[910] Augenverband – Bild hinter Bettevorhang – Gefahr für zwei Tugenden
Klotilde ging in der Leidenwoche, unter Liebkosungen von der Fürstin entlassen, nach St. Lüne. In der Osterwoche trägt sie ihr Herz voll bedeckter Sorgen nach Maienthal zu ähnlichern Seelen, wenn sie vorher durch die Vorhölle gegangen, nämlich durch einen schimmernden Ball, den ihr – oder höflicher zu reden, der Fürstin – der Fürst am dritten Osterfeiertage gibt.... Ist diese Blume mit dem Melonenheber des Todes oder Schicksals aus meinen biographischen Beeten ausgestochen und versetzt: so werf' ich die Feder weg und prügle den Spitz zurück – ich habe mich[910] so sehr an sie gewöhnt wie an eine Verlobte: wo treib' ich am Hofe wieder einen weiblichen Charakter auf, der wie ihrer heilige und feine Sitten verbindet, Himmel und Welt, Tugend und Ton, ein Herz, welches (ist es anders mit etwas Kleinem zu vergleichen erlaubt) der unsern Helden ängstigenden und auch wie ein Herz aussehenden montre à regulateur ähnlich ist, welche mit dem Zeiger der Hofstunden einen Zeiger der Sonnenstunden und den liebenden Magnet verknüpft?
Jetzo sind wir noch die ganzen Osterfeiertage beisammen; denn Sebastian muß zum Pfarrer Eymann, um ihn und die britischen Drillinge und seine liebe Kaplänin und mehr Liebes zu sehen. Er wäre gern schon am Osterheiligenabend dem Regierrat dahin gefolgt (und dem Lebensbeschreiber wär's so lieb gewesen wie ein Osterfladen, weil er der Städte und Höfe auf dem Papiere übersatt ist); aber der Genius der zärtlichsten Freundschaft winkte ihm, nur wenigstens bis den ersten Ostertag Flamins und Klotildens wegen, welche beide einander so lange entbehret und so sehnlich gewünschet hatten, sich wechselseitig neue Wunden nun mitbringend, zurückzubleiben, gleichsam als woll' er fragen: »Die ersten Freudenblicke dieser so lange auseinandergedrängten Geschwister wird doch mein unglücklicher Sebastian nicht stören wollen?« – Wahrlich, nein! antwortete seine Träne.
Die Stadt war nun von seinen Geliebten ausgeleert – die Leidenwoche war eine wahre für ihn – nicht einmal die Fürstin, gleichsam die Elektrizitätträgerin seiner auf sein eignes Herz zurückgewehten Liebeflamme, war ihm seit langen erschienen – denn mit dieser Stimmung konnt' er nicht zu Joachimen gehen – – – als ihn der Pater der Fürstin, die heute bei ihm (am heiligen Osterabend) gebeichtet hatte, besuchte und vor ihm einen Wundzettel ihrer Augen entfaltete und ihn freundlich schalt, daß der Hofbeichtvater dem Hofmedikus Sünden, statt zu erlassen, vorzurücken habe. »Ich wollte morgen verreisen«, sagte Viktor – »Gut!« sagte der Pater, »die Fürstin verlangt schon heute Ihre Hülfe.«
Auf dem Wege zu ihr sagt' er zu sich: »Hat denn Tostato das Osterbeichten verschworen, daß er jetzt abends noch nicht da ist?[911] und wo wird ihn der Henker morgen haben?« – »Hier!« antwortete – Tostato hinter ihm. – So einen lustigen Bußfertigen hatte noch keine Sakristei gesehen. Das Freuden- und Teufels- und Beichtkind sagte die Ursache seines frohen Tobens: »die Fürstin hab' ihm als Landsmann heute das halbe Gewölbe ausgekauft.« – Eh' Viktor auf seinem Gesicht die ernsthaften Mienen in Reih und Glied gestellet hatte, mit welchen er ihm die Bitte um Verschweigung seines kaufmännischen Vikariats tun wollen, ich meine die Buden-Verwaltung: so erfreuete ihn der springende Beichtsohn mit der Nachricht, daß die Fürstin nach seinen und ihren Landsleuten, nach seinen Associés, gefragt, und daß er ihr gar nicht verborgen, daß einer einmal das letzte ohne das erste gewesen – nämlich ihr Hofmedikus selber. – »Donner!« sagte der....
Der arme Narr von Kaufmann meint' es gut, und es war weiter nichts anzustellen als die Untersuchung, ob nicht Agnolas Fragen Zufall gewesen – ob sie die Uhr noch habe, oder je aufgemacht, ob kein Wind die Lieberklärung als einen verschwisterten Wind fortgetrieben. – –
Bedenklich bliebs, daß gerade der Pater und der Kaufmann, gerade die bösen Augen und die guten Nachrichten in einen Tag zusammenfielen; in diesen 30sten März, in den Osterabend. Da dieser Besuch für meinen Helden sehr merkwürdig ist: so bitt' ich jeden, sich recht bequem zu setzen und die vom Buchbindergolde verpichten Blätter dieser Erzählung vorher aufzuspalten und achtzugeben wie ein Spion. –
Als Viktor im Schlosse war: stieß ihm der Pater auf, welcher sagte, er gehe auch mit. Es war ein Glück; denn ohne diesen Wegweiser hätt' er schwerlich den Pfad durch ein Labyrinth von Zimmern in das veränderte Krankenkabinett gefunden. Und mit ihm ging wie ein Kibitz die Sorge durch alle Gemächer, er werde auf dem Gesichte der Fürstin ein Klaglibell gegen das eingesperrte billet doux erblicken; aber nicht einmal ein Anfangbuchstabe oder das Rubrum eines Urteils stand auf ihrem Gesichte, als er vor sie trat, und seine Wetterwolke war seitwärts gegangen. Wenigsten stieß eine, die über der Fürstin selber hing, seine ab; sie war nämlich krank, aber nicht an Augen bloß, und eine zweite Botschaft,[912] die ihn holen sollte, hatt' ihn nur verfehlt. Sie empfing ihn im Bette – nicht ihrer Krankheit, sondern ihres Standes wegen: denn für Damen von einigem Range ist das Bette das Hoflager – die Moosbank- der Hochaltar – die Königpfalz – kurz der Fürstenstuhl und Sessel. Wie der Philosoph Descartes, der Abt Galiani und der alte Shandy, so können sie in diesem Treibhaus am besten denken und arbeiten. Ob sie gleich im Bette lag, so war sie, wie gesagt, doch nicht gesund, sondern von Kopf- und Augenschmerzen angefallen. Daher hatte sie von ihrer fortgeschickten Dienerschaft für heute nichts behalten als eine Kammerfrau, die sie sehr liebte, und die Mücke an der Wand, die sie irrte, und unsern Doktor, der eines von beiden unterließ. Ich hätte eine im offenstehenden Bilderkabinett seßhafte Hofdame gerne mitgezählet; aber sie saß so stumm und unbeweglich draußen, daß Viktor schwur, sie ist entweder ein Kniestück oder – eine Deutsche – oder beides. Es ersparte den verbrühten Augen der Fürstin ebensoviel Schmerzen, daß der grüne Lichtschirm und die grünen Atlastapeten und die grünen Atlasgardinen im Krankenkabinett ein wogendes blaues Helldunkel zusammengossen, als es gesunden Augen Vergnügen verschaffte. Eine einzige Wachskerze stand auf einem Leuchter, den alle Jahreszeiten einfaßten, nämlich abgebildete – über welche Sitte der Großen, die Natur immer nur in Spielmarken, in effigie und durchs Kopierpapier, nie in natura selber zu genießen, ich hier weder meine Meinung noch die Gründe sagen kann, weil ein ganzes
Extrablatt
vonnöten wäre, um nur unter so vielen möglichen Gründen, warum sie überall – auf den Tapeten – auf den dessus des portes – des trumeaux – des cheminées – auf den Vasen – auf den Leuchtern – auf den plats de menage – auf den Lichtscher-Untersätzen – in ihren Gärten – auf jedem Quark eine Landschaft, die sie nie betreten, einen Salvator Rosa-Felsen, den sie nie besteigen, gern sitzen sehen... ich sage, weil unter so vielen Gründen, warum sie es tun und der alten Natur dieses jus imaginum einräumen, der wahre nur von einem Extrablättchen auszuklauben wäre, indem[913] nur ein solches es weitläuftig entscheiden könnte, ob es davon komme, daß ihnen die Natur, wie einem Liebhaber die Geliebte, bei der ewigen Trennung ihr Bild geschenkt – oder davon, daß die Künstler ihnen, wie den alten Göttern, das gerade am liebsten bringen und opfern, was sie hassen – oder daß sie dem Kaiser Konstantin gleichen, der zur nämlichen Zeit das wahre Kreuz abschaffte, und die Abbildungen desselben vermehrte und heiligte – oder daß sie aus feinerem Gefühl das dauerhafte, aber musivische Gemälde der Natur, in welchem ganze Bergrücken die musivischen Steinchen sind, den zärtem, aber kleinern Vexierbildern der Künstler nachsetzen müßten – oder daß sie Leuten glichen (wenns solche gäbe), die auf den Theatervorhang sich die ganze Oper mit allen Dekorationen abmalen ließen, um sich das Aufziehen des Vorhanges und das Beschauen der Akte zu ersparen – – – Und doch, wenn das Extrablättchen mitten im Entscheiden wäre, würde jeder aus Hundhunger nach bloßen Vorfällen Reißaus nehmen und auf nichts auslaufen als auf die Fortsetzung der Vorfälle und auf
das Ende des Extrablattes.
Die Fürstin hatte zwei Verhüllungen, wovon er die eine sehr liebte und die andre sehr haßte. Die geliebte war ein Schleier, der für ihre wunden Augen eine Heilbinde war; ihm aber war einer die Folie und Fassung des weiblichen Gesichts, und er machte sich anheischig, den Satz als Respondent und Präses zugleich zu verteidigen, daß die Tugend nie besser mit Schönheit belohnet werde als in St. Ferieux bei Besancon: denn beim Sittenfeste bekommt dort das beste Mädchen einen Schleier zu 6 Livres. – Die verhaßte Verhüllung waren die Handschuhe, gegen die er überall seinen Fehdehandschuh hinwarf: »Eine Frau«-sagt' er im Hannöverischen – »wag' es einmal und ziehe gegen mich von Leder, nämlich ihre Hand, und verfechte damit ohne Hülfe der Esaushände die Esaushände und sage, man muß sie nicht abziehen als im Bette. Anziehen müßte man sie höchstens da, könnt' ich versetzen; aber ich werde aufragen: zu was dienen denn am Ende die schönsten Hände, die ich sehe, wenn sie immer unter den Flügeldecken[914] liegen, als wären wir Männer persische Könige? Und ist es dann zu streng, wenn man Personen, die solche nachgemachte Hände von Leder oder Seide tragen, ins Gesicht sagt, sie glichen der Mediceischen Venus, sogar bis auf die Hände77? Man antworte!« –
Überhaupt ist in diesem dunkeln grünen Kabinett fast alles Agnolas schöne römische Schultern ausgenommen – zugehüllt; sogar zwei Heiligenbilder warens. Denn ein gemaltes Marienbild mit einer wahren metallischen Krone – es sollte kein Sinnbild der Regenten mit Vexier-Köpfen unter echten Kronen sein – deckten die Zedern der Bette-Federbüsche zu; und über einen sehr hübschen heiligen Sebastian von Tizian – aus dem Palast Barbarigo in Venedig kopiert – (der Mann sah mit seinen Pfeilen wie ein Stachelschwein aus und hing doch neben ihrem Kopfkissen) hatte sie die Bettgardine weiter vorgezogen, als sein Namenvetter ohne Pfeile kam, der mehr anbetete als angebetet wurde. Viele versicherten mich seitdem, es sei ein Sebastian von van Dyk aus der Düsseldorfer Galerie gewesen; aber weiter unten werd' ich zeigen, warum nicht.
Außer einem weiblichen Auge, das hinter einem Schleier ruht, gibts nichts Schöneres als eines, das (hier hat der Teufel sechs End-S hintereinander) ihn gerade wegleget. Dem armen Doktor schlug eine solche schöne Glut entgegen – da er als Okulist verfahren wollte –, daß er sogleich als Protomedikus ihres Kopfes verfuhr, um an ihre Hand zu fühlen und sich dadurch zu retten. Denn während sie den Handschuh-Kallus von ihrer Hand – es waren aber nur halbe Handschuhe mit nackten Fingern oder halbe Flügeldecken, d.h. hemiptera – herunterzupfte: so war der Doktor, weil sie darauf hinsehen mußte, in der größten Sicherheit von der Welt, und das griechische Feuer fuhr ganz neben ihm vorbei. Daher ist recht mit Bedacht in die Feuerordnung der Moral ein ganzer, fast zu langer Artikel hineingesetzt, ders jungen Mädchen verbietet, mit den Augen frei wie mit bloßem Lichte in dem Besuchsaale herumzugehen, weil so viel brennbares Zeug darin steht – wir sämtlich –, sondern sie müssen solche in einen Strickstrumpf[915] oder Nährahmen oder in ein dickes Buch – z.B. in die Hundposttage – stecken wie in eine Laterne.
– Es ist wahrlich ein Jammer: seit ich und das Publikum im fürstlichen Zimmer sind, folgt eine Ausschweifung nach der andern – ich meine Sternische. –
Der fürstliche Puls ging noch etwas erhitzter als dessen seiner, der ihn hier beschreibt. Sie hatte kurz vorher, eh' er kam, einen warmen Verband auszer bratnen Äpfeln von den Augen abgenommen. Sie begehrte einen Zwischenverband, indes man das zubereiten würde, was der Doktor verordnete. Er konnte aber jetzt in der Nacht, bei diesem Wirrwarr des Helldunkels, in allen vier Kammern seines Gehirns und in den acht kleinern Gehirnen der vierten Gehirnkammer keinen Augendoktor auftreiben als den Doktor v. Rosenstein, welcher darin aufstand und ihm riet, er solle raten, Safranpulver, ein 5tel Kampfer und zerschmolzene Winteräpfel auf gezupfte feine Linnen zu streichen. Die Kammerfrau wurde fortgeschickt, die Zubereitung des Rezeptes zu besorgen oder zu befehlen, nachdem sie vorher ein schwarzes Taftband mit dem Äpfeln-Überschlage um zwei der schönsten Augen vorgebunden hatte, die einer angenehmern Binde und Blindheit würdig waren. Ich bin lebhaft, wenn ich schreibe: der Überschlag schien aus dem Apfel der Schönheit – und das schwarze Band aus aneinander gestoßenen Schminkmuschen gemacht zu sein. Der Pater ging auch fort, sobald er die Hoffnung der baldigen Heilung vom Doktor hatte. Für den Medikus wars aber wahrhaftig jetzt kein Kinderspiel, einem italienischen Rosen- und Madonnengesicht gegenüber zu sitzen – noch dazu so nahe, daß er den Atem flüstern hören kann, nachdem er ihn vorher wachsen sehen konnte – einem Gesicht gegenüber zu halten (mein' ich, war kein Spiel), auf dem Rosen den Lilien eingeimpfet sind wie Abendröte den lichten Mondwolken, und das ein malerischer Schatten, nämlich ein schwarzes Ordenband, eine priesterliche Kopfbinde, ein wahrer postillon d'amour, so schön zerteilt und hebt – ein zugebundnes Gesicht, das er recht bequem in einem fort anschauen kann, und das sich (in einer malerischen Halbstellung) auf das Kopfkissen und auf die Hand, ihm zugerichtet, stützt.....[916]
Ich hätte eine Steigerung versuchen und bei Sebastians Seele anfangen sollen, die heute aus ihrer eignen Schwermut, aus ihren Sorgen, aus ihrer durch die Zeuselsche Verleumdung vergrößerten Liebe für Agnola lauter Schönheitlinien und flüssige Tuschen machte, um damit in dessen eignes Gesicht ein so schönes neues hineinzumalen, als je eine schöne Seele eines auf Leinwand, oder am eignen Kopf, oder an einem fremden erschaffen hat.
Agnola machte wohl diese Bemerkung eher als ich.
Es tat freilich dem Paare schlechten Vorschub, daß es unter nicht vier Augen (denn Agnola war zugehangen), sondern unter – zwei Augen war; denn die beiden andern Augen der Hofdame im Kabinett, aus denen Viktor nicht eher klug werden konnte als jetzt, da die fürstlichen zu waren und er ohne Fragen durch Blicke und Anlächeln das starre Ding auf dem Sessel drinnen im Kabinett untersuchen konnte, waren wahrhaftig gemalt und der Rumpf dazu, der sie trug.
Es frappierte ihn jetzo, daß er wider alle Hofordnung allein bei der Fürstin sein durfte; aber er sagte sich, sie ist eine Italienerin eine Patientin – eine kleine schöne Phantastin – (letztes war sogar aus dem ungewöhnlichen Winternegligé und Sizilien-Feuer ersichtlich). – Er konnte bisher (und auch heute vor dem Verbande der Augen) den rechten Ton gar nicht bei ihr treffen; denn da sie zu fein war für eine Deutsche, zu wenig zärtlich für eine Engländerin, zu lebhaft für eine Spanierin: so hätt' er auf sie freilich geschrieben p. p. p. (passé par Paris, welches auf den über Paris gelaufnen Briefen steht), er hätt' es, sag' ich, wäre sie nicht wieder zu innig-leidenschaftlich gewesen für eine Pariserin. Daran stieß sichs. – Aber da zwei Menschen sich mutiger und freier unterreden, wenn einer oder beide im Finstern sitzen – und Agnola saß da –: so war Viktor doch heute nicht ganz und gar so einfältig wie ein Schaf. Noch dazu machte ihn der Kleinodienschrank beherzt, in dem er – sie konnt' es nicht sehen, daß er unhöflich herumsah – zu seiner Freude unter 20 Uhren keine montre à regulateur ausfand. Sie fragte ihn, ob sie bis zum dritten Feiertage so hergestellt sein werde, daß sie zum Vergnügen des Fürsten auf dem Balle etwas beitragen könne. Er bejahete es, ob er gleich[917] wußte, sie trüge noch mehr bei, wenn sie wegbliebe, und ob sie gleich dasselbe wußte. – Hier dauerte sie ihn, und er wollt' ihr alles offenbaren. Er wollte nicht etwan plump sagen: »In Großkussewitz ließ ich mich vom Teufel breitschlagen, daß ich in die Uhr Ew. Durchlaucht einen Liebesantrag eingeschwärzet«; sondern er wollte im schönsten Seelenergusse mit dem pochenden Busen niederfallen und sagen: »Nicht aus Furcht der Strafe, sondern aus Furcht, daß das Geständnis meines Fehlers einige Ähnlichkeit mit der Wiederholung desselben erhalte, hab' ichs bisher verborgen, daß ich einmal eine Hochachtung, in der ich nur Ihren Hof, und nicht den Gebieter desselben nachahmen darf, weniger zu stark als zu kühn ausgedrückt habe; aber die Stärke der Gefühle wird leicht mit der Rechtmäßigkeit derselben verwechselt.«
– Er setzte dieses Niederfallen noch aus, weil er hinter der Gardine einen goldnen Streif wahrnahm, der der Anfang eines Bilderrahmens zu sein schien. Dieses Einfaßgewächs mußte doch um etwas herumlaufen, um ein Bild, mein' ich – und das wollt' er gern wissen.
Der verdammte Hofapotheker samt seiner Verleumdung hatt' es zu verantworten, daß er das wollte; nicht als ob er glaubte, daß Matzens Gesicht umgoldet hinter dem Bette hinge: sondern weil ihm heute allerlei aufgefallen war. Er konnt' es, da ihres Auges Tapetentür und Sprachgitter schwarz verhangen war, recht leicht machen: er durfte nur die linke Hand leis' auf die Bettkante aufstemmen und so, hineingebogen und über ihr mit gehaltenem Atem schwebend, mit der rechten über das Bette (es war schmal und er lang) hinübergreifen und die Gardine ein wenig zupfen so wußt' er, was dahinter hing. Ich sag' es noch einmal: ohne den Apotheker wär's ihm gar nicht eingefallen. Ein Verleumder macht, daß man wenigstens jede Handlung um ihren Paß befragt – man tuts bloß, um den Verleumder recht augenscheinlich zu widerlegen – und da oft die unschuldigste keinen Gesundheitpaß hat: so schüttelt man den Kopf und sagt: es ist wahre Verleumdung, aber aufpassen will ich denn doch.
Er hatte etlichemal den Versuch gemacht, hinüberzulangen; aber da sie immer zu sprechen und er immer zu antworten hatte,[918] so gings nicht, wenn er nicht seine Annäherung an ihre Ohren verraten wollte. Die Gespräche betrafen den Ball – die Gegenwart und Krankheit ihrer Hofdame Klotilde – die Stellvertreterin der letzten, Joachime, über deren Anstellung sich Viktor herzlich kalt ausdrückte; er konnte es bei Agnola niemals über Hof-Neuigkeiten hinaustreiben; sie schien alles Abstrakte und Metaphysische zu hassen oder zu unkennen; und vollends von Empfindungen mit ihr zu reden – was er sonst bei jeder am liebsten tat, und wozu ihm auch des Gemahls seine Anlaß und Stoff genug gegeben hätten –, kam ihm nicht viel besser vor, als sie gar zu haben.
Als er seine kalte Antwort über die Erhebung Joachimens gegeben hatte – eine Kälte, die mit seiner heutigen schwärmerischen gefühlvollen Wärme für die Fürstin einen schmeichelhaften Abstich machte –: so wollt' er in die halbe Takt-Pause darauf, welche Agnola mit Denken ausfüllte, die Aufhebung des Vorhangs verlegen. Er stemmte die Hand auf, hielt den Atem auf, zog den Vorhang auf – aber der heilige Sebastian war dahinter, den ich schon oben besagt, und der ganz gewiß von Tizian, und nicht von van Dyk war, weil er unserem Viktor so ähnlich sah78, daß es ihm selber glaublich wurde, der Pater habe ihn nach seiner Wachsstatue in St. Lüne dazu kopiert. Der Heilige kam ihm noch schlimmer vor als der Evangelist – nicht weil er dachte, das Porträt sei sein Namenvetter, sondern weil ihm einfiel, warum die Weiber in Italien zuweilen Heiligenbilder verhängen. Die Ursache kann bekanntlich einen Holzschnitt zu den zehn Geboten – Göschen und Unger sollten den Katechismus mit geschmackvollern Schnitten zu den Verboten herausgeben, als die alten sind – ausfüllen. Auch die Maria über dem Bette war mit Federbüschen und allem verschleiert.... Zeusel, Zeusel! hättest du nicht verleumdet, diese ganze Lebensbeschreibung liefe (soviel ich voraussehen kann) wohl anders! –
Er erhielt sich, durch Anstemmung der Rechten an die Wand, über der schönen Blinden schwebend, weil ihn eine kleine Weltkugel bei der Zentripetalkraft anfaßte und ihn aus seinem Zurücklaufe brachte. – Denn weil die Kranke auf der rechten Seite ruhte:[919] so war vom aufgerollten Haar eine Wolke nach der andern über das Herz und über den Lilienhügel, welchen Seufzer tragen, hinübergeflossen, und die zum andern Hügel sinkenden Locken hatten dort nicht so viel überdecken können, als sie hier entkleidet hatten. Den Locken sank langsam das Spitzengewebe nach, und die Herzblätten und die reifen Blüten blätterten sich ab von der aufdringenden Apfel-Frucht... Teurer ästhetischer Held dieser Posttage, wirst du ein moralischer bleiben, jetzt ungesehen hängend über diesem wahren globe de compression von Belidor – über dieser zunehmenden Mondkugel, wovon man nie die andere Hälfte sieht – neben dieser Anhöhe, die man wie andre Anhöhen um keine Festung dulden sollte – und noch dazu an einem Hofe, wo man sonst alles Erhabne durch die Kleiderordnung erdrückt?
Sobald er aus dem Bette und Paulinum ist: will ich mich mit dem Leser weitläuftig über den ganzen Vorfall entzweien – jetzo muß er erst erzählt werden in einem fort und mit vielem Feuer.
Er war gleichsam in die Luft geheftet- Aber endlich wars Zeit, aus dieser heißen Zone aller Gefühle und der Stellung zu weichen. Noch dazu erhöhte ein neuer Umstand Gefahr und Reiz zugleich. – Ein langer Seufzer schien ihren ganzen Busen zu überladen und aufzuheben und wie ein Zephyr durch einen Lilienflor zu wogen, und der überbauende Schneehügel schien vom schwellenden Herzen, das unter ihm glühte, und vom schwellenden Seufzer zu zittern. – Die Hand der zugehüllten Göttin bewegte sich mechanisch nach dem eingekerkerten Auge, als wollte sie eine Träne hinter dem Bande wegdrücken. Viktor, in Sorge, sie verschiebe die Binde, zieht die Rechte ab von der Wand, und die Linke vom Bette, um, auf den Zehen schwebend, ohne Bestreifen sich aus diesem Zauberhimmel herauszubeugen. – –
Zu spät! – Das Band ist herab von ihren Augen – vielleicht war sein Seufzer zu nahe gewesen oder sein Schweigen zu lange.
Und die enthüllten Augen finden über sich einen begeisterten, in Liebe zerronnenen, im Anfange einer Umarmung schwebenden Jüngling.... Erstarrt hing er in der versteinerten Lage – ihre von Schmerzen entbrannten Augen überquollen schnell vom mildern Lichte der Liebe – sie sagte heiß und leise: »comment?«Und[920] gelähmt zur Entschuldigung, bebend, sinkend, glühend, sterbend fällt er auf die heißen Lippen nieder und auf den schlagenden Busen. – Er schloß seine Augen vor Entzückung und vor Bestürzung zu, und blind und liebestrunken und kühn und bange wuchs er mit seinen trinkenden Lippen an ihre an.... als plötzlich in sein auf jeden kommenden Laut gespanntes Ohr der Nachtwächter-Ausruf der zwölften Stunde fuhr – und als Agnola wie mit einer fremden hereindringenden Hand ihn abstemmte, um eine blutige Hemdnadel wegzuwerfen – –
Wie ein Weltgericht in Nachtwolken schmetterte des Wächters einfache Ermahnung, an den Tod und an die zwölfte Geisterstunde dieses Mitternachtlebens zu denken, in seine Ohren, vor denen die Blutströme des Herzens vorüberbrausten – Der Ruf auf der Gasse schien von Emanuel zu kommen und zu sagen: »Horion! Beflecke deine Seele nicht und falle nicht ab von deinem Emanuel und von dir! Schau an die Leinwand über ihrem kranken Auge, als verhüllte es der Tod – und sinke nicht!«
»Ich sinke nicht!« sagte sein ganzes Herz: er wand sich mit ehrerbietigem Schonen aus den pulsierenden Armen und fiel, erstarrend vor der Möglichkeit einer Nachahmung des elenden Matthieu, den er so verachtet hatte, außerhalb des Bettes an ihrer hinausgenommenen Hand mit vorströmenden Tränen nieder und sagte:
»Vergeben Sie dem Jüngling – seinem überwältigten Herzen – seinen geblendeten Augen – – ich verdiene alle Strafen, jede ist mir eine Vergebung – aber ich habe niemand vergessen als mich.« – – »Mais c'est moi que j'oublie en Vous pardonnant«79, sagte sie mit einem zweideutigen Auge, und er stand auf und suchte sich, da ihm ihre Antwort die Wahl zwischen der angenehmsten und der demütigsten Auslegung anbot, gern selber mit der letzten heim – Agnolas Auge blitzte vor Liebe – dann vor Zorn – dann vor Liebe – dann schloß sie es – er trat in die ehrerbietigste Entfernung zurück – sie öffnete es wieder und kehrte ihr Gesicht kalt gegen die Wand und gab durch einen geheimen Druck an die Wand, der, glaub' ich, eine eigene Klingel im Zimmer der Kammerfrau[921] regierte, der letzten den Befehl zu eilen – und in einigen Minuten kam diese mit der Augen-Gurt. Natürlicherweise spielte man (wie im Leben des Menschen) den fünften Akt so hinaus, als wäre der dritte und vierte gar nicht dagewesen. – Dann zog er höflich ab.
So! – Nun fangen ich und der Leser darüber zu fechten an, und Viktor darüber zu denken. Recht war seine Umarmung nicht – seine Entdeckreise nach der Wand und seine Gemäldeausstellung waren es auch nicht –, aber klug war sie; denn er konnte doch wahrlich nicht zurückpurzeln und sagen: »Ich dachte, Matz hange hinter dem Bette.« – – Darauf antworten mir freilich Leute von Erfahrung: »Wir sind hier nicht darüber mit ihm unzufrieden, daß er die Klugheit der Tugend vorzog, sondern darüber vielmehr, daß ers nach dem Kusse nicht wieder so machte – Dieser Kuß ist ein zu kleiner Fehler, als daß ihn Agnola vergeben könnte.« Ich merke, diese Leute von Erfahrung sind Anhänger von der Sekte, welche in meinem Buche die Fürstin wegen so vieler halben Beweise unter diejenigen Weiber rechnet, die, zu stolz und zu hart für die Liebe des Herzens, die Liebe der Sinne nur flüchtig mit der Liebe zum Herrschen abwechseln lassen, und die es nur tun, um aus Amors Binde ein Leitseil, aus seinen Pfeilen Sporen und Steigeisen zu machen. Es sind mir auch die halben Beweise recht gut bekannt, womit sich diese Sekte deckt – die Bigotterie der Fürstin – ihr Beichtabend – ihre bisherige Aufmerksamkeit für meinen Helden – das Verdecken der gemalten Marie und das Enthüllen der lebendigern – und alle Umstände meiner Erzählung. Aber ich kann so etwas von einer Freundin Klotildens (diese müßte sich denn gerade deswegen von ihr geschieden oder aus Seelengüte diese nur dem männlichen Geschlechte gewöhnlichern Eilboten des Temperaments gar nicht begriffen haben) unmöglich eher denken, als bis mich in der Folge offenbare Spuren eines mehr erbitterten als gekränkten Weibes dazu nötigen. –
Ich komme von meinem Versprechen ganz ab, einiges näher zu legen, was gewiß bei Unparteiischen meinen Helden darüber, wo nicht rechtfertigt, doch entschuldigt, daß er nach dem Kusse sozusagen wieder tugendhaft wurde, und nicht des leibhaften Teufels[922] lebendig. Ich stelle keck unter die Milderunggründe seine Unbekanntschaft mit solchen Weibern, die, gleich den Spartern, mutig nicht nach der Zahl der Feinde ihrer Tugend fragen, sondern nach dem Orte derselben; er war wohl oft bei ihnen und in ihrem Lager, aber seine Tugend hinderte sie, ihm die ihrige zu zeigen. – Nicht so viel wie durch jenes wird er durch die Einwirkung des Nachtwächters und durch das Erinnern an den Tod entschuldigt; denn dieses muß selber entschuldigt werden; – es ist aber auch nur gar zu gewiß, daß gewisse Menschen, die zu Philosophen oder auch zu Dichtern organisiert sind, gerade dann, und zwar allemal, statt ihres Zustandes allgemeine Ideen beschauen, wo es andere gar nicht können und wo sie nichts sind als Ich, nämlich in den größten Gefahren, in den größten Leiden, in den größten Freuden. –
Ein Billiger schiebt alles auf den Apotheker, der Viktors moralischer und mechanischer Bettzopf oder Bettaufhelfer war; denn da der ihm den edlen Matz in einer ähnlichen Lage (aber ohne Bettzopf) vorgemalet hatte: so wurde der Abscheu, welchen Viktor einige Tage vorher gegen des Evangelisten Betragen empfunden hatte, in ihm zum lähmenden Unvermögen, einige Tage darauf im geringsten es zu kopieren. – O wenn wir doch jede Sünde, zu der wir oder andre uns versuchen, ein paar Tage vorher von einem wahren Schuft begehen sähen, den wir anspeien! – Könnten wir dann dem Schufte nacheifern?
Endlich braucht man nur zu Viktor in den Erker, wo er jetzo sitzt in einem sonderbaren Barometerstande, hinzusehen, wenn man den vorigen beurteilen will. Sein jetziger ist nämlich eine Mischung von Leerheit, Unzufriedenheit (mit sich und jedem), von größerer Liebe gegen Agnola, von Rechtfertigungen dieser Agnola, und doch von einem Unvermögen, sie sich als eine nahe Freundin Klotildens zu denken. –
Mich wird das wenige, was ich in der Eile zusammengetragen, niemals reuen, wenn ich dadurch einige glückliche Winke gegeben hätte, wie gut meinen Held bei seinem Betragen nach dem Kusse, das strengen Leuten von Welt auffallen muß, eine unangenehme Vereinigung von moralischen Zwingmitteln vorschützen[923] könne, und wenn es mir also geglückt wäre, ihm die Hochachtung, um die er sich brachte, weil er den für seinen Finger zu weiten Fürstenring nicht mit dem langen Seidenfaden der Liebe überwickelte zum Anpassen, am Ende des 27sten Kapitels wieder zu geben....
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