3.

[152] Eines Morgens landete er.

Nun war die Feierstimmung vergangen. Ein dumpfer Druck legte sich auf ihn, eine unbestimmte, packende Furcht. Er wußte auf einmal nicht, was er eigentlich hier wollte, und doch war etwas unbewußt Bewußtes in ihm, das ihn getrieben hatte. Er warf sich in einen Eisenbahnzug, der ihn in die Nähe jener Sommerfrische brachte, in der er als Knabe mit seiner Mutter geweilt hatte.

Der heftige Wunsch war in ihm entbrannt, noch einmal jene Stätte, jenen reißenden Bach zu sehen, der seiner jungen Mutter so verhängnisvoll geworden war. Er mietete sich in einen kleinen Bauernhof ein. Die Gegend hier hatte sich ziemlich verändert. Der einst breite, tiefe Mühlbach war im Laufe der Zeit ein seichtes Wässerlein geworden, das keine Mühle mehr trieb, sondern zahm zwischen kleinen angebauten Gärten dahinrieselte. Es blieb Bertrams stiller Frage die Antwort schuldig. Das ganze Leben hatte es ja so mit ihm gemacht.

Eines Tages erhob er sich früher als sonst von seinem Lager und machte sich zum Ausgehen fertig. Er wollte heute weit weit wandern. Er war in einer merkwürdig verschleierten Stimmung, die dann und[152] wann ein heller Blitz des Bewußtseins erhellte. Dann sagte er sich, wie schön es sein werde, auf breiter, ebener Landstraße dahinzugehn, einer Gegend zu, die ihm nicht besser bekannt war, als wenn er ihre Schilderung in einem alten halbvergessenen Buche gelesen hätte. Er verließ seinen kleinen Hof und begann rüstig auszuschreiten. Er liebte es, so ins Fremde hinein zu wandern, ohne die Namen der Ortschaften zu kennen, durch die er kam.

Gemach mäßigte er seine anfangs hastigen Schritte. Die Hitze wurde immer drückender, je mehr sich der Mittag näherte. Die Straße war von weißem Staub bedeckt. Links und rechts dehnten sich weite Strecken Grasland aus. Manchmal lagen bebaute Felder dazwischen und schmale Wege führten in ein oder das andere Dörflein, das abseits lag. Oftmals führte die Straße auch mitten durch Ortschaften. Bertram blickte mit seinen traurigen Augen auf die kleinen Fenster mit den vielen Blumen davor und schritt weiter. Bauern mit hagern, von der Arbeit erhitzten Gesichtern, die Sense über die Schulter gelegt, begegneten ihm. Sie sahen ihm nach, wie er dahinschritt, bleich und verträumt, eine fremdartige Erscheinung.

Er mußte den Hut vom Kopf nehmen; große Schweißperlen tropften von seiner Stirn. Seine Lippen waren ganz trocken. Dem Stand der Sonne nach zu schließen mußte es Mittag sein.[153]

Er sah sich nach irgend einem Ruhepunkt um. Aber kein Baum, der auch nur den kleinsten Schatten gegeben hätte, war zu erblicken. Eine totenstille bleichende Glut lag über den regungslosen Gräsern der Wiesen. Er ging schweratmend weiter. Da erblickte er ein Feld, dahinter noch eins und noch eins. Äcker folgten. Schweigende, zur Erde gebückte Menschen hantierten darauf. Ein Kinderwagen mit einem schlafenden Knaben stand am Weggraben. Die Mutter grub nicht weit davon Kartoffeln aus. Bertram ging noch ein Stück weiter. Er fühlte die Kleider am Leibe kleben. Die Straße führte jetzt durch eine Ortschaft hindurch.

Überall dasselbe drückende Schweigen. Die Häuser standen verlassen da.

Es waren wohl ihre Bewohner gewesen, die draußen auf dem Felde arbeiteten. Am ersten besten Brunnen, den er traf, wollte Bertram rasten. Er sah sich um. Die verlassenen stillen Häuschen, die menschenleeren Dorfgassen machten einen seltsamen Eindruck. Es lag eine Heimtücke, etwas Verstecktes in dieser Stille bei strahlendem Sonnenschein.

Seine Augen glitten mit leichtem Schauer über die geschlossenen Hausthüren. Da kam etwas auf ihn zu, aus einem Gäßlein, das er gar nicht bemerkt hatte.[154] Er stieß plötzlich einen wilden Schrei aus. Sein Körper schnellte nieder, bäumte sich auf und krümmte sich. An seiner rechten Seite stand der Hund und hatte die Zähne tief in sein Bein gegraben. Mit heißem unartikulirten Geschrei suchte er das Tier von sich loszureißen. Er fühlte es unter seinen wehrenden Händen weichen. Er brach vor Entsetzen und Schmerz in die Kniee. Er sah dem Hund nach, der den Schwanz zwischen die Beine geklemmt mit gesenktem Kopf langsam weiterschritt.

Es war sein Hund – ein wirklicher Hund, der auf leisen Pfoten dort hinschlich. Bertrams Augen öffneten sich weit. Er griff an die Wunde, sie brannte wie höllisches Feuer. Er sprang auf. Eine schauerliche Befürchtung erfaßte ihn. Wie wenn der Hund, der ihn verwundet hat, toll gewesen war? Dann wird er in kurzem das Gift in seinem Körper fühlen, wird sein Mund sich wie der eines Raubtieres öffnen, um zu beißen. Eine irrsinnähnliche Angst ergreift ihn. Er eilt durch den Ort, Hut und Stock von sich werfend, und späht nach Menschen aus. Er erblickt niemand. Seine Schritte verdoppeln sich. Endlich bemerkt er etliche Bauern auf dem Felde. Er stürzt auf sie zu, um sie nach einem Arzt zu fragen. Als er sich ihnen nähert, laufen sie bei seinem Anblick davon. Er ihnen nach. Es entspinnt sich eine unheimliche Jagd. Er strauchelt und schlägt zu Boden. Nun kommen sie mit ihren aus[155] der Tasche gezogenen Brotmessern auf ihn zu. Er macht eine letzte Anstrengung und lispelt: »Einen Arzt! Mich hat ein wütender Hund gebissen.« Er schreckt fahren sie bei seiner Eröffnung zurück. Ein wütender Hund! Sie eilen nach dem Dorfe, um ihre Angehörigen zu schützen. Der Unglückliche bleibt liegen. Sie finden bald das Tier mit den stierenden, blutunterlaufenen Augen und erschlagen es mit ihren Knütteln.

Erst ganz spät erinnert sich einer des unseligen Menschen, der vor Stunden draußen zusammengebrochen war. Sie suchen und finden ihn. Er ist einige Schritte weiter in den Graben gekrochen und hat die Finger in die Erde gekrallt. Bei ihrem Nahen haucht er: »Bindet mich, damit ich euch nicht zerfleische, und schafft mich zum Arzt.« Sie schnüren seine Arme auf den Rücken und tragen ihn in den Ort. Gehen kann er nicht mehr.

Man schafft ihn in das kleine alte Spital und geht, den Bader zu holen. Der Bader ist nach dem nächsten Markt gegangen und kommt erst nach Mitternacht zurück. Er brennt und schneidet den Verwundeten; aber der fühlt wenig mehr. Er ist besinnungslos; das Gift ist ins Blut getreten.

Am Abend des nächsten Tages richtet er sich plötzlich auf und blickt mit erwachendem Bewußtsein an das rechte Fußende des Bettes. Das, was er erspäht,[156] muß ihn unendlich beruhigen. Er sieht nichts anderes als die alte barmherzige Schwester die dort kniet und betet. Etwas wie ein erlöstes Lächeln geht über sein Gesicht. Er sinkt zurück.[157]

Quelle:
Maria Janitschek: Kreuzfahrer, Leipzig 1897, S. 152-159.
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