Zweites Kapitel.

[19] In gewisser Weise führte das Kind die Eltern wieder zusammen, denn an seiner kleinen Wiege begegneten sie einander stets in gemeinsamer Hoffnung, gemeinsamer Freude und gemeinsamer Furcht; an ihn dachten sie, und von ihm sprachen sie gleich gern und gleich häufig, und dann waren sie einander so dankbar für das Kind und für die Freude an ihm und für die Liebe zu ihm.

Lyhne ging ganz in seiner Landwirtschaft und in seinen Gemeindeangelegenheiten auf, ohne doch irgendwie zu leiten oder einzugreifen; er arbeitete sich aber gewissenhaft in das schon Bestehende ein, er schaute voll Teilnahme zu und war mit den vernünftigen Verbesserungen einverstanden, die sein alter Verwalter oder der Älteste der Gemeinde nach gründlicher, sehr gründlicher Erwägung in Vorschlag brachten.

Es fiel ihm niemals ein, die Kenntnisse, die er in früheren Zeiten erworben hatte, praktisch zu verwerten,[19] dazu hatte er zu wenig Zutrauen zu dem, was er mit dem Namen Theorie bezeichnete, und einen viel zu großen Respekt vor den durch althergebrachte Gewohnheit geheiligten Erfahrungssätzen, welche die anderen das wahrhaft Praktische nannten.

Genau genommen war nichts an ihm, was darauf hindeutete, daß er nicht sein Lebenlang hier gelebt, und zwar unter diesen Verhältnissen gelebt hatte. Mit Ausnahme von einer Kleinigkeit. Und diese bestand darin, daß er oft halbe Stunden lang regungslos auf einem Balken oder einem Stein am Wege sitzen und in seltsamer Benommenheit über den üppig grünenden Roggen oder den goldenen, schwerbefruchteten Hafer vor sich hinstarren konnte. Das hatte er anderwärts her, das erinnerte an den alten Lyhne, an den jungen Lyhne.

Bartholine fand sich in ihrer Welt nicht so auf einmal und ohne Straucheln zurecht. Nein, zuerst klagte sie sich durch die Verse von hundert Dichtern hindurch, dann stöhnte sie mit der ganzen breiten Alltäglichkeit jener Zeit über die tausenderlei Schranken des Menschenlebens, über seine Fesseln und Bande; bald kleidete sie ihre Klagen in den edeln Zorn, der seinen Wortschwall gegen den Thron der Kaiser und gegen die Gefängnisse der Tyrannen schleudert, bald erschienen sie als stiller, mitleidvoller Kummer, der das reiche Licht der Schönheit von einem blinden, knechtisch gesinnten Geschlecht entweichen sieht, fast erliegend unter der gedankenlosen Geschäftigkeit der Tage; und ein andermal war das Gewand ihrer Klage[20] nur ein stiller Seufzer nach dem freien Fluge des Vogels oder nach den Wolken, die so leicht dahinschweben in die unendliche Ferne.

Aber sie ward der Klagen müde, und die Machtlosigkeit der Klagen erweckte Zweifel und Bitterkeit in ihr; und wie gewisse Gläubige ihren Heiligen schlagen oder ihn mit Füßen treten, wenn er seine Macht nicht zeigen will, so spottete sie jetzt der vergötterten Poesie und fragte sich selber höhnisch, ob sie wohl glaube, daß sich der Vogel Phönix bald im Gurkenbeete niederlassen oder daß sich Aladdins Wunderhöhle unter dem Milchkeller erschließen würde, ja in kindischer Übertreibung vergnügte sie sich daran, den Mond einen grünen Käse und die Rosen Potpourri zu nennen. Dabei hatte sie ein Gefühl, als räche sie sich, nicht ohne die ängstliche Zwischenempfindung, daß sie sich einer Blasphemie schuldig mache.

Der Befreiungsversuch, der diesem Bestreben zugrunde lag, mißglückte. Sie versank wieder in ihre Träume, in die Träume ihrer Mädchenzeit, aber es war nur der eine Unterschied da, daß jetzt keine Hoffnung diese Träume mehr erhellte; sie hatte gelernt, daß es nur Träume waren, ferne, verführerische Luftspiegelungen, die keine Sehnsucht der Welt auf ihre Erde herabzuziehen vermochte. Gab sie sich also diesen Träumen jetzt hin, so geschah es nur mit innerer Unruhe und trotz einer mahnenden Stimme, die ihr vorhielt, daß sie dem Trinker gleiche, der weiß, daß seine Leidenschaft verderblich ist, daß jeder neue Rausch seine Kräfte schwächt und die Macht[21] seiner Leidenschaft vermehrt; aber die Stimme erklang vergebens, denn ein nüchtern gelebtes Leben, ohne das süße Laster der Träume, war ihr kein Leben, das wert war, gelebt zu werden – das Leben hatte ja nur den Wert, den ihm die Träume gaben.

So verschieden waren der Vater und die Mutter des kleinen Niels Lyhne, die beiden freundlichen Mächte, die, ohne sich dessen bewußt zu sein, einen Streit um seine junge Seele stritten, schon von dem Augenblicke an, wo sich ein Funke von Verstand in ihr zeigte; und je älter das Kind wurde, desto heftiger entbrannte der Streit, denn desto reicher wurde die Auswahl der Waffen.

Die Eigenschaft des Sohnes, durch die die Mutter auf ihn einzuwirken suchte, war seine Phantasie, und Phantasie hatte er vollauf, aber schon in frühester Jugend zeigte er, daß es für ihn einen himmelweiten Unterschied gab zwischen der Fabelwelt, die auf das Wort der Mutter entstand, und der wirklichen Welt; denn unzählige Male geschah es, wenn ihm die Mutter Märchen erzählte und ihm schilderte, wie traurig es dem Helden ergangen war, daß dann Niels, der keinen Ausweg aus all der Not finden konnte, der nicht absah, wie all das Elend zu überwinden wäre, das sich gleich einem undurchdringlichen Ring um den Helden zusammenschloß und ihn enger und enger in seine Kreise bannte – ja dann geschah es oft, daß Niels plötzlich seine Wange gegen die Mutter preßte und mit tränenden Augen und bebenden Lippen flüsterte: Aber das ist doch nicht wirklich wahr? Und wenn er[22] dann die trostreiche Antwort erhielt, auf die er gehofft hatte, dann atmete er wie von einem schweren Druck befreit auf und hörte in geborgener Sicherheit das Ende der Geschichte an. Aber der Mutter war dies Fragen und Unterscheiden eigentlich gar nicht recht.

Als er zu groß für die Märchen geworden war, und als auch sie müde wurde, immer neue zu erfinden, erzählte sie ihm mit kleinen Ausschmückungen von all den Helden in Krieg und Frieden, deren Lebenslauf zum Beweis dienen konnte, welche Macht in einer Menschenseele wohnt, wenn sie nur das eine will – das Große, wenn sie sich weder von den kurzsichtigen Zweifeln der Gegenwart abschrecken, noch von ihrem sanften, tatenlosen Frieden verlocken läßt. In dieser Tonart bewegten sich die Erzählungen, und da die Geschichte nicht genug Helden besaß, die geeignet waren, wählte sich die Mutter einen Phantasiehelden, über dessen Taten und Schicksale sie frei verfügen konnte, so recht einen Helden nach ihrem eigenen Herzen, Geist von ihrem Geist, Fleisch von ihrem Fleisch, und auch Blut von ihrem Blut. Einige Jahre nach Niels' Geburt hatte sie nämlich einen toten Knaben zur Welt gebracht. Was dieser hätte werden können, was er alles in der Welt hätte ausrichten können, gleich einem Prometheus, einem Herkules, einem Messias, das schilderte sie jetzt dem Bruder in phantastischen Bildern, die nicht mehr Fleisch und Blut besaßen, als das arme kleine Kinderskelett, das dort oben auf dem Lönborger Kirchhof zu Erde und Asche vermoderte.[23]

Und Niels verfehlte nicht, die Moral dieser Geschichten zu erfassen; er sah vollkommen ein, wie verächtlich es sei, so zu werden, wie die Menschen im allgemeinen waren; er war auch bereit, das harte Los auf sich zu nehmen, das den Helden beschieden war, und willig litt er im Geiste unter den zehrenden Kämpfen, dem herben Mißgeschick, dem Martyrium der Verkennung und den friedlosen Siegen. Aber es war doch ein großer Trost für ihn, daß es noch gute Weile damit hatte, daß dies alles erst kommen würde, nachdem er groß geworden.

Wie die Traumgebilde und Traumtöne einer Nacht am hellen Tage wiederkehren und in Nebelgestalt den Gedanken anrufen können, so daß dieser eine flüchtige Sekunde gleichsam lauscht und sich staunend fragt, ob es wohl wirklich gerufen habe – so zogen die Vorstellungen von jener traumhaften Zukunft leise über Niels Lyhnes Kindheitstage hin und erinnerten ihn ohn' Unterlaß, daß dieser glücklichen Zeit ein Ziel gesteckt sei, und daß sie eines Tages nicht mehr sein werde.

Dies Bewußtsein erzeugte den brennenden Wunsch, das Kindheitsleben in seiner ganzen Fülle zu genießen, es mit allen Sinnen einzusaugen, keinen Tropfen zu vergeuden, auch nicht einen einzigen, und so kam es, daß eine Innigkeit in seinen Spielen lag, die sich unter dem Drucke des beängstigenden Gefühls, daß ihm die Zeit entrann, ohne daß er aus ihren reichen Wogen alles, was sie Welle auf Welle brachte, hatte bergen können, zu einer wahren Leidenschaft steigerte. Er konnte sich auf die Erde[24] werfen und vor Verzweiflung schluchzen, wenn er sich einmal an einem Ferientage langweilte, weil ihm irgend etwas fehlte, ein Spielkamerad, Erfindungsgabe oder gutes Wetter. Aus diesem Grunde ging er auch stets so ungern zu Bette, weil der Schlaf das Ereignislose, das völlig Empfindungslose war. Aber es war nicht immer so.

Es geschah auch wohl, daß er ermüdete, daß seine Phantasie nicht die geringsten Farben mehr besaß. Dann fühlte er sich unsagbar elend, er fühlte sich zu klein, zu nichtig für jene ehrgeizigen Träume, ja, es schien ihm, als sei er ein unwürdiger Lügner, der sich in frechem Übermut den Schein gegeben habe, als liebe er das Große und Edle, als verstehe er es, während er doch in Wirklichkeit das Alltägliche liebte, während alle niedrigen Wünsche und Begierden in ihm lebten; oft war es ihm sogar, als empfinde er den ganzen Klassenhaß der Niedriggeborenen gegen die Höhergestellten, als würde er sich mit Wonne an der Steinigung dieser Herren beteiligen können, die aus edlerem Geblüt waren als er, und die wußten, daß sie es waren.

In solchen Zeiten mied er seine Mutter, und mit einem Gefühl, als folge er einem weniger edeln Instinkt, hielt er sich zu dem Vater. Er hatte dann ein williges Ohr und einen empfänglichen Sinn für alle seine an der Erde klebenden Gedanken und traumlosen Erklärungen. Und er fühlte sich so wohl bei dem Vater, war so glücklich, daß er beinahe vergaß, daß dies derselbe Vater war, auf[25] den er sonst von den Zinnen seines Traumschlosses als einen Unebenbürtigen mitleidig herabgesehen hatte.

Freilich stand dies alles vor seinem kindlichen Bewußtsein nicht mit der Klarheit und Bestimmtheit, die ihm durch das ausgesprochene Wort verliehen wird; es war in einer nicht greifbaren, erst werdenden Form vorhanden, gleichsam unfertig, ungeboren, nicht unähnlich der wunderbaren Pflanzenwelt auf dem Meeresgrunde, durch trübes Eis gesehen; zerschlage das Eis oder beleuchte das dunkel Lebende mit dem Licht der Worte, und das Gleiche wird sich ereignen: das, was du nun sehen und fassen kannst, ist in seiner Klarheit nicht mehr das Dunkle, das es vorher gewesen ist.

Quelle:
Jacobsen, J[ens] P[eter] : Niels Lyhne. Leipzig [o. J.], S. 19-26.
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