XIX

[262] Belas Gesicht heilte schon nach wenig Tagen. Auch die Fensterscheiben waren wieder ersetzt worden. Aber in Hendrik hatten diese paar kleinen Schrammen eine Veränderung bewirkt. Das herb Abweisende in seinem Benehmen dem Jungen gegenüber war verschwunden. Er ließ sich dessen stürmische Liebesbeweise gefallen, ja, er machte kein Hehl mehr aus seiner eignen großen Neigung zu dem Kinde. Sie waren fast immer beieinander. Und sagte Hendrik endlich: »Nun aber geh' doch zu deiner Mutter hinüber,« so erhielt er eine ausweichende Antwort.

»Weshalb kommt sie denn nicht mit uns?« rief Bela einmal. »Weshalb ist sie denn immer allein? Sie könnte doch mit uns sein. Oder magst du sie nicht?«

»O, ich mag sie schon.« Er sah die forschend auf sich gerichteten Kinderaugen und nahm sich sehr zusammen.

»Ach, dann denk' ich mir's wohl,« meinte Bela unsicher, »sie mag dich nicht.«[262]

Und er stürmte zu ihr und faßte sie ungeduldig am Kleide.

»Du, du, weshalb kannst du den Onkel nicht leiden?«

Sie errötete. »Wer sagt das?«

»Weshalb bist du nicht mit uns, wenn wir beisammen sind? Weshalb weichst du ihm aus? Ja, ich habe es gesehen, daß du ihm ausweichst.«

»Aber Unsinn,« antwortete sie und runzelte die Brauen.

»Sei doch mit uns! Wenn du mit uns bist, wird er mich nicht immer wegtreiben und sagen: ›Geh zur Mutter.‹«

Einige Minuten Entfernung lag zwischen den beiden Häuschen. Der Hund, das Kind, die Arbeiter gingen hin und her, nur sie zauderte, über die Schwelle zu treten. Sie verbarg sich, wenn sie ihn draußen erblickte. Seit er ihr vom »Erbarmen« gesprochen, war sie so zaghaft geworden.

»Du weißt doch, daß ich zu thun habe,« sagte sie zu ihrem drängenden Bübchen.

»Das ist nicht wahr,« rief Bela ungestüm, »du sitzest abends mit den Händen im Schoß auf der Thürschwelle, und ich muß schon so früh zu Bett gehen, weil –«

»Sei ruhig!« Sie streichelte sein Gesicht, »ich will ja mit euch gehen.«

Beim Mittagessen rief der Junge triumphierend: »Onkel, nun will die Mutter mit uns gehen.[263] Sie hat's gesagt. Was, hast du's nicht gesagt?« schrie er weinerlich bei ihrem ermahnenden Blick.

»Ja, ich habe es gesagt.«

Abends, nach dem Feierabendläuten, gesellte sie sich zu ihnen beiden. Sie war jedoch so erregt, daß sie kein gleichgiltiges Gesprächsthema finden konnte. Nein, es ging doch nicht. Alles das hatte sie sich viel leichter vorgestellt. Bela lief um sie herum, versuchte einige Bemerkungen, sah vom »Onkel« zu ihr und ließ schließlich traurig den Kopf hängen. Das durfte nicht sein. Das Kind sollte nicht unter ihrer eigenen Last schmachten.

»Wo hast du denn den Muki?« fragten Hendrik und Kyrilla fast gleichzeitig.

Der Junge machte ein gleichgiltiges Gesicht.

»Ich weiß nicht, wo er ist.«

»Möchtest du noch einen zweiten kleinen Hund?« fragte Hendrik.

»Nein.«

»Läßt du denn auch Kincs draußen grasen?« begann Kyrilla.

»Natürlich.«

Eine Pause trat ein. Hendrik blieb vor einem Rebstock stehen. »Siehst du mitten unter den fast reifen, vollen Beeren die Anzahl harter kleiner Triebe? Weißt du, wie man die nennt?«

»Das hast du mir schon dreimal gesagt.«

»Du bist nicht sehr freundlich aufgelegt.«[264]

Bela antwortete nicht und ging ein Stück weiter. Plötzlich blieb er stehen, ballte die Fäuste und schrie leidenschaftlich: »Weshalb redet ihr denn nicht miteinander? Was habt ihr denn?«

Die beiden schraken zusammen und blickten sich an.

»Ja, weshalb reden wir nicht mit einander? Weil erwachsene Menschen Sorgen haben und mancherlei in sich ausmachen müssen. Nicht wahr, Frau Tralgoth?«

Kyrilla, blutrot geworden, nickte.

»Ich verstehe überhaupt den Jungen nicht, was will er von uns?« fuhr Hendrik fort. »Was brauchen wir zu reden? Ich habe eine Menge Berechnungen im Kopf. Ich bin froh, wenn ich Feierabend hab' und nicht mehr reden muß

Bela machte ein trotziges Gesicht und lief vor ihnen her. Etwas auf dem Boden fesselte seine Aufmerksamkeit. Er hockte auf die Erde nieder.

Die beiden schritten weiter. »Es geht so nicht; sehen Sie es nun ein?« murmelte Hendrik.

»Nein, es geht nicht, Sie haben recht.«

»Früher ja, da wären wir – glücklich gewesen in der jetzigen Lage. Nicht wahr?«

»Ja, o ja.«

»Du, Onkel!« Bela kam herbeigesprungen und öffnete seine Hand, aus der ein flaches Köpflein hervorsah. »Was ist denn das? Grün[265] ist's nicht, also ist es kein Frosch. Aber Warzen auf dem Rücken hat es auch nicht, also ist es auch keine Kröte. Was kann es denn sein?«

Hendrik nahm ihm geduldig das Tierchen ab, das mit einem kühnen Sprung das Weite suchte. »Das war ein Frosch. Es giebt auch Frösche, die nicht grün sind. Grün ist nur der Laubfrosch.«

»So?« Bela hing sich an Hendriks Arm und setzte sein Thema weiter fort.

Kyrilla schritt, in Gedanken verloren, neben den beiden her.

»Hörst du auch zu, Mutter?« rief Bela.

Sie fuhr auf. »Gewiß, gewiß höre ich zu.« Nach einiger Zeit bemerkte Hendrik, daß er müde wäre und schlug den Rückweg ein.

Später ließ sich Kyrilla auf ihrer Thürschwelle nieder und sah in die Sternennacht.

Ja, freilich, früher wären sie hier glücklich gewesen. Natürlich. In ihrer reinen, stolzen Seele war niemals der Wunsch nach Hendriks Besitz erwacht. Sie hatte eine tiefe, warme Freude an ihm empfunden, den sie hoch über sich stehend glaubte. Das Wehgefühl des Getrenntseins von ihm hatte sie nie besessen. Erst seit der unseligen Stunde am Steinbruch war ihr dieses bewußt geworden. Erst von da ab wußte sie, daß er ihr für immer verloren sei. Daß sie hier keinen Halt, keinen Altar mehr besaß,[266] an dem sie ihre stillen, innigen Gebete stammeln konnte.

Kyrilla sah zum Sternenhimmel empor. Die Stille der Nacht ließ sie die leisesten, kaum hörbaren Stimmen ihres Innern vernehmen. Eine weiße Jungfrau, ihrer selbst nicht bewußt, hatte in unirdischen Träumen von ihm geträumt. Eine Mutter hat ihm vergeben.

Eine schmerzhafte Mutter, um ihres Sohnes willen. Die Liebe des Weibes, die zwischen diesen beiden Gefühlsstadien liegen sollte, war ihr fremd geblieben. Sie beginnt zu ahnen, daß es eine solche giebt. Jetzt, ganz in der letzten Zeit, hier in den Mondscheinnächten von Kristan.

Sie legt die Hände über die schmerzenden Schläfen? Und Emmerich? Kommt er nicht von drüben über die Felder gegangen?

Sein hageres Gesicht glänzt von geheimnisvollem Wissen. Weißt du, wie es war? Ich weiß es jetzt. Ich habe dich nie die Wirklichkeit gelehrt, weil ich selbst träumte. Ich habe von dir erwartet, daß du mit warmer Hand mein frierendes Herz berührst und einen klingenden Liebesfrühling in ihm erweckst. Du hast in Jungfrauenscheu auf ein Wunder von mir gewartet. Das Wunder Siegfrieds an Brunhild. Ich habe dich nicht erwecken können, mein armes Kind. Da flüchtetest du dich mit erschöpfter Geduld und mit unbewußtem Groll ganz in dich selbst. Aber das andere, das andere! Es giebt ein anderes, Kyrilla![267]

Sie erhob sich und stand hoch und aufrecht in der Sternennacht. Von irgendwoher erklangen Fußtritte. Sie trat ins Haus und ließ die Thür hinter sich zufallen.


Am andern Tag, als sie am Herd beschäftigt war, fiel ein Schatten herein. Hendrik stand in der offenen Thür, die ins Freie führte.

»Der Junge hat eben wieder gefragt und von Ihnen gesprochen. Vermögen Sie auf die Dauer zu heucheln, Kyrilla? Können Sie es ertragen?«

»Nein,« entgegnete sie.

»Was dann thun?«

»Ich weiß es nicht.«

Er trat ganz in den engen Raum hinein und stellte sich dicht vor sie hin. »Nicht wahr, ich bin doch –« Das Wort wollte nicht über seine Lippen kommen.

»Nein, nein, Sie sind es nicht.«

»Empfinden Sie mich nicht so?«

»Nein!« Ihre Augen sahen flehend in die seinen.

»Wenn Sie mich aber nicht so empfinden, dann – dann –« Sie wurde schneeweiß im Gesicht.

»Dann giebt's doch noch einen Ausweg.«

»Einen Ausweg?«[268]

»Entweder Sie verabscheuen mich, oder Sie verabscheuen mich nicht.«

»Ich verabscheue Sie nicht.«

»Nicht? dann –«

»Ach, da seid ihr ja!« Bela sprang herein.

»Mutter, ich hab' eine Katze bekommen. Schau', wie lieb sie ist.« Er setzte das junge Tierchen auf den Herd. »Geh' nicht ins Feuer, dumme Mieze! Onkel, glaubst du, daß sie Mäuse fängt? Ich hab' ihr vorhin einen toten Maulwurf gegeben, aber sie nieste nur und kostete ihn nicht. Du, Onkel, aber wohin gehst du denn? Ich will doch –«

»Ich muß hinüber ins Haus, Kind, ich hab' zu thun.« Er entfernte sich.

Bela wandte sich an die Mutter und erzählte ihr eine endlose Geschichte. Sie hörte geduldig zu. »O, es wird schön werden,« schloß er glücklich. »Nun hab' ich eine Katze, einen Hund, ein Pferd. Nun möcht' ich noch ein Aquarium, eine Schildkröte, weiße Mäuse. Gelt, wenn wir nach Haus kommen, kaufst du mir alles. Der Nagy sagt, du wärst eine reiche Frau, da kannst du mir's schon kaufen, gelt?«

»Ja, ja, du sollst alles haben.«

»Hei, wird das ein Winter werden!« Er schnalzte mit der Zunge, preßte die Katze an sich und lief hinaus.

Wird das ein Winter werden! Gott, erbarme[269] dich meiner, dachte sie, in die Flammen starrend.

Nachmittags kamen eine Menge riesiger Bottiche aus der Stadt heraus für die Weinlese, die beginnen sollte. Die Keller wurden gereinigt, gelüftet; Hendrik ging mit den Arbeitern umher und beriet mit ihnen. Abends kam Bela kleinlaut zur Mutter. Wo nur der Onkel steckte, er wäre nicht zu finden. »Er hat zu thun, Kind,« tröstete sie ihn. Am nächsten Mittag erschien er auch nicht zu Tische. Die Sonne brannte heiß. Die Leute preßten die Trauben ein und sangen und waren guter Dinge. Bela kam spät mit roten Wangen herein und fiel todmüde ins Bett. Die Tagelöhner nächtigten auf dem duftigen Heu in der Scheune. Eines und des andern Stimme klang fröhlich herüber. Grillen zirpten, es roch nach würzigen Blumen. Der Himmel stand voll großer heller Sterne. Drüben im Winzerhaus brannte kein Licht. Sie schliefen wohl alle. Auch er. Sie schritt mit leisen geräuschlosen Schritten den Laubgang hinab. Wie unaussprechlich glücklich hätte man hier sein können! ...

»Kyrilla!« rief's aus dem Dunkel.

Sie schauerte zusammen. Hendrik stand vor ihr.

»Ich habe während achtundvierzig Stunden Ihr Wort nicht aus den Ohren verloren. Beim Gespräch der andern, bei der Arbeit, in der[270] heißen Mittagszeit hab' ich es klingen hören. Sie verabscheuen mich also nicht, Kyrilla.«

»Ich habe Ihnen bereits darauf geantwortet.«

»Das heißt also, Sie haben mir verziehen.«

»Verziehen? Ich habe Ihnen nichts zu verzeihen. Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, wer sich selbst verzeiht, dem ist verziehen.«

»Mir selbst verzeihen, das werde ich niemals Kyrilla. Das liegt nicht in meiner Macht. Überhaupt, wie ich vor mir selbst dastehe, ist ja meine Sache.«

»Quälen Sie sich nicht so,« sagte sie, »arbeiten Sie, grübeln Sie nicht immer.«

Eine Weile schwiegen beide, dann versetzte er: »So lange ich mich von Ihnen verabscheut glaubte, ertrug ich mein Leben in Ihrem Hause. Es war eben die Strafe, die Sie über mich verhängt hatten. Aber seit ich weiß, daß Sie mich nicht verabscheuen, ist es anders geworden. Ich sage mir: sie wägt nicht mit der Wage der andern. Sie sieht tiefer als der Richter, der die That verurteilt, ohne ihrer Ursache nachzugehen.« Er kämpfte mit sich, dann rang er sich ab, was er innerlich dachte. »Wenn der Mann am Steinbruch Kis oder Nagy anstatt Tralgoth geheißen hätte, und Tralgoth von Gott abberufen worden wäre, dann dürftest du vor die Frau treten und sagen: trotz meiner That wage ich es, meine Hand nach der deinigen auszustrecken.«[271]

»Lassen Sie die Wenns, Ösz. Oder billigen Sie nicht, wie ich empfinde?«

»Ja,« rief er, »ich billige es ganz und gar, aber wissen Sie auch, was Sie mir jetzt gesagt haben? Etwas sehr Großes, Wichtiges.«

»Ich weiß es wohl,« sagte sie. Dann drang ein weicher, ächzender Ton aus ihrer Brust, und sie verschwand im Dunkel.

Sie sah große, rote Flammen aus der Ebene vor ihr brechen; es war ihr, als stünde dort der brennende Dornbusch, der ihr Glück versengt hatte. Aber Gottes Antlitz sah aus seinen Zweigen. Ich bin im Feuer. Ich bin in der großen Liebe. Ich bin im Sieg. Schreite ruhig vorwärts, du schreitest in mir ...

Hendrik suchte mit stillem Lächeln sein Lager auf. Er glich dem Kinde, das im Traum einen Blick in den Himmel gethan hat ...[272]

Quelle:
Maria Janitschek: Frauenkraft. Berlin 1900, S. 262-273.
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