93. Zykel

[513] Jetzt war Albano wieder auf die Ixions-Räder der Uhr geflochten. Die Fahrt und Antwort der Fürstin sollte plötzlich Lichter in der dunkeln weiten Höhle aufstecken, in der er so lange gegangen war, ohne zu wissen, ob sie fürchterliche Bildungen und giftige Tiere verschließe oder ob sie mit glänzenden Bogen und unterirdischen Säulenhallen sich wölbe und fülle. Über Lianens Zustand hatten bisher zwei Hände, Augustis und der Ministerin, den Schleier festgehalten; beides waren Menschen, die ungern auf die Frage antworteten: wie befinden Sie sich? Aber auf der Fürstin ließ er nun seine ganze Seele ruhen, seit dem astronomischen Abende; von welchem er jetzt kaum begriff, wie er da gegen eine Freundin so viel und mehr von seiner Liebe sprechen können als je gegen einen Freund. Allein ungern spricht der Mann vor einem[513] Manne seine Empfindung aus und gern vor einem Weibe, ein Weib aber am liebsten vor einem Weibe. Indes hielt ihn die Fürstin durch die feinste Schmeichelei, die es gibt, durch entschiednes stilles Achten, in Banden; dem wörtlichen Lobe war er ebenso gram und gewachsen, als dem tätigen gewogen und zinsbar.

Bis zur Ankunft der Entscheidung verlief eine verworrene Zeit; wie ein Mensch, der in der Nacht reiset, hört' er Stimmen und sah Lichter, und ihrer feindlichen oder freundlichen Bedeutung fehlte ein Morgen. – Rabette lag krank und verblutet am matten Herzen; denn nicht er hatte aus ihm den blutstillenden Dolch, nämlich Karls Liebe, herausgezogen, sondern dieser selber war ihm zuvorgekommen mit bitter-süßen Tränen über die bittersten.

Letzterer war ihm einmal begegnet, mit hereingedrücktem Hut und grimmig-stechendem Blick ohne Gruß. – Überall hört' er, daß jener umsonst Lindas und Juliennens Doppeltor belagere und berenne; dieses und Lianens Kranksein machte den tropischen Wilden gleichsam zum wilderwachsenen Knaben aus einem Wald. Auch in der jetzigen Absonderung – auf der Walstatt des Freundes – hielt es Albano für eine Wunde des Menschen, daß Karl nicht von ihm voraussetzte – denn diesem Mangel schrieb er den Gassen-Grimm zu –, er werde die Gräfin nicht zu sehen suchen.

Sogar im Bibliothekar schien seit einigen Tagen ein Geheimnis zu lauern; dieser aber ging, seit es ihm in dessen Tiefen immer lichter geworden und er hinter dessen komische Larve hineingesehen bis zum redlichen Auge und liebevollen Mund, sein Herz so nahe an, zumal nach so vielen Trennungen. Denn auch der Lektor hielt sich nach seiner Gewohnheit, um keines Menschen oder gar abtrünnigen Freundes Liebe zu werben, von ihm geschieden; was denselben Jüngling kränkte, der es innerlich billigte.

Seit einigen Tagen war nämlich Schoppe in eine andre Tonart umgesetzt und sein eigner Restant und Nachsommer geworden. Es fing damit an, daß er an einem elenden Heulied den ganzen halben Tag auf dem Waldhorn verblies; den übrigen halben versang[514] er daran mündlich. Statt zu lesen und zu schreiben, ging er in der Stadt und Stube auf und ab. Alles, was er sonst schnell abmachte, Laufen, Verschlingen des Essens, Sprechen, Rauchen, Befehlen, Auffahren, das ging jetzt mit Klöppeln zwischen den Füßen und stand fast. Sein langsames Auffahren und sein zarter, leiser Schritt konnten Kennern seiner Vorzeit lächerlich vorkommen. Seinen großen, herrlichen Wolf-Hund, von dem er sich täglich zehnmal mit den Vorder-Pfoten umhalsen ließ und dessen am Felle aufgezogne Brust er so gern auf seine drückte, wenn er mit ihm ein Langisches und Konsistorial-Kolloquium hielt, vernachlässigte er in dem Grade, daß der Hund attent wurde und nicht wußte, was er denken sollte. Wie wenig konnt' er sonst das Geschrei eines geprügelten Hundes ertragen, ohne zur Haustüre als Schutzherr hinauszufahren, weil er glaubte, man könne wohl Menschen wie Hunde traktieren, aber Hunde nicht! – Jetzt konnt' er das Schreien hören, bloß weil er es, wie es schien, nicht hörte.

Wie er sonst oft zu Albano ging, um bloß auf- und ab- und fortzugehen ohne ein lautes Wort – weil er sagte: »Daran erkenn' ich eben den Freund, daß er mich oder sich nicht unterhalten, sondern bloß dasitzen will« –, so kam er jetzt noch stummer, berührte oft wie ein spielendes Kind zärtlich des lesenden Albanos Achsel und sagte, wenn dieser sich umsah: »Nichts!« Albano fragte indes der Veränderung nicht nach; denn er wußte, er entschleiere sie ihm doch zur rechten Zeit. Ihre Herzen standen wie offne Spiegel gegeneinander.

So lag nun der dunkle Wald des Lebens mit durcheinander- und tief ins Dickicht hineinlaufenden Steigen vor Albano, als er auf dem Kreuzwege seiner Zukunft stand und auf den Genius wartete, der entweder als ein feindseliger oder als ein guter ihm Lianens Entscheidung bringen sollte. Endlich kam aus dem finstern Wald ein Genius, aber der dunkle, und gab ihm dieses Blatt von der Fürstin:


»Lieber Graf! Wahr bin ich immer und schone lieber nicht. Das kranke Fräulein v. F. ist nicht mehr imstande, eine Reise zu machen oder davon zu profitieren. Ich nehme innigen Anteil daran.[515] Sogern ich Ihnen heute selber Trost zuzusprechen wünschte: so hoff' ich doch nicht, nach dieser Nachricht die Gelegenheit dazu zu haben.

Ihre Freundin.«


Welcher finstere Wolkenbruch aus dem jugendlichen Morgenrot! So war also die geheime Freude, die er bisher nährte, der Vorbote des entsetzlichen Schlags gewesen, das sanfte Tönen vor dem Wasserfall.151 Daß gerade seine Liebe das glühende Schwert werden mußte, das durch Ihr Leben drang, o das betrachtete er immer so, das schmerzt' ihn so! Aber kein Auge wurde naß; der Wermut des Gewissens verbittert sogar den Schmerz.

Wenn der Mensch sein eigner Freund nicht mehr ist, so geht er zu seinem Bruder, der es noch ist, damit ihn dieser sanft anrede und wieder beseele; – Albano ging zu seinem Schoppe.

Er fand ihn nicht, aber etwas anderes. Schoppe führte nämlich ein Tagebuch über »sich und die Welt«, worin sein Freund lesen durfte, was und wenn er wollte; nur mußt' ers vergeben, wenn er darin – da es durchaus so geschrieben wurde, als säh' es niemand weiter – zornige Fächerschläge und noch dazu mit dem harten Ende wegtrug. »Warum soll ich dich mehr schonen als mich?« sagte Schoppe. Zu diesem Du waren sie gekommen, ohne sagen zu können wann, so sehr sie sonst mit dieser Herzens-Kurialie, mit diesem heiligsten Seelen-Dualis gegen andere geizten; »denn ich danke Gott,« (sagte Schoppe) »daß ich in einer Sprache lebe, wo ich zuweilen Sie sagen kann, ja sogar, wenn die Menschen und Schelme darnach sind, zwischen jedem Komma Euer sowohl Wohl- als Hoch- und Sonst-Geboren.«

Albano fand das Tagebuch aufgeschlagen und las mit Erstaunen dieses:

»Amanlus-Tag. Ein dummer und äußerst merkwürdiger Tag für den bekannten Hesus oder Hanus152! Ich kann mich schwer bereden,[516] daß es der arme Donnergott verdiente, hinter der langen Proserpina153 nachzugehen und ihr endlich ins Gesicht zu gucken, auf die Stirn, auf den Mund, auf den Hals! O Gott! Wenn ein solcher Gott nun auf dem Platze geblieben wäre! – Als Pastor fido stand er zum Glück wieder auf und ging davon. O Höllengöttin, Hesi Himmelsstürmerin, du hast dich zu seinem Himmel gemacht, kann er dich je lassen?

Nachmittags. Der Pastor wird sein eignes Hatzhaus, er weiß nicht zu bleiben; er wohnt nun in allen Gassen, um seine Jeanne d'Arc-en-Ciel154 zu erblicken, und leidet genug. Aber Hesus, sind nicht Leiden die Dornen, womit die Schnalle der Liebe verknüpft? – Heute ging Freitag155 mit der Fürstin auf die Sternwarte. – Der Wind ist Südostost – 13 Monatsschriften in 1 Stunde gelesen – Spener sieht das Leben im glänzenden Vergrößerungsspiegel Gott verklärt und poetisch so gut als einer.

Sabinenstag. Mit dem Pastor wirds ärger, wenn ich recht sehe. Er ist auf dem Wege, sich einen Billetdoux-Beschwerer anzuschaffen, sich nachts im Bette zu pudern, und der Schelm wirft in der Hitze, wie Milch, die warm steht, schon poetische Sahne auf.

Lasse nur der Himmel niemals zu, daß er mit seiner Höllengöttin je in einen vernünftigen Diskurs gerate, Gesicht vor Gesicht, Atem gegen Atem, und die zwei Seelen untereinander gemengt! – Wahrlich, der Flins156 raffte ihn weg, Hesus verschlänge ein tausendjähriges Reich auf einmal; ich sorge, er würde vom Göttertrank zu wild und wäre zu schwer zu bändigen von mir.

Abends. Ists nicht schon so weit mit dem Pastor, daß er sich einen Autor aus dem Wimmer-Jahrzehnt des Säkuls (er schämt sich, ihn zu nennen) geborgt hat und sich vom dummen Zeuge rühren lassen will, indem er über den Effekt nachsinnt, den der Autor im 14ten Jahre auf ihn gemacht? Freilich stößet er ihm im jetzigen wie ein Nachtwächter am Tage auf; aber er ruft sich doch das Rufen zurück und hat neue Rührung über die alte. So lächelt[517] mich die Deklination cornu in der Grammatik noch bis auf diese Stunde an, weil ich mich entsinne, wie leicht und behend ich in den goldnen Kindheitsmonden den ganzen Singularis behielt.

Simon Jud. Verdammt! Ein schönes Gesicht und ein falscher Maxd'or machen im Kurs von einem Jahre ein paar hundert Schelme, die sich bloß im Wunsche zu behalten und wegzuschaffen unterscheiden. Hesus feindet und ficht schon Millionen Nebenbuhler an; wie Knopfmacher und Posamentierer, oder wie Gelb- und Rotgießer, so lassen so nahe Handwerker einander nicht aufkommen. Recht, Höllengöttin! daß du alle Männer hassest; das ist doch etwas für den Pastor, eine Wundsalbe. – Scioppius, die beiden Scaliger und die kräftigen Schlegel u.s.w.« –

Hier kommt das Tagebuch auf andere Dinge. Ein altes Porträt, zu welchem Schoppe sich selber gesessen, hatt' er retouchieret; eine Beilage als Inserat für das Pestitzer Wochenblatt kündigte dessen Bestimmung an:

»Endes Unterschriebner, ein Porträtmaler aus der niederländischen Schule, macht bekannt, wie er sich in Pestitz gesetzt, und daß er bereit ist, alles von jedem Stand und Geschlecht zu malen, was ihm sitzt. Als Probe, was er leiste, kann man bei ihm ein Selbstporträt besehen, das ihn vorstellt, wie er nieset, und es zugleich mit ihm daneben zusammenhalten. – Ich schneide auch aus.

Peter Schoppe.

No. 1778.«


Vermutlich sollte das die Höllengöttin bewegen, einmal dem niesenden Maler zu sitzen. Albano mußte mitten im tiefen Schmerze erstaunen. Anfangs hatt' er nach seiner einfachen Natur geglaubt, er selber sei unter dem Hanus verstanden.

Jetzt kam Schoppe. Sanft sagte Albano zuerst: »Ich habe auch dein Tagebuch gelesen.« Der Bibliothekar fuhr mit einem Exklamations-Fluche zurück und sah glühend zum Fenster hinaus. »Was ist, Schoppe?« fragte sein Freund. Er drehte sich um, sah ihn starr an und sagte, die Gesichtshaut auseinander ringelnd, wie einer, der sich die Zähne putzt, und die Oberlippe aufziehend, wie[518] ein Knabe, der in ein Butterbrot beißet: »Ich liebe« und lief im Feuer die Stube auf und ab, klagend dabei, daß er noch so etwas an sich erleben müsse in seinen ältesten Tagen. – »Lies mein Tagebuch nicht mehr«- (fuhr er fort) »Frage nach keinem Namen, Bruder; kein Teufel, kein Engel, nicht die Höllengöttin darf ihn wissen – Einst vielleicht, wenn ich und Sie in Abrahams Schoß sitzen und ich auf ihrem – – Du bist so betrübt, Bruder!«

»Fliege froh in der Sonnenatmosphäre der Liebe!« (sagte sein Freund in der Gewissenstrauer, die den Menschen einfach, still und demütig macht)»Ich werde dich nie fragen oder stören! Lies das!« Er gab ihm das Blatt der Fürstin und sagte noch, während jener las, zu ihm:»Verflucht sei jede Freude, wo Sie keine hat. Ich bleibe hier, bis sie lebt oder nicht!« – »Auch ich bleibe hier«, versetzte Schoppe unwillkürlich-komisch. »Sei ernsthaft!« sagte Albano. »Sonst konnt' ichs,« (sagte er weinerlich) »seit ehegestern nicht mehr!«

Albano hieß indes Schoppens Absonderung von der Reisegesellschaft gut; beide erhielten einander auch in der Freundschaft die köstlichste Freiheit. Von Hofmeister-Begleitung war bei beiden nicht die Rede. Schoppe lachte oft Hofmeister von vielen Kenntnissen und Lebensarten aus, wenn sie annahmen, er erziehe aus oder an Albano etwas. »Das Säkulum erzöge,« (sagt' er) »nicht ein Tropf – Millionen Menschen, nicht einer eigentlich höchstens ein pädagogisches Siebengestirn leuchte nach, nämlich die sieben Alter des Menschen, jedes Alter ins nächste hinein – das Individuum gleiche sehr der ganzen Menschheit, deren Revolutionen und Verbesserungen weiter nichts als Umarbeitungen einer Schikanedrischen Zauberflöte durch einen Vulpius wären; indes schwebe doch um das tolle, dissonierende Stück ein Mozartischer Wohllaut, worüber man den Vater und den Sprachmeister verwinde.«

»Wozu schleichen und brummen wir Sünder hier herum? Laß uns zu Ratto!« sagte Schoppe. Äußerst ungern bequemte sich Albano dazu; er sagte, der Keller habe etwas Unheimliches für ihn, und eine schwüle Ahnung drücke seine Brust. Schoppe erklärte die Ahnung aus dem Druck der Balken seines eingestürzten Lustschlosses, die auf seiner Brust noch lägen, und aus der Erinnerung[519] an den jetzt im Abgrund fliegenden Roquairol, der einmal ihm im Keller zugetrunken und nachher ihm in Lilar gebeichtet habe. Albano folgte endlich, erinnerte ihn aber an das Eintreffen einer andern Ahnung, die er auf der Höhe vor Arkadien gehabt.

»Wir spielen beide nicht die besten verliebten Figuren, indes ziehen wir in den Keller«, sagte Schoppe unterwegs und legte seinen Liebling ganz ungewöhnlich-hart auf die Folterleiter seines Spaßes; sonst, als er nicht selber liebte, war er eines zarten, schonenden, ernsten Schweigens darüber so fähig, jetzt aber nicht mehr.

151

Auf Wilhelmshöhe geht ein langer musikalischer Ton dem Fallen der Wasser voraus.

152

Beides ist der Name des alten deutschen Donnergottes; er meint sich aber damit selber.

153

Die Molosser nannten alle schönen Weiber Proserpinen.

154

So sollte man Schillers heilige Jungfrau nennen.

155

Sein Albano.

156

So nannten die Wenden den Tod.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 3, München 1959–1963, S. 513-520.
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