[79] Einigermaßen, wenn auch nicht genügend, wurde die Sehnsucht des alten Barons befriedigt, sie erhielt sozusagen, wie das Sprichwort lautet, eine Birne für den Durst, als der Schulmeister Agesilaus in seine Nähe kam. Dieser Mann, welcher früher Agesel geheißen hatte, und ein alter Bekannter des Barons war, bekleidete bis zu dem Umschwunge in seinem Schicksale das Amt, die Jugend eines benachbarten Dörfchens im Lesen und Schreiben zu unterrichten. Er wohnte in einer Hütte von Lehmwänden, die außer der Schulstube nur sein Schlafkämmerchen faßte, hatte dreißig Gulden jährlichen Gehalt, außerdem das Schulgeld: zwölf Kreuzer für den Knaben und sechs für das Mädchen, einen Grasfleck für ein Rind und das Recht, zwei Gänse in die Gemeindeweide mit einzutreiben. Er versah seinen Dienst ohne Tadel, lehrte die Jugend nach der alten Manier, so wie sie im Dorfe seit hundert und mehreren Jahren gebräuchlich war, buchstabieren: G-e-, Ge, s-u-n-d, sund, h-e-i-t, heit; Gesundheit – B-e-t, Bet, t-e-l, tel, Bettel, s-a-c-k, sack; Bettelsack usw. und brachte die fähigsten Köpfe nicht selten so weit, daß sie Gedrucktes ohne sonderliche Anstrengung lesen lernten. Was das Schreiben anlangte, so ging auch aus seinen Händen dieser und jener hervor, der den eignen Namen zustande zu bringen wußte, wenn man ihn nicht übereilte, sondern ihm die nötige Zeit ließ.[79]
In diesem Systeme war unser Schulmeister fünfzig Jahre alt geworden. Da ereignete es sich, daß die allgemeinen Steigerungen des Zeitalters auch einen neuen Lehrplan im Lande hervorriefen, der bis zu den Dorfschulmeistern umbildend durchgreifen sollte. Seine Vorgesetzten schickten ihm ein Lehrbuch der deutschen Sprache zu, eines von denen, welche die ABC-Wissenschaft tiefsinnig und philosophisch begründen wollen, und erteilten ihm die Weisung, seine bisherige rohe Empirie zu rationalisieren, sich selbst zuvörderst aus dem Buche zu unterrichten, und dann danach die veränderte Belehrung der Jugend anzufangen.
Der Schulmeister las das Buch durch, er las es noch einmal durch, er las es von hinten nach vorn, er las es aus der Mitte, und er wußte nicht, was er gelesen hatte. Denn es war darin gehandelt von Stimmlauten und Mitlauten, von Auf- In- und Umlauten; er sollte daraus die Laute trüben und verdünnen lernen, er sollte durch Säuseln, Zischen, Pressen, durch Näseln und Gurgeln die Laute hervorbringen, er vernahm, daß die Sprache Wurzeln treibe und Seitenwurzeln, er erfuhr endlich daraus, daß das I der reine Urlaut sei, und daß dessen Erzeugung durch starkes Zusammendrücken des Kehlkopfes nach dem Gaumen hin geschehe.
Er bat Gott um Erleuchtung in diesen Finsternissen, aber sein Flehen prallte zurück von dem ehernen Himmel. Er setzte sich wieder vor das Buch, mit der Brille auf der Nase, um schärfer zu sehen, wiewohl er bei Tageslicht wohl noch ohne Gläser fertig werden konnte. Ach, nur deutlicher traten seinen bewaffneten Augen die furchtbaren Rätsel des Daseins, die Sause-Zisch- Preß- Nasen- und Gurgellaute entgegen! Darauf legte er das Buch weg, fütterte seine Gänse und gab einem Jungen, der gerade dazukam und sagte, der Vater wolle das Schulgeld nicht zahlen, zwei derbe Maulschellen, um durch das praktische Leben Aufschluß für die Theorie zu gewinnen. Umsonst. Er aß eine Knackwurst, sich körperlich zu stärken. Vergebens. Er leerte einen ganzen Senftopf, weil er gehört hatte, dieses Gewürz schärfe den Verstand. Eitles Bemühen!
Er legte das Buch abends vor dem Schlafengehen unter sein Kopfkissen. Leider fühlte er am anderen Morgen, daß weder[80] die Wurzeln, noch die Seitenwurzeln ihm in den Kopf gedrungen waren. Gern hätte er das Buch, wie Johannes jenes vom Engel getragne, auf die Gefahr der empfindlichsten Leibschmerzen hin, verschlungen, wäre er dadurch des Inhaltes Meister geworden; aber welche Hoffnungen konnte er nach dem Bisherigen von einem so gewagten Versuche hegen?
Die Schule stand still, die Kinder fingen Maikäfer, oder jagten die Enten in den Teich. Die Alten aber schüttelten den Kopf und sagten: »Mit dem Schulmeister hat es seine Richtigkeit nicht.« Eines Tages, nachdem er sich wieder in seinen verzweiflungsvollen Bemühungen um den Sinn der Dünnung und Trübung abgearbeitet hatte, rief er: »Wenn ich dieser Bestie von Buch nur erst an einem Flecke beigekommen bin, so gibt sich vielleicht das übrige von selbst!« – Er nahm sich vor, zuvörderst den reinen Urlaut I nach der Anweisung des Buchs zu erzeugen.
Er setzte sich daher auf seinen Grasfleck zum Rinde, welches dort, unbekümmert um rationelle Lauterzeugung, empirisch brummte, stemmte die Arme in die Seite, drückte den Kehlkopf stark nach dem Gaumen hin, und stieß nun die Töne hervor, welche sich auf solche Weise veranstalten lassen wollten. Sie waren höchst sonderbar, und so auffallend, daß selbst das Rind vom Grase emporblickte und seinen Herrn mitleidig ansah. Eine Menge Bauern hatte der Schall herbeigezogen; sie standen neugierig und verwundert um den Schulmeister her. »Gevattern!« rief dieser und ruhte einen Augenblick von seiner Anstrengung aus, »paßt einmal auf, ob es der reine Urlaut I wird?« Darauf gab er sich wieder an die Kehlkopf-Gaumendrückung. »Gott behüte!« riefen die Bauern, und gingen nach Hause, »der Schulmeister ist übergeschnappt, er quiekt schon wie ein Ferkel.«
Und wirklich stand der arme Schulmeister nahe an der Grenze, über welche die Bauern ihn bereits gesprungen glaubten. Die Frist war abgelaufen, welche man ihm zum Selbstunterrichte gesetzt hatte, er sollte jetzt nach dem Buche lesen lernen lassen, eine Visitation seiner Schule durch den Herrn Schulrat Thomasius nahte heran, die Verzweiflung trat ihm zum Herzen, und seine Gedanken begannen zu schwärmen.[81] Andre sind durch das Brüten über der unbefleckten Empfängnis der Jungfrau Maria, oder über dem Geheimnisse der Trinität, oder von dem Gedanken an die Ewigkeit verrückt geworden; warum sollte ein Dorfschulmeisterlein nicht durch eine moderne Sprachlehre den Verstand verlieren können? Genug, ich erzähle es, und wer mir nicht glauben will, frage im Dorfe Hackelpfiffelsberg nach. Da hat sich die Geschichte zugetragen, und jedes Kind weiß dort davon.
Ein reisender Student kam in jenen Tagen durch Hackelpfiffelsberg, der kehrte in der Schenke ein, und vernahm von dem närrischgewordenen, oder närrischwerdenden Schulmeister. Es war ein feiner, denkender Kopf, der sich besonders auf Psychologie verlegt hatte, und der daher eine große Begierde verspürte, den Kranken kennenzulernen. Er fand ihn in leinenen Ärmeln sitzen, die behaarte Brust offen, eine große weiße Nachtmütze auf dem Kopfe. »Wie geht es, Meister?« fragte der Student. »So, so, Fremdling«, versetzte der Schulmeister. »Nicht wahr, die alten Spartaner waren Kerle? Keine müßige Gelehrsamkeit, keine Quälerei mit Umlauten, Inlauten, Brustlauten! Alles auf Tatkraft, auf das wirkliche Leben berechnet, den Körper abgehärtet, den Sinn zugespitzt zu Apophthegmen! Mich soll der Henker holen, wenn ich mir nicht alles in Zukunft lakedämonisch einrichte! Meine wackern Vorfahren! Denn was ist Agesel? Agesel ist nichts, verstümmelt, verdorben aus Agesilaus, dem tapfern Könige von Sparta. Die Türken vertrieben die Griechen, darunter waren natürlich die Nachkommen des Königs Agesilaus auch, und die haben sich allmählich bis hieher verzettelt, die Endsilbe ist aber unterweges verlorengegangen. O, man müßte nicht von den Wurzeln und den Ableitungen die Zeit her die Kränk' gekriegt haben, wenn man so etwas unglaublich finden wollte!«
»Hoho«, dachte der Student, »steht es dermaßen hier? Aber ein anziehender Fall! Ich muß ihn beobachten.« Er blieb den ganzen Tag über bei dem Schulmeister, und merkte durch viele Fragen aus seinen krausen Antworten endlich sich so viel ab, daß der Kranke in früheren Jahren eine alte Schwarte über die Sitten und Gebräuche jenes griechischen Freistaates gelesen hatte, schon damals von denselben höchlich entzückt gewesen[82] war, daß nun gegenwärtig die gleichsam in Schlummer gelegenen Vorstellungen erwachten und ein fieberhaftes Leben in ihm gewannen. Abends trug der Student folgendes Notizenschema in seinem Tagebuche ein: »Paralysierung des Denkvermögens in einem beschränkten Geiste durch unverdaulichen Denkstoff.
Allmähliches Denk-Nichts.
Eintreten einer prägnanten antiken Idee im Vacuo.
Die Atome des aufgelösten Denkvermögens schießen an dieser Idee an.
Zustand des Rappelns.
Konsolidation des Rappelns
Fixe Idee.
Außerdem vernünftiger Mensch.
NB. Nach der Ferienreise weiter auszuführen.«
Es mochte ohngefähr ein Vierteljahr nach diesen Vorfällen verstrichen sein, als der Schulmeister, nur bekleidet mit einem braunen, groben Mantel, in der Hand eine junge Tanne, vor den alten Baron trat, der in seinem verwilderten französischen Garten hinter dem Schlosse die freie Luft genoß. Der Baron wußte im allgemeinen schon von den Dingen, die seinem Bekannten widerfahren sein sollten, und trat daher drei Schritte vor ihm zurück, besonders da er ihn mit dem nicht gerade dünn zu nennenden Tannenstamme gerüstet sah. Aber der Schulmeister lächelte, und legte, als ob er die Gedanken des andern erriete, die junge Tanne ab. Dann machte er dem Baron eine höfliche Verbeugung, und sprach die üblichen Begrüßungsworte, ohne daß in Ton oder Wendung etwas Exzentrisches hervorgesprungen wäre. Der Baron faßte daher Mut, ging auf den Schulmeister zu, ergriff seine Hand und sagte: »Nun, wie geht's Euch, alter närrischer Teufel? Was für Streiche habt Ihr denn angefangen, Agesel?«
»Agesilaus, wenn ich bitten darf, gnädiger Herr«, erwiderte der Schulmeister sanft und höflich. »Ich habe diesen meinen guten, ehrlichen Stammnamen wieder angenommen.«
Der Baron entfernte sich nun doch wieder etwas von seinem Besuche, und sah ihn mit scheuen Blicken von der Seite an.[83] Der Schulmeister aber fuhr gesetzten Wesens fort: »Ich weiß, was Sie von mir denken, mein Gönner. Sie halten mich für verrückt. Sie irren sich, Herr Baron; ich bin nicht verrückt. Es sollte mir leid tun, wenn ich mich in diesem Zustande befände, denn dann könnten Sie mir mit Recht dasjenige versagen, um welches ich Sie dringend ansprechen muß. Ich habe meine fünf Sinne vollkommen beisammen, und weiß, daß ich ein Nachkomme des alten Königs Agesilaus bin, daß ich folglich die Verpflichtung habe, spartanisches Leben und Wesen in mir darzustellen, welches wohl überhaupt ein herrliches Korrekti-vum für diese weichliche, abgeschwächte, übergelahrte und sophistische Zeit sein möchte.«
Der Baron fragte, um nur etwas zu sagen: »Ist es denn wahr, was ich gehört habe, daß Ihr abgesetzt seid, Herr ... Herr ... Agesilaus ... nicht? so nennt Ihr Euch?«
»Abgesetzt allerdings, fortgejagt, wenn Sie so wollen, durch den Schulrat Thomasius«, erwiderte Agesilaus ruhig. »Nachdem ich das grammatische Fieber, in welches ich durch jene Höllen-Lautlehre gestürzt worden war, überwunden hatte, hielt ich es für meine Schuldigkeit, die mir anvertraute Dorfjugend lakedämonisch zu bilden. Ich wies sie daher an, zu stehlen und sich nur nicht betreffen zu lassen, um ihre List und Kühnheit zu üben, ich erregte Streit und Schlägerei unter ihnen, um ihre Herzhaftigkeit zu prüfen, und ich prügelte sie allwöchentlich dreimal ohne Grund ab nach dem Muster der Geißelung am Altare der Diana. Herrlich schlug auch meine Methode an. Die Jungen fanden, daß noch nie so lustig Schule gehalten worden sei, rauften sich, daß es eine Art war, ohne zu mucksen, stahlen ihren Eltern die Äpfel vor der Nase weg, und ließen sich nicht erwischen, verschmerzten selbst die grundlosen Prügel wegen der sonstigen Ergötzlichkeiten, die sie jetzt ungestraft hatten. Aber die dummen Bauern konnten meinen Plan nicht fassen. Sie schrien, daß ich ihre Brut von Grund aus verderbe, und verklagten mich. Da hat mich nun der Schulrat – nun, er ist auch keiner von den hellsten Köpfen – von dannen getrieben, und also ereilte mich das Fatum.«
»Ich wundre mich nur«, sagte der Baron, der sich noch immer von seinem Erstaunen nicht erholen konnte, »über alle[84] die gelehrten Anspielungen, die Euch da so vom Munde stäuben, wie Federn vom Kissen, wenn das Bett gemacht wird. Woher habt Ihr das Fatum und die sophistische Zeit, und was Ihr sonst noch vorbrachtet?«
»Es kommt mir alles dieses und mehreres dergleichen, wenn ich es gebrauche, wie durch innere Eingebung und Erleuchtung«, antwortete der Schulmeister. »Seit die Urerinnerung an meine tapferen und unvergleichlichen Vorfahren in mir aufgewacht ist, stehen meinem Geiste Dinge zu Gebote, welche freilich vordem in meinem Dorfleben mir nicht geläufig waren.«
Er trug nun dem Baron sein Anliegen vor, welches darin bestand, ihm Obdach und notdürftige Leibesnahrung zu gewähren, da er nach seiner Absetzung von allem entblößt sei und nichts besitze, als was er um und an sich trage. Der Baron nahm Anstand, einen tollen Menschen (denn dafür hielt er den Schulmeister), im Schlosse zu beherbergen, gleichwohl litt es sein gutes Herz nicht, einen Dürftigen hungern und frieren zu lassen. Er wies ihm daher ein kleines, verfallenes Gartenhäuschen, welches in der entferntesten Ecke des französischen Gartens auf einem Schneckenberge stand, und ehemals grün angestrichen gewesen war, zum Quartier an. Damit war sein Schutzbefohlner vollkommen zufrieden. Er zog ein, nannte den Schneckenberg das Gebirge Taygetus, und taufte ein kleines Wässerchen, welches ziemlich träge unter sogenanntem Entenflott in der Nähe dahinschlich, zum Eurotas um. Einmal des Tages kam er auf das Schloß, mit den Bewohnern ihre kärgliche Mahlzeit zu teilen; die zweite hielt er in seiner Behausung ab. Sie pflegte in der Regel aus einer Art von Mehlbrei zu bestehen, den er auf dem Schneckenberge an Reisigfeuer zurichtete, und seine schwarze Suppe nannte. Außer seinem Mantel hatte er keine Kleidungsstücke; sein Getränk schöpfte er vom Brunnen mit einem alten irdenen Topfe, der ihm den spartanischen Becher oder Kothon bedeuten mußte, und von welchem er rühmte, daß er, wie jenes antike Schöpfgefäß, wegen seines eingebognen Randes jegliches Trübe und Unreine vom Munde abhalte; alle Woche aber holte er vom Schlosse sich frisches Stroh zur Lagerstatt, und hieß dies, sich Schilf im Eurotas schneiden.[85]
Nach einiger Zeit hatte der Baron alle Furcht vor seinem Gaste verloren. Denn er bemerkte, daß dieser über jeden Gegenstand so verständig dachte und redete, wie der gesetzteste Alltagsmensch, und daß auch seine spartanischen Vorstellungen sich zu einer sogenannten unschädlichen Schrolle, oder zu dem, was man den Wurm bei einem Menschen nennt, gemildert hatten. In der Tat mußte er gestehen, daß unter den Gesetzen Schmalhansens, des Küchenmeisters, die über Schloß und Gartenhäuschen herrschten, die lakedämonische Einfachheit vollkommen gerechtfertigt war, und daß ihrem Anhänger daher die Zugabe von der Ahnenschaft des Königs Agesilaus wohl mit durchgehen konnte. Seine Gesellschaft wurde ihm nun sehr lieb; er hatte doch jemand, mit dem er in den langen Herbst- und Winterabenden plaudern konnte; er durfte nicht mehr befürchten, an dem Ideenreichtume, den die Journale in ihm hervorbrachten, zu ersticken.
Freilich war, wie wir im Anfange dieses Kapitels sagten, der Schulmeister nur eine Birne für den Durst. Über Geschichten und Anekdoten konnte sein Gönner mit ihm verhandeln, und des lebhaftesten Gespräches sicher sein, wenn er wichtige Punkte der Historie zur Sprache brachte, wie zum Beispiel: Ob Brutus recht gehabt habe, Cäsarn zu erstechen, was aus der Welt geworden sein möchte, wenn die Franzosen die Revolution nicht zustande gebracht hätten, oder wenn Friedrich der Große und Napoleon Zeitgenossen gewesen wären, und was dergleichen mehr war. Dagegen fehlte dem vermeintlichen Abkömmlinge des Königs von Lakedämon aller Sinn für die Kuriositäten aus der Länder- und Völkerkunde, und aus dem Gebiete der Erfindungen, Handels- und Gewerbsverhältnisse, denen der Baron gerade am leidenschaftlichsten sich zuneigte.
Mit dem Fräulein hatte der Schulmeister manchen Streit und sie duldete ihn eigentlich nur ihres Vaters wegen. Er war ihr besonders durch eine feurige Rede verhaßt geworden, in welcher er die Sitte der Spartaner, auch die Jungfrauen bei den Festen der Götter nackt tanzen zu lassen, höchlich herausstrich. Ein Nervenanfall hatte sie nach dieser Rede ergriffen und mehrere Wochen lang unpäßlich gemacht. Er nahm sich daher auch späterhin eine größere Vorsicht in seinen Lieblingsreden[86] zur Richtschnur, um den Boden, auf dem er seine Freistatt gefunden hatte, nicht zu unterwühlen. Andernteils wurde es nach und nach der allgemeine Grundsatz der drei Akademiker von Schnick-Schnack-Schnurr, eine zarte Schonung der gegenseitigen Schoßneigungen walten zu lassen.
In diesen Verhältnissen lebten der alte Baron, das Fräulein und der Schulmeister ihre seltsam-abgeschie denen Tage hin. Eines Abends sagte der Schloßherr zu seinem Schützlinge: »Ihr seid jetzt weit ruhiger und gleichmütiger, Herr Agesilaus, als vor Zeiten, wo es Euch doch im Grunde besser ging, als jetzunder. Damals konntet Ihr streckenlang sehr mürrisch und verdrießlich sein.«
»Mürrisch und verdrießlich nun wohl nicht, mein Gönner«, versetzte der Schulmeister, »aber tiefsinnig und melancholisch. Wenn ich so meine schmutzigen Jungen in einem fort buchstabieren ließ, eine Woche nach der andern, einen Monat nach dem andern, und sich das ohne Resultate fortsetzte, diejenigen, welche lesen gelernt hatten, die Schule verließen, und frische Rangen, die noch nichts wußten, wieder hineinkamen, und immer, immerdar wieder von vorn dasselbe angefangen werden mußte, da konnte mir das ganze Leben zuletzt völlig dünn und unzusammenhangend vorkommen, und es gab Nächte, worin mir träumte, das menschliche Dasein sei nur ein langes, leeres ABC, von dem die Buchstaben XYZ in der Ewigkeit ständen, und aus welchem nie ein verständiger Satz, ja nur ein sinnvolles Wort würde. Wollte ich mir dann zu meinem Troste sagen, ich sei eben nur ein armer Dorfschulmeister, die Trübe dieser Meinung entspringe aus meiner gedrückten Lage, und glücklichere Menschen, wie hohe Obrigkeiten oder gar durchlauchtige Potentaten seien wohl in dem Falle, ihrer Existenz einen Zusammenhang zu geben, so war die Beschwichtigung doch nicht lange stichhaltend. Denn ich mußte erwägen, daß das Regieren über Land und Leute doch auch nur so ein ödes, langwieriges Buchstabieren sei, und daß, wenn man es an irgend einem Zipfel zum Lesenlernen gebracht habe, dieser verschwinde, und an der andern Seite ein neues Fibelschützenwesen zu stammeln beginne. Aber seit ich meine Ahnen kenne, seit ich weiß, welche herrliche Erinnerungen in mir sich fortsetzen,[87] und durch mich lebendig zu erhalten sind, ist alles in mir Ruhe und Freudigkeit, haben sich die Bestandteile des Lebens im Kreise um mich her gestellt, kurz, bin ich zur Klarheit und zum Bewußtsein durchgedrungen.«
»Sonderbar!« rief der alte Baron vor sich hin, als der Schulmeister nach dieser Äußerung fortgegangen war. »Wie es scheint, muß der Mensch immer einen Sparren haben, um recht zusammenzuhalten. Die Vernunft ist wie reines Gold, zu weich, um Façon anzunehmen; es muß ein tüchtig Stück Kupfer, so eine Portion Verrücktheit darunter getan werden, dann ist dem Menschen erst wohl, dann macht er Figur und steht seinen Mann. Was für ein Gimpel war der Schulmeister sonst, und wie gescheit spricht er jetzt, seitdem es bei ihm rappelt. Das Leben ist doch ein kurioses Ding, und wäre ich nicht geborner Geheimer Rat im höchsten Kollegio, so könnte mir auch vor mir bange werden. Aber da ich der bin, so muß ich natürlich meinen vollen Verstand besitzen.«
Ausgewählte Ausgaben von
Münchhausen
|
Buchempfehlung
Diese »politische Komödie in einem Akt« spiegelt die Idee des souveränen Volkswillen aus der Märzrevolution wider.
30 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.
430 Seiten, 19.80 Euro