99. Zykel

[550] Spät fuhr der Vlies-Ritter an. Schoppe zeigte ihm erfreuet das schlafende Gesicht, dessen Rosenknospen wie in feuchter warmer Nacht aufzubrechen schienen. Der Ritter zeigte sich sehr erheitert darüber und noch mehr der spät nachschauende Doktor Sphex. Dieser fand den Puls nicht nur voll, auch langsam und auf dem Wege zu noch mehr Ruhe; er führte zugleich Chaudeson und mehrere offizielle Beispiele an, daß große Geistes-Leiden sich durch das Opium von innen, die Schlafsucht, sehr glücklich gehoben hätten.

Zuletzt machte Schoppe den Vater mit Idoinens ganzer Kurmethode bekannt. Stolz versetzte Gaspard: »Sie wußten aber meine Meinung noch, Herr Bibliothekar?« – »Gewiß, aber auch meine«, sagte erbittert der betroffne Schoppe. Der Ritter ließ sich indes in nichts weiter ein – ganz nach seiner Weise, über sein Ich, könnt' es auch noch so viel dabei gewinnen, nie nur das kleinste Licht zu geben –, sondern erteilte dem Freunde ein sehr kaltes Zeichen zum Zurückzug.

Den Morgen darauf fand Schoppe seinen Geliebten noch in der Seelen-Wiege des Schlafes. Wie er sproßte und blühte! – Wie[550] der Atem der entketteten Brust sich nun gleich einem freien Menschen nur langsam, aber stark bewegte! – Indes hielt Gaspards gepackter Wagen, der den Jüngling nach Italien rollen sollte, schon am Morgen mit schnaubenden, scharrenden Pferden vor der Tür, und der Ritter erwartete jede Minute das Aufwachen und – Einsitzen.

Der Arzt kam auch – pries Krisis und Puls – fügte bei, der Weinsteinrahm (den er mit verschrieben) sei der Lebens-Rahm – und sagte dem Vater geradezu ins Gesicht, als dieser den Jüngling wecken wollte zur Abfahrt, »er habe in seiner Praxis noch niemand gekannt, der so wenig von kritischen Punkten gewußt wie er; jeder Wecker sei hier ein Mörder, und er verbiete es recht ausdrücklich als Arzt«.

Von Stunde zu Stunde wurde Schoppe gegen den Vater unwilliger; er dankte – wenn er des Ritters abspülendes Ein- und Anströmen an dieses fruchttragende Eiland bedachte – jetzt Gott, daß Albano nicht nur die Hitze, sondern auch die Härte eines Felsen hatte.

Der Ehre- und Kunst-liebende Sphex bewachte wie eine drohende Äskulaps-Schlange das Kopfkissen und wurde heiterer Schoppe verblieb da, gefasset gegen jede Härte. – Der Ritter nahm in des Sohnes Namen von jedem Abschied und trieb weiche Herzen nach Hause; denn die Pflegemutter Albine und andere durften den Schlafenden nicht einmal sehen – weil ihm Tränen ein verdrüßlicher kalter Staubregen waren. – Die Fürstin und ihr Gefolge fuhr schon mit den bunten Wimpeln der Hoffnung auf dem Wege nach dem glänzenden Italien.

Der Abend wurde nun unwiderruflich zur Abfahrt angesetzt, zumal da in der Nacht die entschlummerte Liane in das Schlafgemach geführet werden sollte, das die Menschen nicht wieder öffnen.

Den blühenden Endymion überdeckte schon Lächeln und Freuden-Glanz als ein vorlaufender Morgenstern seines wachen Tags. Seine Seele ging lächelnd in der funkelnden Höhle der unterirdischen Schätze umher, die der Geist des Traums aufsperrt; indes das gemeine Auge des Wachens blind vor dem[551] nahen, von Schlaf ummauerten Geister-Eldorado stand. Endlich öffnete ein unbekanntes Wonne-Übermaß Albanos Auge – der Jüngling erstand sogleich mit Kraft – warf sich mit der Entzückung der ersten Erkennung dem Vater an die Brust – und schien im ersten, träumerischen Rausche sich des vorbeigezognen Gewitters hinter seinem Rücken nicht zu erinnern, sondern nur des seligen Traums – und erzählte trunken diesen:

»Ich fuhr in einem weißen Kahn auf einem finstern Strom, der zwischen glatten, hohen Marmorwänden schoß. An meine einsame Welle gekettet, flog ich bange im Felsen-Gewinde, in das zuweilen tief ein Donnerkeil einfuhr. Plötzlich drehte sich der Strom immer breiter und wilder um eine Wendeltreppe herum und hinab. – Da lag ein weites, plattes, graues Land um mich, das die Sonnen-Sichel mit einem eklen, erdfahlen Licht begoß. Weit von mir stand ein untereinander gekrümmter Lethe-Fluß und kroch um sich selber herum. – Auf einem unübersehlichen Stoppelfelde schossen unzählige Walküren169 auf Spinnenfäden pfeilschnell hin und her und sangen: ›Des Lebens Schlacht, die weben wir‹; dann ließen sie einen fliegenden Sommer nach dem andern unsichtbar gen Himmel wallen.

Oben zogen große Weltkugeln; auf jeder wohnte ein einziger Mensch, er streckte bittend die Arme nach einem andern aus, der auch auf einer stand und hinüberblickte; aber die Kugeln liefen mit den Einsiedlern um die Sonnensichel, und die Gebete waren umsonst. – Auch ich sehnte mich. Unendlich weit vor mir ruhte ein ausgestrecktes Gebürge, dessen ganzer aus den Wolken ragender Rücken golden und blumig schimmerte. Quälend watete der Kahn in der flachen, trägen Wüste des abgeplatteten Stroms. – Da kam Sandland, und der Strom drückte sich durch eine enge Rinne mit meinem zusammengequetschten Kahne durch. Und so neben mir ackerte ein Pflug etwas Langes aus, aber als es aufstieg, verdeckt' es ein Bahrtuch – und das dunkle Tuch zerfloß wieder in eine schwarze See.

Das Gebürge stand viel näher, aber länger und höher vor mir[552] und durchschnitt die hohen Sterne mit seinen Purpurblumen, über welche ein grünes Lauffeuer hin- und herflog. Die Weltkugeln mit den einzelnen Menschen zogen über das Gebürge hinüber und kamen nicht wieder; und das Herz sehnte sich hinauf und hinüber. ›Ich muß, ich will‹, rief ich rudernd. Mir schritt ein zorniger Riese nach, der die Wellen mit einer scharfen Mondsichel abmähte; über mir lief ein kleines festes Gewitter, aus der zusammengepreßten Dunstkugel der Erde gemacht, es hieß die Giftkugel des Himmels und schmetterte unaufhörlich nieder.

Auf dem hohen Gebürge rief eine Blume mich freundlich hinauf; das Gebürge watete der See dämmernd entgegen; aber es rührte nun beinahe an die herüberfliegenden Welten, und seine großen Feuerblumen waren nur als rote Knospen in den tiefen Äther gesäet. Das Wasser kochte – der Riese und die Giftkugel wurden grimmiger – zwei lange Wolken standen wie aufgezogne Fallbrücken nieder, und auf ihnen rauschte der Regen in Wellensprüngen herab – das Wasser und mein Schiffchen stieg, aber nicht genug. ›Es geht hier‹ (sagte der Riese lachend) ›kein Wasserfall herauf!‹

Da dacht' ich an meinen Tod und nannte leise einen frommen Namen. – – Plötzlich schwamm hoch im Himmel eine weiße Welt unter einem Schleier her, eine einzige glänzende Träne sank vom Himmel in das Meer, und es brauste hoch auf – alle Wellen flatterten mit Floßfedern, meinem Schifflein wuchsen breite Flügel, die weiße Welt ging über mich, und der lange Strom riß sich donnernd mit dem Schiffe auf dem Haupte aus seinem trocknen Bette auf und stand auf der Quelle und im Himmel und das blumige Gebürge neben ihm – und wehend glitt mein Flügel-Schiff durch grünen Rosen-Schein und durch weiches Tönen eines langen Blumen-Duftes in ein glänzendes, unabsehliches Morgenland.

Welch ein entzücktes, leichtes, weites Eden! Eine helle, freudige Morgensonne ohne Tränen der Nacht sah, von einem Rosenkranz umschwollen, mir entgegen und stieg nicht höher. Hinauf und hinab glänzten die Auen hell von Morgentau: ›Die Freudentränen der Liebe liegen drunten,‹ (sangen oben die Einsiedler[553] auf den langsam ziehenden Welten) ›und wir werden sie auch vergießen.‹ Ich flog an das Ufer, wo der Honig blühte, am andern blühte der Wein; und wie ich ging, folgte mir auf den Wellen hüpfend mein geschmücktes Schiffchen mit breiten, als Segel aufgeblähten Blumen nach – ich ging in hohe Blütenwälder, wo der Mittag und die Nacht nebeneinander wohnten, und in grüne Täler voll Blumen-Dämmerungen und auf helle Höhen, wo blaue Tage wohnten, und flog wieder herab ins blühende Schiff, und es floß tief in Wellen-Blitzen über Edelsteine weiter in den Frühling hinein, der Rosensonne zu. Alles zog nach Osten, die Lüfte und die Wellen und die Schmetterlinge und die Blumen, welche Flügel hatten, und die Welten oben; und ihre Riesen sangen herab: ›Wir schauen hinunter, wir ziehen hinunter, ins Land der Liebe, ins goldne Land.‹

Da erblickt' ich in den Wellen mein Angesicht, und es war ein jungfräuliches voll hoher Entzückung und Liebe. Und der Bach floß mit mir bald durch Weizen-Wälder – bald durch eine kleine duftige Nacht, wodurch man die Sonne hinter leuchtenden Johanniswürmchen sah – bald durch eine Dämmerung, worin eine goldne Nachtigall schlug – bald wölbte die Sonne die Freudentränen als Regenbogen auf, und ich schiffte durch, und hinter mir legten sie sich wieder als Tau brennend nieder. Ich kam der Sonne näher, und sie stand schon im Ähren-Kranz; ›es ist schon Mittag‹, sangen die Einsiedler über mir.

Träge, wie Bienen über Honigfluren, schwammen im finstern Blau die Welten gedrängt über dem göttlichen Lande – vom Gebürge bog sich eine Milchstraße herüber, die sich in die Sonne senkte – helle Länder rollten sich auf – Lichtharfen, mit Strahlen bezogen, klangen im Feuer – Ein Dreiklang aus drei Donnern erschütterte das Land, ein klingender Gewitterregen aus Glanz und Tau füllte dämmernd das weite Eden – Er vertropfte wie eine weinende Entzückung – Hirtenlieder flogen durch die reine, blaue Luft, und noch einige Rosenwölkchen aus dem Gewitter tanzten nach den Tönen. – Da blickte weich die nahe Morgensonne aus einem blassen Lilienkranze, und die Einsiedler sangen oben: ›O Seligkeit, o Seligkeit, der Abend blüht.‹ Es wurde still und dämmernd.[554] An der Sonne hielten die Welten umher still und umrangen sie mit ihren schönen Riesen, der menschlichen Gestalt ähnlich, aber höher und heiliger; wie auf der Erde die edle Menschengestalt in der finstern Spiegel-Kette der Tiere hinabkriecht: so flog sie droben hinauf an reinen, hellen, freien Göttern, von Gott gesandt – Die Welten berührten die Sonne und zerflossen auf ihr – auch die Sonne zerging, um in das Land der Liebe herabzufließen, und wurde ein wehender Glanz – Da streckten die schönen Götter und die schönen Göttinnen gegeneinander die Arme aus und berührten sich, vor Liebe bebend; aber wie wogende Saiten vergingen sie Freude-zitternd dem Auge, und ihr Dasein wurde nur eine unsichtbare Melodie, und es sangen sich die Töne: ›Ich bin bei dir und bin bei Gott‹ – Und andere sangen: ›Die Sonne war Gott!‹

Da schimmerte das goldne Gefilde von unzähligen Freudentränen, die unter der unsichtbaren Umarmung niedergefallen waren; die Ewigkeit wurde still, und die Lüfte ruhten, und nur das fortwehende Rosenlicht der aufgelösten Sonne bewegte sanft die nassen Blumen.

Ich war allein, blickte umher, und das einsame Herz sehnte sich sterbend nach einem Sterben. Da zog an der Milchstraße die weiße Welt mit dem Schleier langsam herauf – wie ein sanfter Mond schimmerte sie noch ein wenig, dann ließ sie sich vom Himmel nieder auf das heilige Land und zerrann am Boden hin; nur der hohe Schleier blieb – Dann zog sich der Schleier in den Äther zurück, und eine erhabene, göttliche Jungfrau, groß wie die andern Göttinnen, stand auf der Erde und im Himmel; aller Rosenglanz der wehenden Sonne sammelte sich an ihr, und sie brannte, in Abendrot gekleidet. Alle unsichtbaren Stimmen redeten sie an und fragten: ›Wer ist der Vater der Menschen und ihre Mutter und ihr Bruder und ihre Schwester und ihr Geliebter und ihre Geliebte und ihr Freund?‹ Die Jungfrau hob fest das blaue Auge auf und sagte: ›Gott ists!‹ – Und darauf blickte sie mich aus dem hohen Glanze zärtlich an und sagte: ›Du kennst mich nicht, Albano, denn du lebst noch.‹ – ›Unbekannte Jungfrau,‹ (sagt' ich) ›ich schaue mit den Schmerzen einer Liebe ohne Maß in dein erhabenes[555] Angesicht, ich habe dich gewiß gekannt – nenne deinen Namen.‹ – ›Wenn ich ihn nenne, so erwachst du‹, sagte sie. ›Nenn ihn‹, rief ich. – Sie antwortete, und ich erwachte.«

169

Walküren sind reizende Jungfrauen, die vor der Schlacht diese weben und die Helden bestimmen, die fallen müssen.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 3, München 1959–1963, S. 550-556.
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