es Ihnen gefällig wäre ...‹ zu Tische nötigte, sahen wir zwar diesen, weißgedeckt, von Lampen beleuchtet, auch darauf verschiedne Schüsseln, Assietten und Fruchtkörbe, alle diese Eßgeschirre aber durchaus leer und ihres Inhalts beraubt. Die Urheber des Raubes konnten nicht lange zweifelhaft bleiben, denn die beiden Knaben standen am Tische, beschäftigt, die letzten Reste der Konfekte und Früchte zu verzehren. Von den Salaten, Fleischschnitten und Cremen war keine Spur mehr zu erblicken. Sie hatten der Tat auch kein Hehl, denn auf die zornige Frage des Vaters, wie sie sich das hätten unterstehn können, versetzten sie unbefangen, daß nach ihrer Meinung diese Sachen zum Essen hingesetzt worden, und daß sie hungrig gewesen wären. Unglaublich würde Ihnen diese Aufzehrung eines Abendessens für zwölf Personen durch zwei Knaben klingen, wenn Ihnen nicht die Frugalität unsrer Genüsse bekannt wäre.

Die arme Meyer dauerte mich. Es war viel zu spät, um noch einen Ersatz des verschwundnen Abendessens herbeischaffen zu können. Sie wollte über den Vorfall scherzen, aber es gelang ihr übel. Die Gesellschaft gab ihr die Versichrung, daß niemand Appetit verspüre, aber wer hätte dieser Behauptung nach so langwierigem Vorlesen Glauben geschenkt?

Der Künstler, welcher die nächste Verpflichtung hatte, die Anwesenden für die durch die Gefräßigkeit seiner Knaben erlittne Einbuße zu entschädigen, fand sich am ersten zurecht und sagte: ›Wir haben hier leider erlebt, wie die Natur, aller Ästhetik spottend, in roher Weise ihren Weg geht. Angenehmer ist es, zu sehn, wie sie sich dem Zwange zum Trotz, den ihr Narren antun wollen, unaufhaltsam die Bahn bricht, und eine solche Erfahrung habe ich heute hier gemacht. Ich fand ein junges Talent, welches man von seinem Ziele abzuleiten gedachte, und welches sich dennoch zu dem machen wird, was es ist.

Als ich in den Morgenstunden aus den Fenstern meines Gasthofs sah, hörte ich unten auf der Straße ein lautes Schluchzen. Ein junger Mensch stand vor der Pforte des Hauses und ließ einem Kummer, der auch halb wie Zorn aussah, auf solche ungezähmte Weise freien Lauf, ohne der[453] Umstehenden zu achten. Die prächtige Gesichtsbildung des Jünglings, seine hohe Stirn, gebogne Nase, und das reich wallende Haupthaar zogen mich an, ich ging hinunter, und fragte nach der Ursache seiner Tränen. Anfangs wollte er mir nicht Rede stehn; ich ließ jedoch nicht ab, nahm ihn mit auf mein Zimmer und brachte ihn dort zum Geständnis. Er sei ein armer Junge ohne Eltern und Beschützer, erzählte er. Von Kindheit an habe er die größte Lust zum Zeichnen gehabt, und alles nachgeahmt, was ihm zu Gesicht gekommen, Bäume, Tiere, Soldaten. Niemand aber sei ihm behülflich gewesen, daß er etwas lernen können. Endlich habe sich eine reiche Dame seiner angenommen; nun sei er in ihrem Hause untergekommen, wo er aber verborgen habe leben müssen. Die Dame habe ihm gesagt, er werde ein großer Mann werden, wenn er sich ganz nach gewissen Bildern richte, die sie ihm denn auch gezeigt habe.

Der Jüngling nannte diese Bilder in seiner Natursprache Herrgötter mit Eidechsenleibern, und ich wußte bald, woran ich war. Er beschrieb mir seine Pein, welche er empfunden, da er diese Mißgestalten nachbilden müssen, in so rührenden Wendungen, daß mein Anteil immer höher stieg.

Indessen, sagte er, habe er doch gemerkt, daß jene Herrgötter menschliche Körper vorstellen sollten, und da sei das brennendste Verlangen in ihm erregt, einen wirklichen natürlichen Leib in seiner wahren Gestalt zu erblicken. Zufällig habe er gehört, daß es Personen beider Geschlechter gebe, die sich wohl zu solchem Zwecke den Malern darliehen, und nun habe er nicht eher geruht, bis er des ersehnten Anblicks teilhaftig geworden sei. Da habe er denn etwas zu sehen bekommen, worüber nichts in der Welt gehe; jegliches so ebenmäßig, fein, rund und doch straff. All sein Taschengeld habe er nun auf Modelle verwendet, deren verschiedne Stellungen er in seinen heimlichsten Stunden, selig vor Vergnügen, abgezeichnet habe. Heute sei er mit einer wahren Wollust bemüht gewesen, die Glieder und Formen eines wunderschönen Mädchens auf das Papier zu übertragen, als er wahrgenommen, daß man ihn belausche. Es sei hierauf ein großer Lärmen im Hause entstanden, und die Dame habe ihm, als einem schlechten liederlichen[454] Menschen die Türe weisen lassen. Außer sich vor Ärger und Beschämung sei er nach dem Gasthofe gelaufen, um sein Brot anderweit zu verdienen, sei es auch durch Laufen und Packentragen für die Reisenden.

Ich wollte den Namen jener guten Törin wissen, welcher es unbekannt zu sein scheint, daß man, um Menschen zu malen, ihre Gestalt kennenlernen muß; mein junger Exilierter weigerte sich aber, da er aus meinen Worten abnahm, wie ich über den Vorfall denke, sie zu nennen, die immer, so fügte er hinzu, seine Wohltäterin bleibe. Durch diesen Beweis von Zartsinn wurde er mir noch lieber.

Ich ließ ihn seine Zeichnungen bringen, und hatte über ein urkräftiges Talent zu erstaunen, welches in Gefahr gewesen war, durch verrückte Modetorheit, wenn nicht erstickt, doch aufgehalten zu werden. Roh und unfertig waren diese Sachen, das ist richtig, aber aus jedem Punkte, aus jeder Linie leuchtete ein so tiefer Sinn für die Natur, ein so reines Schönheitsgefühl hervor, daß ich wahrhaft in Erstaunen gesetzt ward.

Es versteht sich, daß ich ihn nicht hierlasse, sondern mit mir nehme, obgleich ich voraussehe, daß er mich in kurzem überholen wird. – Wissen Sie vielleicht mir die altertümelnde Beschützerin zu nennen? Denn ich muß ihr doch danken, daß ihre Kenntnis von dem Studiengange eines Malers mir zu dieser Bekanntschaft verholfen hat.«

Quelle:
Karl Immermann: Werke. Herausgegeben von Benno von Wiese, Band 2, Frankfurt a.M., Wiesbaden 1971–1977, S. 444-455.
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