122. Zykel

[691] Er las folgenden Brief von Schoppe:


»Dein Schreiben, mein lieber Jüngling, kam mir richtig zu. Ich preise deine Tränen und Flammen, die einander wechselnd unterhalten und nicht löschen. Werde nur etwas, auch viel, nur nicht alles, damit du es in einer so äußerst leeren Sache, wie das Leben ist – ich möchte wissen, wers erfunden hat –, ausdauern kannst vor Wüstenei. Ein Homer, ein Alexander, die nun die ganze Welt erobert und unter sich haben, müssen sich oft mit den verdrüßlichsten Stunden plagen, weil nun ihr Leben aus einer Braut eine Frau geworden. So sehr ich mich dagegen verpalisadierte und mich festmachte, um nicht über jedermann zu steigen und als das Faktotum der Welt oben zu sitzen: so kam ich doch am Ende[691] unvermerkt und stehend in die Höhe, bloß weil unter meinem langen Besehen der ganze Erdkreis voll Schaumberge und Nebel-Riesen immer tiefer auftauete und zusammenkroch; und schaue nun allein und trocken von meinem Berghorn herunter, ganz besetzt mit Blutigeln des Welt-Ekels.

Bruder, es wird aber in diesem Jahre anders und ich flott. Deswegen wird dir hier im Februar ein langer, mir ganz verdrüßlicher Brief geschrieben, der dir über meine nahe Einspinnung und Verpuppung sagt, wo und wie; denn bin ich einmal eine glänzende Chrysalide, so kann ich mich nur schwach mehr regen und zeigen.

Ich will mich deutlicher erklären, setzen die Deutschen hinzu, wenn sie sich deutlich erklärt haben. Es schickt und trifft sich besonders glücklich – was ich schätze wie einer –, daß gerade Ende des Jahrs Ende meines bisherigen väterlichen Vermögens ist und folglich, wenn Amsterdam aufhört zu zahlen, ich auch falle und nichts mehr in Händen habe als schwache chiromantische Wahrsagungen und nichts im Leibe habe außer dem Magen. Ich wollte, ich könnte noch von meinem Nabel leben wie in meinen frühern Zeiten und mich so weich betten.

Was soll ich dann machen? Mich von den Herren Menschen jahraus, jahrein beschenken zu lassen, dazu acht' ich sie nicht genug; und die wenigen, die man etwa bei Gelegenheit achtet, sollen wieder mich zu hoch achten, es anzubieten. Was, ein Floh soll ich sein am dünnsten goldnen Kettlein, und ein Herr, der mich darangelegt, damit ich ihm springe, aber nicht davon, zieht mich öfters auf den Arm und sagt: saug nur zu, mein Tierchen!? – Teufel! Frei will ich bleiben auf einer so verächtlichen Erde – keinen Lohn, keinen Befehl in diesem großen Bedientenzimmer erhaltend – kerngesund, um kein Mitleiden und keinen Hausarzt zu erwecken – ja wollte man mir das Herz der Gräfin Romeiro unter der Bedingung zuschlagen, es zu erknien, so würd' ich das Herz zwar annehmen und es küssen, aber gleich darauf aufstehen und davonlaufen (entweder in die zweite oder in die neue Welt), ehe sie Zeit hätte, sich die Sache zu rekapitulieren und mir vorzurücken.[692]

Werden freilich etwas – und dadurch ebensoviel verdienen –, das könnt' ich (schlägt man mir vor) doch versuchen, ohne sonderliche Einbuße von Freiheit und Ungleichheit. In der Tat seh' ich hier aus meinem Zentrum an 360 Weg-Radien laufen und weiß kaum zu wählen, so daß man lieber das Zentrum zum Umkreis auszuplätten oder diesen zu jenem einzuziehen versuchen möchte, um nur fortzustehen. Dienen, wie die Regimentsstäbe sagen, wäre freilich das nächste am Herrschen. Du willst selber, wie du schreibst, ins Feld. (Deinen Brief hab' ich richtig erhalten und darin deine Scheu und Sucht recht und gut gefunden und dich ganz.) Und in Wahrheit, errichtete der Erzengel Michael eine heilige Legion, eine legio fulminatrix von einigen schwachen Septuagintas gegen das gemeine Wesen der Welt, kündigte er den Riesenkrieg dem Pöbelsaufgebote an, um vier oder fünf Weltteile durch ein sechstes Weltteilchen (auf einer Insel hätt' es vielen Platz) aus der Welt zu treiben oder in die Kerker und um alle geistige Knechte zu leiblichen zu machen: sei versichert, in diesem glücklichen Fall stellte ich mich am ersten hinter die Spitze und führte die Kanonen mit der kurzen flüchtigen Bemerkung:

wie Händel zuerst Kanonen in die Musik, so brächte man hier umgewandt zuerst Musik in die Kanonen. Kämen wir nun sämtlich zurück, wehte der heilige Landsturm wieder herwärts: so stände Gottes Thron auf der Erde, und heilige Männer gingen mit hohen Feuern in Händen hinauf, viel weniger um droben den Weltkörper zu regieren als dem Weltgeiste zu opfern.

Mit der Franzmannschaft demnach stehst du für deine Person, wie du schreibst, künftig für einen Mann. Freilich fällt mirs schwer, sonderlich von 25 Millionen zu denken, wovon zwar die Kubikwurzel frei lief und wuchs, aber Stamm und Gezweig doch jahrhundertelang am Sklaven-Gitter trocknete und dorrte. Wer nicht vor der Revolution ein stiller Revolutionär war – wie etwan Chamfort, mit dessen feuerfesten Brust ich einmal in Paris an meiner schönes Feuer schlug, oder wie Montesquieu und J.J. Rousseau –, der spreize sich mit seiner Tropfenhaftigkeit nicht breit unter seine Haustür aus. Freiheit wird wie alles Göttliche nicht gelernt und erworben, sondern angeboren. Freilich sitzen[693] im Frank- und Deutschreich überall junge Autoren und Musensöhne, die sich über ihren schnellen Selbst-Gehalt verwundern und erklären, nur verflucht erstaunt, daß sie nicht früher ihr Freiheitsgefühl gefühlt, weiche Schelme, die sich als ganze blasende Walfische ansehen, weil sie einiges Fischbein davon um die Rippen zu schnüren fanden – Immer würd' ich in einem Kriege, wie ihn die tote Zeit geben kann, glauben, zwar gegen Toren zu kämpfen, aber auch für Toren.

Die jetzigen zynischen, naiven, freien Naturmenschen – Franzen und Deutsche – gleichen fast den nackten Honoratioren, die ich in der Pleiße, Spree und Saale sich baden sah: sie waren, wie gesagt, sehr nackt, weiß und natürlich und Wilde, aber der schwarze Haarzopf der Kultur lag doch auffallend auf den weißen Rücken. Einige große lange Menschen und Väter der Zeit, wie Rousseau, Diderot, Sidney, Ferguson, Plato, haben ihre abgetragnen Hosen abgelegt, und diese tragen ihre Jungen nach und nennen sich, weil sie ihnen so weit, lang und offen sitzen, deswegen Ohne-Hosen.

Zwar statt des Degens könnte ich auch sehr gut das Federmesser ergreifen und als schreibender Cäsar aufstehen, um die Welt zu bessern und ihr und sie zu nutzen. Es wird mir denkwürdig bleiben, das Gespräch, das ich darüber mit einem berlinischen allgemeinen deutschen Bibliothekar aushielt, als wir still im Tiergarten auf- und abgingen. ›Jeder wuchere doch seinem Vaterland mit seinen Kenntnissen, die sonst vergraben liegen‹, sagte der deutsche Bibliothekar. ›Zu einem Vaterland gehört zuvörderst einiges Land‹, sagt' ich, ›der Malteser Bibliothekar aber, der hier spricht, erblickte das Licht der Welt zur See unter einem pechfinstern Sturm. Kenntnisse besitz' ich freilich genug und weiß, daß man sie wie ein Glas voll Kuhpocken, vernünftig genommen, nur dazu hat, um sie einzuimpfen – der Schüler seinerseits schlingt sie wieder nur ein, um sie von sich zu geben, und so gibt sich das Weitere. So fährt das Licht, wie im Spiel "stirbt der Fuchs, so gilts den Balg" der glimmende Span, von Hand zu Hand, bis aber doch der Span in einer – meiner verlöscht und verbleibt.‹[694]

›Launig genug!‹ (sagte der allgemeine Bibliothekar) ›Mit einer solchen Laune verbinden Sie nur noch Studium schlechter Menschen und guter Muster, so bilden Sie uns einen zweiten Rabener, der die Narren geißelt.‹ – ›Herr!‹ (versetzt' ich ergrimmt) ›ich würde die Weisen vorziehen und Euch den ersten Schlag versetzen. Weise lassen sich berichten und waschen, haben überall ihr Einsehen und sind gute Narren und meine Leute; ein Mann wie ein allgemeiner deutscher Kurschmied, der dem Musenpferd an den Puls greift, halte mir seinen vor, und ich befühl' ihn gern. Aber der Welt-Rest, Sir? Wer kann das Weltmeer abschäumen, wenn er ihm nicht die Ufer wegbricht? Ists nicht ein Jammer und Schade, daß alle genialische Men schen, von Plato bis zu Herder, laut und gedruckt worden und häufig gelesen und studiert vom gelehrten Pack und Packhof, ohne daß dieser sich im geringsten ändern können? Bibliothekar, ruft und pfeift doch alles, was in den kritischen Hundshütten neben jenen Tempeln Wache liegt, heraus und fragt sämtliche Windspiele, Doggen und Packer, ob in ihren Seelen sich etwas anders bewege als ein potenzierter Magen, statt eines poetischen und heiligen Herzens! Im Bergkessel sehen sie den Wurst- und Braukessel, im Laub die Schelle der Karte, und der Donner hat für sie – als ein größerer elektrischer Funke – einen sehr säuerlichen Geschmack, den er nachher dem März-Biere einflößet.‹

›Spielen Sie an?‹ fragt' er. ›Sicher!‹ (sagt' ich) – ›Aber weiter, Bibliothekar, gesetzt wir beide wären so glücklich, uns auf dem Absatze herumzudrehen und mit einem Umherhauchen alle Toren wie mit einem Hüttenrauche ganz verpestet umzuwehen und maustot hinzuwerfen: so kann ich doch nicht absehen, wo der Segen herauskommen will, weil ich, außerdem daß wir noch selber nebeneinander stehen und auch uns anzuhauchen haben, in allen Ecken umher Weiber sitzen sehe, welche die erlegte Welt von neuem hecken. –

Bester Püsterich199 voll Feuer‹, (fuhr ich fort) ›kann aber das sehr zum satirischen Handwerke rufen und prägen? – O nein![695]

Echte Laune ist bei mir da, vielleicht fremde Tollheit gleichfalls, vielleicht – aber ach wird nicht der seltsame Scherzmacher, sogar in ihrer ungemeinen Bibliothek, dem Stachelschweinmanne in London (dem Sohne) gleichen, der bei dem Tierhändler Brook den Dienst hatte, den Fremden im wilden Viehstand und ausländischen Tiergarten herumzuführen, und der auf der Schwelle dabei anfing, daß er sich selber zeigte als Mensch betrachtet? Bedenken Sie es kalt und vorher! Noch schwing' ich meinen Satyr-Schweif ungebunden und lustig und etwan gegen eine gelegentliche Bremse; wird mir aber ein Buch darangebunden, wie in Polen an den Kuh-Schwanz eine Wiege, so rüttelt das Tier die Wiege der Leser und gibt Lust, der Schwanz aber wird ein Knecht.‹

›Zu solchen Bildern‹ (sagte der Bibliothekar) ›wäre allerdings die gebildete Welt durch keinen Rabener oder Voltaire gewöhnt, und ich erkenne nun selber die Satire nicht für Ihr Fach.‹ – ›O so wahr!‹ versetzt' ich, und wir schieden gütlich.

– Aber ernsthaft genommen, Bruder, was hat nun ein Mensch übrig (sowohl an Aussichten als an Wünschen), dem das Säkulum so versalzen ist wie mir und das Leben durch die Lebendigen den die allgemeine matte Heuchelei und die glänzende Politur des giftigsten Holzes verdrießet – und die entsetzliche Gemeinheit des deutschen Lebenstheaters – und die noch größere des deutschen Theater-Lebens – und die pontinischen Sümpfe Kotzebuischer ehr- und zuchtloser Weichlichkeit, die kein heiliger Vater austrocknen und festmachen kann – und der ermordete Stolz neben der lebendigen Eitelkeit umher, so daß ich mich, um nur Luft zu schöpfen, stundenlang zu den Spielen der Kinder und des Viehs hinstellen kann, weil ich doch dabei versichert bin, daß beide nicht mit mir kokettieren, sondern nichts im Sinne und liebhaben als ihr Werk – was hat, fragt' ich auf der letzten Zeile des vorigen Blattes, einer nun übrig, den, wie gesagt, so vielerlei anstinkt und vorzüglich noch der Punkt, daß Besserung schwer ist, aber Verschlimmerung ganz und gar nicht, weil sogar die Besten den Schlimmsten etwas weismachen und dadurch sich auch und weil sie bei ihrer verborgnen Verwünschung und Sänften-[696] und Achselträgerei der Gegenwart wenigstens um Geld und Ehre tanzen und sich dafür gern vom festern Pöbel brauchen lassen, als Weinfässer zu Fleischfässern – was hat ein Mann, sag' ich, Freund, in Zeiten, wo man, wie jetzt im Druck, aus Schwarz zwar nicht Weiß macht, aber doch Grau und wo man, wie Katecheten sollen, gerade die Fragen auf Nein und Ja vermeidet, noch übrig außer seinem Hasse der Tyrannen und Sklaven zugleich und außer dem Zorne über die Mißhandlung sowohl als über die Gemißhandelten? Und wozu soll sich ein Mann, dem der Panzer des Lebens an solchen Stellen dünn gearbeitet oder dünn gerieben ist, ernsthaft entschließen?

Ich meines Orts, falls von mir die Rede ist, entschloß mich im halben Scherze zu einer dünnen hellen Anfrage für den Reichsanzeiger, die du vielleicht schon in Rom gelesen, ohne mich eben zu erraten:


Allerhand.


Wohl zuverlässig steht gesunder Verstand und Vernunft (mens sana in c.s.) unter den zu würdigenden Gütern des Lebens zunächst nach einem reinen Gewissen obenan. Ein Satz, den ich bei den Lesern dieses Blattes vorauszusetzen wage. Was sonst hierüber noch gesagt werden kann (sowohl von als gegen Kantner [so schreibt Campe statt Kantianer viel richtiger]), gehört gewiß nicht hieher in ein ganz populäres Volksblatt. Unterzeichneter dieses ist nun in dem betrübten Falle, daß er hier genötigt die Ärzte Aus- und Deutschlands befragt – Mitleiden mit Leiden gebe, schicke die Antworten ein –, wenn er (gerade heraus vor Deutschland!!) ganz toll werden werde, indem der Anfang davon schon einen genommen.

Das Wenn, aber nicht das Ob liegt edeln Menschenfreunden zu beantworten ob. Hier meine Gründe, Deutsche! Abgesehen, daß mancher schon aus der Anfrage folgern könnte – was doch wenig entscheidet –, so sind folgende Stücke bedenklich und gewiß: 1) des Verfassers bunter Stil selber, der weniger aus diesem Inserat (in den überlegtesten Intervallen gemacht) als aus der ähnlichen Schreibart eines sehr beliebten und geschmacklosen Schriftstellers zu erkennen ist, wie denn ein buntes Übermaß ganz[697] wildfremder Bilder so gut am Kopfe wie buntes Farbenspiel am Glase nahe Auflösung bedeuten – 2) die Weissagung eines Spitzbuben200, an die er immerfort denkt, was schlimme Folgen haben muß – 3) seine Liebe und sein Treiben Swifts, dessen Tollheit Gelehrten nicht fremd ist – 4) seine gänzliche Vergeßlichkeit – 5) seine häufige schlimme Verwirrung geträumter Sachen mit erlebten und vice versa – 6) sein Unglück, daß er nicht weiß, was er schreibt, bis ers nachgelesen, weil er gegen seinen Zweck bald etwas auslässet oder bald etwas hinsetzt, wie das durchstrichne Manuskript leider am besten bezeugt – 7) sein ganzes bisheriges Leben, Denken und Spaßen, was hier zu weitläuftig wäre, und 8) seine so unvernünftigen Träume. Nun ist die Frage, wenn in solchen Verhältnissen (schlagen nämlich keine Fieber, keine Liebschaften dazu) vollständige Verrückung (Idea fixa, mania, raptus) eintritt. Bei Swift fiels sehr spät, im Alter, wo er ohnehin schon an und für sich halb närrisch sein mochte und nachher alles nur mehr zeigte. Wenn man betrachtet, daß einmal der Professor Büsch ausrechnete, daß seine Augen-Schwäche sehr gut ohne seinen Schaden von Jahr zu Jahr wachsen könnte, weil die Periode seiner gänzlichen Erblindung über sein ganzes langes Leben hinausfiele bloß auf sein Grab, so sollt' ich annehmen, daß meine Schwäche so stufenweise aufschwellen könnte, daß ich keine petites maisons brauchte als den Sarg selber; so daß ich vorher dabei heiraten und amtieren möchte wie jeder andere rechtschaffene Mann.

Was ich hiermit bezwecke, ist bloß, mich hierüber mit irgendeinem Menschenfreunde (er sei aber philosophischer Arzt!!) in Korrespondenz zu setzen. Meine Adresse hat die Expedition des Reichsanzeigers. Näher bekannt mach' ich mich vielleicht körperlich und bürgerlich in eben diesem Blatte auf dem Blatte, wo ich eine Gattin suche. Pestitz, den Februar.

S–s, L–d, L–r, G–l, S–e.


Albano, du weißt, unter welchem Gebüsch mein Ernst liegt. Der Reichs- und Schoppens-Anzeiger hat acht Gründe für die[698] Sache, die nicht nur mein Ernst sind, sondern auch mein Spaß. Seit der Kahlkopf mir nach einem Jahre den Aufgang meines tollen Hundssterns ansagte, sah ich immer die Aurora dieses Fix-Gestirns vor mir und sah mich daran zuletzt blind und feige; ich muß es heraussagen. O ich hatte im Januar, Bruder, acht furchtbare Träume hintereinander – nach der Zahl der Gründe im Anzeiger und selber unter den achten Grund gehörig –, Träume, worin ein wilder Jäger des Gehirns durch den Geist jagte und ein reißender Strom voll Welten, voll Gesichter und Berge und Hände wallete – ich will dich nicht damit ängstigen – Dante und sein Kopf sind Himmel dagegen.

Da wurd' ich verdrüßlich über die Feigheit und sagte zu mir: ›Hast bisher so lange gelebt und die reichsten Ladungen leicht ins Wasser geworfen, sogar diese und die zweite Welt, und dich von allem, und von Ruhm und von Büchern und Herzen so rein entkleidet und hast nichts behalten als dich selber, um damit frei und nackt und kalt auf der Kugel zu stehen vor der Sonne: auf einmal krümmst du dich unversehends vor dem bloßen tollen fixen Gedanken an eine tolle fixe Idee, die dir jeder Fieber-Pulsschlag, jeder Faust-Schlag, jedes Giftkorn in den Kopf graben kann, und verschenkst auf einmal deine alte göttliche Freiheit Schoppe, ich weiß gar nicht, was ich von dir halten soll; wer irgend etwas noch fürchtet im Universum, und wär' es die Hölle, der ist noch ein Sklave.‹

Da ermannte sich der Mann und sagte: ich will das haben, was ich fürchtete; und Schoppe trat näher an den breiten hohen Nebel, und siehe! es war (man hätte sich gern auf der Stelle hineingebettet) nur der längste Traum vor dem längsten Schlaf, mehr nicht, was sie Wahnsinn nennen. Geht man nun auf einige Zeit z.B. in ein Irrhaus zum Scherz: so kann man den Traum haben, lässet es sich sonst alles so dazu an wie bei manchem. Und dahinein will ich nun allgemach sinken, in den Traum, wo an der Zukunft die Dolchspitze abgebrochen ist und an der Vergangenheit der Rost abgewischt – wo der Mensch ohne Störung in dem Schattenreich und dem Barataria-Eiland seiner Ideen das regierende Haus allein ist und der Johann ohne Land und er wie ein[699] Philosoph alles macht, was er denkt – wo er auch seinen Körper aus den Wellen und Brandungen der Außenwelt zieht und Kälte, Hitze, Hunger, Nervenschwäche und Schwindsucht und Wassersucht und Armut ihn nicht mehr antasten und den Geist keine Furcht, keine Sünde, kein Irrtum im Irrhaus – wo die 365 Träume jährlicher Nächte sich in einen einzigen, die flüchtigen Wolken in ein großes Glut-Abendrot zusammengewebt –

Da sitzt etwas Böses! Der Mensch muß imstande sein, sich seinen Traum, seine gute fixe Idee – denn ein hoher Ameishaufen der grimmigsten und der liebreizendsten wimmelt vor ihm – mit Verstand auszuklauben und zuzueignen, sonst kann er so schlimm fahren, als wär' er noch bei Verstand. Ich muß nun besonders meine Anstalten treffen, daß ich einen liebreichen favorablen Fix-Wahn finde und anerkenne, der gut mit mir umgeht. Kann ichs dahin bringen, etwan der erste Mensch zu sein im irrigen Hause – oder der zweite Momus – oder der dritte Schlegel – oder die vierte Grazie – oder der fünfte Kartenkönig – oder die sechste kluge Jungfrau – oder die siebente weltliche Kur – oder der achte Weise in Griechenland – oder die neunte Seele in der Arche oder die zehnte Muse – oder der 41ste Akademiker – oder der 71ste Dolmetscher – oder gar das Universum – oder gar der Weltgeist selber: so ist allerdings mein Glück gemacht und dem Lebens-Skorpion der ganze Stachel weggeschlagen. Aber was steht nicht noch für goldnes edelsteinernes Glück offen! Kann ich nicht ein sehr begünstigter Liebhaber sein, der den Sonnenkörper einer Geliebten den ganzen Tag im Himmel ziehen sieht und hinaufschauet und ruft: ich sehe nur dein Sonnen-Auge, aber es genügt? – Kann ich nicht ein Verstorbner sein, der voll Unglauben an die zweite Welt in solche gefahren ist und nun da gar nicht weiß, wo er hinaus soll vor Lust? – O kann ich nicht denn der kürzere Traum und das Alter verkindern ja schon wieder ein unschuldiges Kind sein, das spielt und nichts weiß, das die Menschen für Eltern hält und das nun einen aus der bunten Blase des Lebens zusammengefallenen Tränentropfen vor sich stehen hat und den Tropfen wieder mit der Pfeife geschickt zum flimmernden Farben-Weltkügelchen aufbläset?[700] Es ist eben Mitternacht; ich muß jetzt in die Kirche gehen, meine Vesper-Andacht zu halten.


Drei Wochen später

Nota bene!


Gewissermaßen war ich seit deiner Reise verdammt unglücklich bis diesen Morgen gegen 1 Uhr; – um 2 Uhr faßt' ich meinen Entschluß, jetzt um 5 die Feder, um 6, wenn ich ausgetrunken und ausgeschrieben, den Reisestab, dessen Stachel nach 2 Monaten in den Pyrenäen steht. O Himmel! mußte etwas Gestacheltes längst neben mir stehen, was ich so lange für einen Herisson nahm, indes es die beste Spielwalze voll Stifte ist, aus der ich nichts Geringeres (ich drehte sie vor einigen Stunden) haben kann als das beste Flötengedackt – unverfälschte Sphären- und Kreismusik zu den Bravourarien der drei Männer im Feuer einen ganzen lebendigen Vaucansons-Flötenspieler von Holz und unerhörte Sachen, womit die Maschine nicht sich einen Bruch bläset, sondern einigen Spitzbuben, wovon ich vorzüglich den Kahlkopf nenne?

O höre, Jüngling! Es geht dich an. Ich will deinetwegen, was die Welt offenherzig nennt, jetzt sein, nämlich unverschämt, denn wahrlich ich decke lieber meinen Steiß als mein Herz auf und bin weniger rot.

Es gab einmal in alten Zeiten eine junge Zeit, eine voll Feuer und Rosen, wo der alte Schoppe seines Orts auch jung genug war – wo der alerte, anschlägige Vogel leicht heraushatte, wo der Hase liegt und die Häsin – wo der Mann sich noch mit den bekannten vier Weltteilen in Güte setzte, oder auch ebenso leicht wie ein Stier mit dem Horn nach jeder Fliege stieß – wo er, jetzt ein Silberfasan kühler Zeit, noch als ein warmer Goldfasan im ganzen Welschland auf- und abschritt oder flog und bald auf Buonarottis Moses saß, bald auf dem Coliseo, bald auf dem Ätna, bald auf der Peterskuppel und vor Lust krähete, die Flügel schlug und gen Himmel stieg.

Es war nämlich dieselbe Zeit, wo der noch ungerupfte Sturmvogel einmal in Tivoli sich durch die Wasserfälle hin- und herschwang, kostbar selig war und da gelegentlich – plötzlich – oben[701] – in Vestas Tempel – zum ersten Male – weiter nichts erblickte als – die Prinzessin di Lauria, nachher, mutmaß' ich, von einem Vliesritter weggeholt als sein güldnes Vlies. Solche sehen – sich aus einem Sturmvogel in einen Tauber an der Venus Wagen verwandeln – von Gespann und Zügel sich abreißen – vor jene Göttin fliegen – sie in immer engern Kreisen umziehen, das alles war nicht eins, sondern dreierlei. Ich mußte erst zu einem Paradiesvogel wachsen und mich färben, um in ein Paradies zu fliegen; ich mußte nämlich Malerei erlernen, um vor Sie zu dürfen.

Als ich endlich den Porträt-Pinsel und die Silhouet ten-Schere in der Gewalt hatte und an einem Morgen mit beiden vor der Prinzessin und dem Fürsten erschien, mußt' ich ihn selber malen und schneiden; seine Tochter war schon vermählet und heimlich abgereiset; denn dein Großvater weissagt (anstatt wie andere ihr Treiben voraus) seines nur hintennach und öffnet den Mund bloß zum – Hören.

Ich schnitt ihn schnell aus, den Mann – packte ein – ging in alle Welt – nach beinah drei Jahren stand ich auf der zehnten Terrasse der Isola bella ganz unerwartet vor der Gräfin Cesara Himmel und Hölle! welch ein Weib war deine Mutter! Sie warf jeden in beide auf einmal, ich weiß nicht ob deinen Vater auch. Schreiber dieses stand in seiner letzten ornithologischen Verwandlung vor ihr, als stiller Perlhahn (Tränen müssen die Perlen sein), und konterfeiete sie ab, nach wenigen Wochen.

Sie hatte zwei Kinder, dich – deiner schon damals geschärften Bildung entsinn' ich mich klar – und deine Schwester, die sogenannte Severina. Dein Vater war nicht da, aber sein Wachsbild, wornach ich ihn gleich achtzehn Jahre später in Rom wieder erkannte. Auch deine Schwester war noch wächsern wiederholt, nur du nicht. Eine dir von weitem ähnliche Wachsfigur, die dich als einen Mann vorgaukelte, stellte der Bruder deines Vaters, der mit da war, dir immer als einen Flügelmann deiner Zukunft vor, sagte, du seiest hier im voraus kubiert und schon ins Große getrieben, von der Flasche auf das Faß gefüllt, um dich anzufeuern, damit du erwüchsest. Man mußte dir eine ähnliche Uniform, wie der Wachsmann trug, anziehen – ich weiß nicht welche – Du[702] fordertest dann keck, um deinen eignen Mikromegas schreitend, ihn heraus, aus der Zukunft in die Gegenwart. Jetzt weißt du, was du geworden, und magst wohl wieder und mit mehr Recht so stolz auf den Kleinen herabsehen wie der Kleine sonst zu dem Großen hinauf. Ich wollte nie deinem Oheim diese Maschine der geistigen Streckbarkeit gutheißen; dabei hab' ich vor allen Wachs-Marionetten einen so hassenden Schauder!

Mein einziger Zweck auf der schönen Insel war die Abreise von ihr und von der schönen Insulanerin, sobald ich diese abgemalt hätte. Dummes Jahrhundert, sagt' ich, will ich denn mehr von dir? Sie saß mir gern – wie auf einem Thron – ich riß, halb im Gewitter, halb im Regenbogen wohnhaft, sie ab und mußt' ihr natürlich das Bild lassen unkopiert. Aber, Jüngling, einige Buchstaben, die meinen damaligen Namen formierten und die ich aufs Bild an der Stelle des Herzens unter die Wasser-Farben schrieb und versteckte, können für dich ein Tetragrammaton, elf Sonntagsbuchstaben und Lesemütter (matres lectionis) deines Daseins werden, falls ich glücklich nach Spanien komme und in Valencia am Bildnis die Färberei von meinen Buchstaben weg wischen und nun in dessen Herzen lesen kann: Löwenskiold. So dänisch hieß ich damals.

Dann ist die Gräfin Linda de Romeiro ohne Gnade deine Schwester Severina. Gott schenke nur, daß du sie nicht vor diesem Brief etwan gesehen hast und geheiratet; sie soll, wie ich gestern hörte, nach Italien abgereiset sein.

Denn als ich die Gräfin Linda hier zum ersten Male sah, war mir auf dem Pestitzer Markt-Viereck, als ständ' ich oben auf der Terrasse der Isola bella und schauete die Alpen, deine Mutter, meine Jugend kaum drei Schritte vor mir! Bei Gott, wie als wäre aus der tiefen Ferne im Pfeilerspiegel der Zeit auf einmal das weiße Rosenbild deiner verhüllten Mutter heraufgerissen worden dicht ans Glas heran und hinge davor nun rotblühend, so stand Linda vor mir! Denn die göttliche Ähnlichkeit beider ist so groß! Gar kein Arianisches Homoiusion, sondern ein ganzes orthodoxes Homousion ist hier zu glauben, würd' ich dir gerne schreiben, hättest du sonst die nötige Kirchengeschichte dazu auf dem Lager.[703]

Ich malte auch Linda in diesem Winter. Was sie mir vom Charakter ihrer Mutter erzählte, war ganz dasselbe, was ich ihr hätte vom Charakter der Prinzessin di Lauria berichten können –

Lindas Vater oder Herr von Romeiro wollte nie er scheinen, und doch ist er noch nicht verschwunden, wie ich höre –

Lindas Mutter hieß sich eine Römerin und eine Verwandte des Fürsten di Lauria –

In Spanien, wo ich zweimal war und fragte, wollte nirgends der Name einer Cesara wohnen –

Trillionen Spinnenfäden der Wahrscheinlichkeit spinnen sich zum Ariadnens-Strick im Labyrinth –

Eine neue unbekannte Schwester wird dir im gotischen Hause mit Schleiern und in Spiegeln vorgeführt –

Und zwar wird vom redlichen Kahlkopf – dem fast mehr zum Christuskopf fehlt als die Locken, und den ich im Herbste einen Hund geheißen – dirs vorgespiegelt aus wirklichen Spiegeln –

Gedachter Anubis- oder Kahl-Kopf stand nun (der Himmel und der Teufel wissen am besten warum, aber ich glaub' es) als Vater des Todes auf Isola bella, lag als Handwerkspursch am Fürstengrabe und in jedem Hinterhalt, um dir deine Schwester zur Frau zu geben – – falls ichs litte; aber sobald ich jetzt zugesiegelt, brech' ich nach Spanien auf und in Lindas Bilderkabinett ein, suche nach einem gewissen Bilde ihrer Mutter, dessen Stelle und Zimmer ich mir deutlich angeben lassen – und ist es das Bild von mir: so ist alles richtig, und der Donner kann in alles schlagen –

Der Kahlkopf ist schon ein Fünfviertelsbeweis – er gehört unter die wenigen Menschen, die schon, kaum Spinnen-dick, in ihrer Mutter Leib aus Bosheit pißten –

Vielleicht treff' ich deinen Oheim, der mich hier, wie er sagte, wiedererkannte und der wirklich nach Valencia abgereiset ist201

O Himmel, wenn mirs gelänge (aber warum nicht, da meine Zunge von Eisen bleibt und dieses Blatt in Eisen kommt, beim[704] redlichen Wehrfritz, dessen Herz ein alter Deutscher ist, und mit Recht stellt in der Jungfer Europa Deutschland das Herz vor), ich schreibe, wenn mirs gelänge, daß ich anbrennte an einem verfluchten Geheimnis eine Strohtür, risse alles auf, ein und weg, blinde Tore und Opfertore, und ein starkes Licht fiele herein auf die tapfere Linda und den tapfern Jüngling, anleuchtend den nahen Kahlkopf (vielleicht noch jemand), der eben in der Dunkelheit mit zwei langen blanken Okulier- und Schlachtmessern in die Geschwister schief herunterstechen will – –

Wenn mir das einmal gelänge, nämlich im Erntemonat – denn da käm' ich in Pestitz wieder an und hätte das Bildnis in der Tasche –, und ich hätte mich und zwei Unschuldige tapfer gerächt an Schuldigen: dann würd' ich mirs für sehr erlaubt halten, an meinen Kopf zu greifen und zu sagen: a bas, gare, Kopf weg! Wozu gewiß – da ja von keiner dummen Abtreibung des Leibes durch ein Werther-Pulver die Rede ist, sondern nur vom Vorsatze, das, was Sachverständige meinen Verstand nennen, gelegentlich zu verlieren – meine Freunde stimmen müßten, weil sie mich noch hätten (der Körper wird dabei anbehalten), obwohl als das Nachtstück eines Menschen, weil ich dann einen vernünftigen Diskurs so gut über alles (nur den Fix-Wahn greife keiner an) führen wollte als einer und dabei einen gesitteten guten Spaß (wahrlich die wahre Würze) einzustreuen gewiß nicht vergäße und weil der Staat mich Tag und Nacht gerüstet und gesattelt finden sollte, ihm nach dem Beispiele der Berliner Irrhäusler, die einmal beim Feuer im Haus am besten löschten und retteten, zu dienen und zu Hülfe und zupasse zu kommen, wenn die dunkeln Intervalle seiner andern Staatsdiener nicht anders auszufüllen wären als mit unsern hellen.

Lebe wohl! Ich brech' auf. Die Welt lacht mich heiter an. In Spanien find ich ein Stück Jugend wieder – wie in diesem Schreiben.

Schoppe.


Apropos! Stieß dir der Kahlkopf nirgends auf? – Ich kann dir nicht sagen, wie ich täglich jetzt arbeite, um mir vor dem Wunsche, ihn künftig in der Tollheit niederzustoßen, wahren[705] Abscheu und Greuel im voraus einzuprägen und eigen zu machen, damit nachher die etwanige Tat mir nicht als eine Spätfrucht des vorigen vernünftigen moralischen Zustandes könne herüber zugerechnet werden in den andern.


Vernichte diesen Brief


*


Als Albano die feurigen Augen von dem Briefe aufhob, stand er vor Lilar unter einem hochgewölbten Triumphbogen, und die Sonne ging in Pracht hinter dem Elysium unter. »Kennst du mich nicht?« fragte leise neben ihm Linda in Reisekleidern, weinend in heller Liebe und Wonne – und Julienne drängte sich, beiden Vorsicht zuwinkend, aus dem Eingangsgebüsch des Flötentals hervor und rief zum listigen Scheine: »Linda, Linda, hörst du denn die Flöten nicht?« – Und Albano hatte den schweren Brief vergessen.

199

Oder Püster, die bekannte altdeutsche Götzenstatue voll Löcher, Flammen und Wasser.

200

Des Kahlkopfs, der ihm nach 14 Monaten Wahnsinn prophezeiete.

201

Der Oheim hatte wieder gelogen, denn er war, wie man aus diesem Bande weiß, vorher nach Rom gegangen, wo er dem Ritter und der Fürstin die Pestitzer Briefe übergeben.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 3, München 1959–1963, S. 691-706.
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Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

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Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

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