1.

»Wunderlich, wunderlich.«

»Das finde ich gar nicht. 's ist eben eine fixe Idee, an der unser Bekannter leidet.«

»Fixe Idee? Da irrst du. Der Mann wäre viel zu klug, um sich das nicht selbst zu sagen. Es muß mehr als bloße Sinnestäuschung sein.«

Dieses Gespräch wurde im Kaffeehaus einer kleinen süddeutschen Stadt geführt. Es waren drei junge Leute, die hier öfters zusammenkamen, um ihre Meinungen und Ansichten auszutauschen. Während sie sich unterhielten, war ein Vierter eingetreten, ging jetzt auf sie zu und ließ sich bei ihnen nieder.

»Wir haben soeben von Ihnen gesprochen« bemerkte der eine der Freunde, »Bolz meint ganz richtig, Sie müßten mit irgend einem Bekannten zusammenziehen; das Alleinsein tauge nicht für Sie.«

»Wirklich Breitner, daß sollten Sie aufstecken. Es[137] ist die Ursache aller Ihrer –« er stockte und setzte hinzu: »all Ihrer Unbehaglichkeit. Wenn ich mir vorstelle, daß ich so ganz mutterseelenallein in einer eigenen Wohnung hauste, die während meiner Abwesenheit von einer alten Aufwärterin in Ordnung gebracht wird, daß ich Tag und Nacht mir allein überlassen wäre, Donnerwetter, ich glaub ich würde selbst schwermütig.«

Uber Bertram Breitners Gesicht flog ein Lächeln.

»Lieber Bolz, dasselbe was Sie mir sagen, habe ich mir unzähligemale selbst gesagt. Ich habe auch den Versuch gemacht, mit Bekannten zusammen zu hausen. Aber –« er lehnte sich mit merkbarem Unmut zurück, »weshalb reden wir wieder von mir? Sprechen wir doch von anderen Dingen. Haben Sie Pichler nicht wieder gesehen? Er sagte mir jüngst, er würde Ende dieser Woche nach London reisen. Er wolle sich dort an einer großen überseeischen Unternehmung beteiligen. Kellner, ein Glas Wermut und eine Manilla.«

Die Freunde schwiegen einen Augenblick; dann sagte der eine:

»Wo werden Sie den Rest des heutigen Tages verbringen? Wollen Sie sich uns nicht anschließen? Wir gehen nach dem Kegelklub.«

Breitner trank seinen Wermut in einem durstigen Zuge aus. »Danke für die freundliche Einladung, habe aber schon über den heutigen Abend verfügt.«[138]

Man plauderte noch ein wenig, dann erhoben sich die drei Freunde. Bei ihrem Aufbruch stieß einer von ihnen an Breitners Stuhl an. Breitner warf einen bestürzten Blick neben sich und verfärbte sich ein wenig. Er blieb noch eine Weile, nachdem die Andern sich entfernt hatten. Er versuchte eine Zeitung zu lesen, legte sie aber bald wieder fort. Nachdem er noch zwei Gläschen Wermut geleert hatte, erhob auch er sich und ging.

Auf der Straße, als ihn niemand beobachtete, trat ein verängstigter Zug in sein Gesicht. Dann und wann blieb er stehen und sah an seine rechte Seite, als ob er da etwas oder jemanden erblickte.

Er ging nach einer entlegenen Straße, trat in ein kleines einstöckiges Haus und klingelte an einer Thür zur ebenen Erde. Eine alte Frau mit ehrwürdigen Zügen öffnete und schüttelte ihm herzlich die Hand.

»Herr Breitner! Kommen Sie nur herein. Klara wird gleich dasein.« Sie traten in ein helles, freundliches Zimmer mit weißen gehäkelten Schutzdeckchen auf den Möbeln und vielen Blumen am Fensterbord.

Die alte Frau zog Bertram neben sich auf das Sofa.

»Mir ists ganz recht, daß ich Sie einmal allein sehe. Ich möchte eine Frage an Sie richten. Sie sind ein Jahr lang in unserer Stadt, seit drei Monaten besuchen Sie uns. Sie nehmen Interesse an meiner Tochter, ja, Sie wünschen ihr Herz zu gewinnen, um[139] sie zu Ihrer Gattin zu machen Verzeihen Sie es einer Mutter, wenn sie neugierig ist, über den Mann Näheres zu erfahren, dem sie ihr Kind anvertrauen soll.«

Bertrams Wangen waren noch blasser als sonst geworden.

»Fragen Sie, gnädige Frau, ich begreife Ihren Wunsch vollkommen.« Er lehnte sich in die Sofakissen zurück.

»Aber meine Fragelust scheint Ihnen Weh zu bereiten, ich sehs an dem Ausdruck Ihres Gesichts.«

Er machte eine ungeduldige Handbewegung. »Lassen Sie das, reden Sie nur.«

»Also –« die alte Dame schraubte die Lampe etwas höher – »weshalb sind Sie so seltsam? Sie sagen, daß Sie wohlhabend seien, und haben mich sogar über die Höhe Ihres Vermögens unterrichtet. Sie begannen zu studieren, brachen ab. Sie wollten Landwirtschaft betreiben, gingen aber nicht über den Vorsatz hinaus. Dann trafen Sie Maßregeln, eine Reise um die Welt zu machen; aber gleich nach den ersten Vorbereitungen gaben Sie auch diesen Plan auf. Sie haben mir das alles selbst erzählt. Ich weiß nicht, wenn ein anderer Mann so handelte, ich würde einfach denken, er sei eben ein wandelbarer Mensch ohne festen Charakter. Aber Sie machen so gar nicht den Eindruck der Flatterhaftigkeit. Erklären Sie sich mir ein wenig, erzählen Sie. Als Sie eines Tages eintraten, um auf eine Anzeige[140] hin, die ich in der Zeitung erließ, einige Bestellungen zu machen, dachte ich im ersten Augenblick, nicht unsere Nähkünste, sondern die Anmut meiner Tochter habe Sie hierhergezogen. Aber bald wurde ich meinen Irrtum gewahr. Sie hatten mein Kind noch gar nicht gesehen. Als Sie Klara erblickten, ging ein Strahl der Freude über Ihr Gesicht. Sie, der reiche Mann, behandelten die beiden armen Frauen mit einer Ehrerbietung, die uns bewegte. Sie wußten damals ja noch nicht, daß wir Verhältnissen entstammen, die uns allerdings berechtigten, dieses Entgegenkommen von aller Welt fordern zu dürfen. – Genug, wir gewannen Sie herzlich lieb, und ich hatte eine Empfindung des Glückes, als Sie mir eines Tages anvertrauten, daß Sie mein Kind lieben. Verscheuchen Sie nun diesen Schatten eines mir selbst unklaren Argwohns, erklären Sie mir Ihr Wesen und seien Sie der aufrichtigsten Teilnahme gewiß.«

Sie nahm liebevoll seine Hand in die ihre. Er machte eine Bewegung mit den Lippen als ob er lächeln wollte, erhob sich, ging etlichemale auf und nieder und kehrte wieder auf seinen vorigen Platz an die Seite der alten Dame zurück.

»Gnädige Frau, was soll ich Ihnen sagen? Sie fordern einfach, daß ich mir selbst mein Todesurteil spreche. Ich habe lange diesen Augenblick erwartet, aber gewünscht, ihn noch hinausschieben zu können.[141] Natürlich – ein Unglücklicher geizt ja mit den Stunden seines Glücks. Gnädige Frau!« er erhob sich sehr blaß und stellte sich vor die alte Dame hin, »sehen Sie mal, bitte, hierher an meine rechte Seite. Was erblicken Sie da neben mir? Nein, nein, nicht so hoch, nie derer!« er wies in der Höhe seines Kniees hin.

Frau Scheelhausen konnte sich eines leisen Schreckens nicht erwehren.

»Aber nichts, nichts sehe ich, bester Breitner« sagte sie betreten.

Er lächelte bitter. »Auch Sie nicht. Nun denn. Sehen Sie, hier, fast an meinem Bein angeschmiegt, steht ein kleines schwarzes Hündchen. Sehen Sie es nicht? Es ist von der Größe eines mittleren Rattlers, dunkelhaarig, mit stumpfen schwarzen Augen, die sich von Zeit zu Zeit fragend oder sinnend, ich weiß nicht, auf mich richten. Sehen Sie es wirklich nicht, Sie auch nicht?«

Es lag etwas Verzweifeltes im Tonfall seiner Stimme.

Die alte Frau sah gespannt auf die angegebene Stelle.

»Nein Breitner, bei der Liebe Gottes, ich kann nicht das geringste entdecken.« Dann schlug sie die Hände vor das Gesicht und begann bitterlich zu weinen.

»Ein Wahnsinniger, nicht wahr?« sagte er höhnisch.[142] »Und einem Wahnsinnigen giebt eine Mutter ihr Kind nicht, natürlich nicht. Guten Abend, gnädige Frau.«

Er trat zur Thür. Sie ergriff ihn an der Hand und zog ihn zurück. Ihre guten, von Thränen gebadeten Augen verschwiegen ihr Entsetzen und hatten nur einen Blick des innigsten Mitgefühls für ihn.

»Nein Breitner, so dürfen Sie nicht von mir gehen, so nicht. Erzählen Sie mir von der Sache. Wann hatten Sie jene – Hallucination zum erstenmale?«

»Es ist keine Hallucination« sagte er fest, »und ich will nicht, daß Sie es als solche empfinden. Thun Sie es, dann müssen Sie mich ja als Irrsinnigen betrachten, und der bin ich nicht, ich schwöre es Ihnen.«

Er fiel kraftlos auf einen Sessel.

Sie ließ sich in seiner Nähe nieder und strich beschwichtigend über seine Hand.

»Ich halte Sie gewiß für keinen Irrsinnigen, Breitner.«

»Aber ich verzichte auch auf Ihr Mitleid.« Er entzog widerwillig seine Hand ihrer Liebkosung. »Ich will, daß Sie trocken sagen: ›Nun ja, vielleicht giebts doch in der Welt der Möglichkeiten einen Fall, daß dieser Hund thatsächlich neben Ihnen herläuft, aber von niemand Anderem als von Ihnen erblickt wird.‹« Er strich sich das braune Haar aus der Stirn. »So will ich es; für andere Empfindungen mir gegenüber danke[143] ich. Da bleibe ich lieber, was ich bisher war: ein einsamer, fürsichgehender Mensch.«

»Sagen Sie mir nur eins, lieber Breitner.« Die alte Frau wendete in anscheinender Gleichgültigkeit ihre Blicke von ihm ab und richtete sie auf den grünen Schirm der Lampe. »Wann sahen Sie den Hund zum erstenmale?«

Er sann einen Augenblick nach.

»Wann? Vor zwanzig – nein, einundzwanzig Jahre ists her. Meine Mutter weilte in einer Sommerfrische mit mir. Es war kurz nach dem Tode meines Vaters. Eines Tages, ich zählte fünf Jahre, entlief ich in übermütiger Tollheit meiner Mutter, die auf einem Spaziergang mit mir begriffen war, rannte ans Ufer des reißenden Mühlbachs, strauchelte und stürzte ins Wasser. Ich ging sofort unter. Meine Mutter, ohne sich zu besinnen, sprang mir nach und suchte mich zu retten. Als ich die Besinnung wieder erlangt hatte, waren mehrere Wochen seit jenem Ereignis vergangen. Meine Mutter war bei ihrem Versuch, mich zu retten, ertrunken.«

Er hielt einen Augenblick inne und fuhr dann fort: »Mein erster Augenaufschlag damals ließ mich ein schwarzes Hündchen erblicken, das am Fußende meines Bettes saß und mich ansah. Man glaubte, ich phantasiere. Später nahm mich eine ältere Verwandte meiner Mutter zu sich.[144]

Ich lernte das Schweigen, um nicht von allen als Narr angesehen zu werden. Ich lernte meine Augen Lügner nennen, um nicht mit dem, was sie erblickten, rechnen zu müssen. Ich lernte meinen gesunden Verstand unterdrücken, um nicht den Glauben an den gesunden Verstand Anderer opfern zu müssen. Ich wollte mich bemühen, mir selbst als wahnsinnig zu erscheinen, aber mein Gehirn empörte sich dagegen. Nein, ich fühlte es ganz tief und deutlich: ich war kein Irrsinniger. Je mehr ich heranwuchs, je inniger ich mich mit philosophischen und anderen Studien beschäftigte, um so klarer erkannte ich, daß ein Mensch, der den schwierigsten Gedankenwegen Anderer mit Leichtigkeit folgte, die spitzfindigsten Schlußfolgerungen der Logik begriff, unmöglich ein Verrückter sein konnte.

Ich beherrschte mich mit eiserner Anstrengung, ich verschwieg das Dasein meines stillen Gefährten Bekannten und Freunden; aber dann und wann konnte ich einen Blick nach der Stelle hin, wo er sich beständig befand, nicht unterdrücken, eine Bewegung nicht vermeiden, die man vielleicht macht, um einen belästigenden Gegenstand von sich zu entfernen. Der Blick, die Bewegung wurden meine Verräter. Ich erweckte zuerst Gelächter, dann Schrecken, dann zum Schlusse das Quälendste: Mitleid mit dem sonst harmlosen, armen Narren. Ich habe Medizinen getrunken, mit nüchternen[145] Materialisten Bruderschaft geschlossen, ich habe zur Religion meine Zuflucht genommen, durch mannichfaltige tolle Streiche meiner Natur, meinen Sinnen eine andere Richtung geben wollen.

Ich habe ein Kind zu mir genommen. Eines Tages lief der Bube voll Grauen zu seiner im tiefsten Elend lebenden Pflegemutter zurück. Es wäre immer etwas neben mir, nach dem ich griffe, nach dem ich schielte. Ich habe Freunden Gutes gethan, um sie mir zu eigen zu machen. Sie verzichteten auf meine Wohlthaten und verließen mich mit Frösteln. Ich habe an die Herzen stolzer, vorurteilsloser Frauen gepocht. Aber als sie mich näher kennen lernten, wandten sie sich traurig von mir ab.

Eines Tages kam ich in diese kleine Stadt, wo mich niemand kannte. Ich mietete mir eine Wohnung und wollte aufs neue zu leben, Freunde zu gewinnen versuchen. Ich lernte Ihre Tochter kennen. Ich bin kein fliegender Holländer, der erlöst sein will. Ich wünsche eine kluge Frau, die nicht über das ihr Ungewohnte erschrickt und die Flucht ergreift; die nicht mitleidig meine Stirne streichelt, sondern tapfer dem stillen Gefährten ins Auge zu sehen wagt, nicht ängstlich schweigt, sondern über die Thatsache mit mir spricht. Nun habe ich Ihnen gebeichtet. Möge Ihr Kind mir die Absolution nicht verweigern für[146] eine Schuld, die ein wunderliches Geheimnis des Himmels ist.«

Er stürzte hinaus. Die alte Frau faltete die Hände.

Quelle:
Maria Janitschek: Kreuzfahrer, Leipzig 1897, S. 135-147.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Kreuzfahrer
Kreuzfahrer

Buchempfehlung

Platen, August von

Gedichte. Ausgabe 1834

Gedichte. Ausgabe 1834

Die letzte zu Lebzeiten des Autors, der 1835 starb, erschienene Lyriksammlung.

242 Seiten, 12.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon