[534] Meine Schwester ist abgerufen worden, und ich, liebste Sylli, bin nicht imstande fortzufahren. Mein Blick ist schon wieder getrübet; jenes Wehklagen, wovon ich erst sagte, daß ich es so hell aus Deiner Brust hervorgehen hörte, dringt von neuem in mein Ohr, und kein Jubel wird es übertäuben. Du kennst das an mir, daß ich nicht leicht in einem Gefühl mich so ganz verliere, von einer Vorstellung so ganz befangen werde, daß ich nun weiter nichts sähe noch wüßte. Wahr – Du hast den Himmel in Dir selber; und wer wird Dich nicht deswegen selig preisen? Aber auch nicht minder wahr ist alles was ich vorhin bemerkte: und so säßest Du mit Deinem Himmel dann doch in einer Art von Hölle. Deine Briefe sind ein eigentlicher Wechselgesang aus beiden, voll Verzweiflung und Wonne. Was muß ein Herz nicht ausstehen, in welchem so feindliche Töne zusammenkommen, das sie ineinanderschmelzen, zu einer Melodie vereinigen soll! Alle Saiten des Instruments müssen nacheinander springen, und der Sangboden selbst. Liebste Sylli, ich ertrag's nicht. Oh, daß ich bei Dir wäre, oder ich dürfte meine Lenore für Dich missen. Wir entbehrten gern einander, opferten noch viel mehr auf, wenn Dir damit geholfen wäre. Sag ob Du eine von uns willst, und welche? So unvollkommen auch die Teilnehmung wäre, die Du bei uns guten Kindern fändest, so wäre sie doch rein, voll in ihrem Maß und innig. Unsere Augen, Sylli, ließen gewiß die mehrsten Deiner Blicke ein – und weiter. So gewönne Deine Seele Raum; erhielt eine Stätte, wo sie einen Teil ihres Lebens hinflüchten und aufbewahren könnte. – Sag, Liebe, soll ich kommen. Ich fühle seit einiger Zeit einen außerordentlichen Trieb wieder einmal um Dich zu sein, und wollte Dich schon jüngst mit Anschlägen dazu unterhalten. Damals war es mir fast allein um mich zu tun. Ich hätte gern mehr Freude an mir selber, und die erhielt ich zuverlässig, wenn ich Dir ähnlicher würde. Mir deucht – was Amalia jüngst vom kleinen Heinrich sagte – jeder Deiner Küsse müßte mir etwas von Deinem holden Wesen einhauchen.
Ich soll zusiegeln, schickt Clerdon. Also kriegst Du nichts von Amalia. Die Gute hat sich wohl nicht überwinden können,[534] unsere Frau von Reinach allein zu lassen. Ein wunderbares Weib! so jung, so sprudelnd von Leben, und doch von allem was nur einer Schuldigkeit ähnlich sieht, so völlig hingerissen, wie andre von ihren Leidenschaften. Wir fahren fort uns oft Vorwürfe darüber zu machen, daß wir ihre immerwährende Aufopferungen zulassen; aber es ist als wenn die Gottlose mit Fleiß einen gleich wieder verstockte. Ich sage tausendmal, wenn sie einem Mägdedienst anböte, man dächte kaum daran sich zu widersetzen, so lieb und schicklich geht ihr alles ab. Und hüten kann sich einer nie genug vor ihr; im Hui hat er die Gefälligkeit, das Gute weg, und weiß von keinem Dank. – Ade, Sylli! so lauf ich hin, und fall ihr um den Hals.
Ich muß hier etwas nachholen, das in der Vorrede vergessen worden. Rousseau (dessen Unterredung über die Romane von der neuen Heloise ich gern dem Leser ganz übersetzte, da sie so manches enthält, das diesen Briefen trefflich zustatten käme) soll für mich sprechen. Dieser legt seinem Freunde die Bemerkung in den Mund, daß ein gewisser Zug von Ähnlichkeit in Sinn und Schreibart, die man bei den Personen der neuen Heloise wahrnehme, nebst einigen andern Unschicklichkeiten die Mutmaßung verstärke, daß sie kein erdichtetes Werk sei. »Die Natur«, sagt er, »welche nicht besorgt, daß man sie verkenne, ändert oft von Schein; und oft verrät sich die Kunst, indem sie natürlicher sein will, als jene, ist der Grunzer in der Fabel, der es besser kann als das Tier! In dieser Sammlung ist vieles so ungeschickt, daß sich der ärgste Schmierer davor gehütet hätte . ... Wo ist einer, der nicht angefangen hätte sich zu sagen: man muß die Charaktere genau bezeichnen, muß pünktlich den Stil verändern. Ohnfehlbar hätte er es bei diesem Vorsatz besser gemacht, als die Natur.
Ich beobachte, daß in einer sehr innigen Gesellschaft, die Schreibarten sich einander so nähern, wie die Charaktere, und daß wie die Seelen der Freunde sich vermischen, ebenso auch ihre Arten zu denken, zu empfinden, und sich auszudrücken, ineinanderfließen.«
Wenn es hiemit seine Richtigkeit hat, so wird man sich nicht wundern, in den Briefen Amaliens und der Fräulein von Wallberg Beobachtungen, Ideen, einen Schwung der Seele anzutreffen, die man an dem andern Geschlechte nicht gewohnt ist. Der Enthusiasmus, womit diese guten Geschöpfe an ihrem Clerdon hangen, die Andacht, in der sie immerwährend vor ihm schweben, geben demjenigen, der hievon eine Vorstellung hat, zu allem Aufschluß. Warum aber indessen doch Amalia, die beinah Abgötterei mit demselben treibt, mehr oder auffallendere Eigenheit in Wesen und Stil behält, wird sich in der Folge entwickeln.
F.[535]
Ausgewählte Ausgaben von
Aus Eduard Allwills Papieren
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