Nr. 12. Unechte Wendeltreppe

[634] Reiterstück


Früh am betaueten blauen Morgen stand der Notar schon unter der Haustüre reit- und reisefertig. Er hatte statt des Schanzloopers den guten gelben Sommer- und Frühlings-Rock von Nanking am Leibe, weil er als Universalerbe mehr aufwenden konnte, einen runden weißen braungeflammten Hut auf dem Kopf, die Reitgerte in der Hand und Kindestränen in den Augen. Der Schulz rief halt, sprang zurück und sogleich wieder her mit Kaiser Maximilians Notariatsordnung, die er ihm in die Tasche steckte. Drüben vor dem Wirtshause stand der knappe flinke Student Vult im grünen Reisehut und der Wirt, welcher der Familien-Antichrist und ein Linker war. Das Dorf wußte alles und paßte. Es war des Universalerben erster Ritt in seinem Leben. Veronika – die ihm den ganzen Morgen Lebensregeln für Eröffnung und Erfüllung des Testaments vorgezeichnet hatte – zerrete den Schimmel am langen Zügel aus dem Stall. Walt sollte hinauf.

Über den Ritt und Gaul wurde von der Welt schon viel gesprochen – mehr als ein Elterleiner versuchte davon ein leidliches Reiterstück zu geben, lieferte aber freilich mehr die rohen Farbhölzer auf die Leinwand als deren feinsten Absud – auch ist das mein erstes Tierstück von Belang, das ich in die Gänge dieses Werks aufhänge und festmache – –: ich werde demnach einige Mühe daran wenden und die größte Wahrheit und Pracht.

In der Apokalypsis stand so lang ein alter verschimmelter Schimmel, bis ihn der Fleischer bestieg und aus ihr in die Zeit herüberritt. Der poetische Lenz liegt weit hinter dem Gaul, wo er eignes Fleisch statt des fremden trug und mit eignen Haaren den Sattel auspolsterte; er hat das Leben und den Menschen dieses reitende Folterpferd der wunden Natur – zu lange getragen. Der aus zitternden Fühlfaden gesponnene Notar, der den Tag vorher im Stalle um dessen Keilschrift der Zeit, um die Stigmen von Sporen, Sattel und Stangengebiß, herumging, hätte für Geld keinen Finger in die Narben legen können, geschweige am Tage[634] darauf die Knuten-Schneide oder den Sporendolch. Hätte doch der Himmel dem Konföderations-Tiere des Menschen nur irgendeinen Schmerzenslaut beschert, damit der Mensch, dem das Herz nur in den Ohren sitzt, sich seiner erbarmte. Jeder Tierwärter ist der Plagegeist seines Tiers; indes er gegen ein anderes, z.B. der Jäger gegen das Pferd, der Fuhrmann gegen den Jagdhund, der Offizier gegen Leute außer dem Soldatenstande, ein wahres weichwolliges Lamm ist.

Dieser Schimmel betrat am Morgen die Bühne. Der Notar hatte den Tag vorher den Gaul an eine seiner Gehirnwände festgebunden und – wie die rechte Seite des Konvents und des Rheins – sich immer die linke vorgestellt, um daran aufzusteigen; – in alle Stellungen hatt' er in seinen vier Gehirnkammern das Schulroß gedreht, geschwind es links bestiegen und so sich selber völlig zugeritten für den Gaul. Dieser wurde gebracht und gewandt. Gottwalts Auge blieb fest an den linken Steigbügel gepicht – aber sein Ich wurd' ihm unter den Händen zu groß für sein Ich – seine Tränen zu dunkel für sein Auge – er besteige, merkt' er, mehr einen Thron als einen Sattel – die linke Roßseite hielt er noch fest; nur kam jetzt die neue Aufgabe, wie er die eigne linke so damit verknüpfen könnte, daß beide die Gesichter vorwärts kehrten. –

Wozu die teuflische Qual! Er probierte, wie ein preußischer Kavallerist, rechts aufzuspringen. Pfiffen Leute wie Vult und der Wirt seine Probe aus, so zeigten sie weiter nichts, als daß sie nie gesehen hatten, wie emsig preußische Kavalleristen auf dem rechten Bügel aufsitzen lernen, um gesattelt zu sein, falls einmal der linke entzweigeschossen wird.

Auf dem Sattel hatte nun Walt als Selbst-Quartiermeister das seinige zu tun, alles zu setzen – sich gerade und sattelfest –, auszubreiten – die Finger in die Zügel, die Rockschöße über den Pferderücken –, einzuschichten – die Stiefel in die Steigeisen –; und anzufangen – den Abschied und Ausritt.

An letztern wollte der gesetzte Schimmel nicht gerne gehen. Walts delikates Rückwärtsschnalzen mit der Gerte war dem Gaule so viel, als wichse man ihn mit einem Pferde-Haar. Ein[635] paar mütterliche Handschläge auf den Nacken nahm er für Streicheln. Endlich kehrte der Gerichtsmann eine Heugabel um und gab ihm mit dem Stiel auf den Hinterbacken einen schwachen Ritterschlag, um damit seinen Sohn als Reiter aus dem Dorfe in die Welt zu schicken, sowohl in die gelehrte als schöne. Das war dem Tier ein Wink, bis an den Bach vorzuschreiten; hier stand es vor dem Bilde des Reiters fest, kredenzte den Spiegel, und als der Notar droben mit unsäglicher Systole und Diastole der Füße und Bügel arbeitete, weil das halbe Dorf lachte, und der Wirt ohnehin, glaubte der Harttraber seinen Irrtum des Stehens einzusehen, und trug Walten von der Tränke wieder vor die Stalltüre hin, stört' aber die Rührungen des Reiters bedeutend.

»Wart nur!« sagte, ins Haus laufend, der Vater, kam wieder und langte ihm eine Büchsenkugel zu: »Setz ihm die ins Ohr«, sagt er, »so will ich kavieren, er zieht aus, weil doch das Blei die Bestie kühlen muß, glaub' ich.«

Kaum war das Rennpferd, wie ein Geschütz, mit dem Kopf gegen das Tor gerichtet und das Ohr mit der Schnellkugel geladen: so fuhr es durchs Tor und davon; – und durch das mit Augen bestellte Dorf und vor des Kandidaten Glückwunsch flog der Notarius vorüber, oben sitzend, mit dem Gießbuckel des ersten Versuchs, als ein gebogenes Komma. »Weg ist er!« sagte Lukas und ging zu den Heuschobern hinaus. Still wischte die Mutter mit der Schürze das Auge und fragte den Großknecht, worauf er noch warte und gaffe. Nur ein weinendes Auge hatte Goldine mit dem Tuche bedeckt, um mit dem andern nachzublicken, und sagte: »es geh' ihm gut!« und ging langsam in sein leeres Studierstübchen hinauf.

Vult eilte dem reitenden Bruder nach. Als er aber vor dem Maienbaume des Dorfes vorüberging und am Fenster die schönäugige Goldine und im Hausgärtchen die einsame Mutter erblickte, die mit tropfenden Augen, noch im Sitzen gebückt, große Bohnen steckte und Knoblauch band: so überströmte seines Bruders warmes mildes Blut plötzlich sein Herz, und er lehnte sich an den Baum und blies einen Kirchenchoral, damit beider Augen sich süßer löseten und ihr Gemüt aufginge; denn er hatte[636] an beiden den kecken scharfen Seelen-Umriß innigst wert gewonnen.

Es war schade, daß der Notarius, der samt dem Schimmel auf Wiesenflächen zwischen grünschimmernden Hügeln, im blauen wehenden Tage flog, es nicht wußte, daß hinter ihm sein Bruder sein fernes Dörfchen und gerührte liebe Herzen mit Echos erfülle. Oben auf einem Berge legte Walt sich auf den Hals des Flugpferds, um aus dem Ohr die Druckkugel zu graben. Da er sie erwischt hatte: so trat das Tier wieder gesetzter einher als ein Mensch hinter einer Leiche; und nur der Berg schob es herunter, und in der Ebene ging es, wie ein silberner glatter Fluß, unmerklich weiter.

Jetzt genoß der zur Ruhe gesetzte Notarius ganz seine sitzende Lebensart auf dem Sattel und den weiten singenden Tag. Sein hoher Aufenthalt auf der Sattelwarte stellte ihm, diesem ewigen Fußgänger, alle Berge und Auen unter ihn, und er regierte die glänzende Gegend. An einer neuen Anhöhe stieg ein Wagenzug von sieben Fuhrleuten auf, den er gern zu Pferde eingeholt und überritten hätte, um nicht in seinen Träumen durch ihr Umschauen gestört zu werden; aber am Hügel-Fuße wollte der gerittene Blondin so gut die Natur genießen – die für ihn in Gras bestand – als der reitende und stand sehr fest. Walt setzte sich zwar anfangs dargegen und stark, wirkte auf viele Seiten des Viehs vor- und rückwärts; aber da es auf dem Feststehen bestand, ließ ers fressen und setzte sich selber herum auf dem Sattel, um die ausgedehnte Natur hinter sich mit seligen Blicken auszumessen und gelegentlich diese sieben spöttischen Fuhr-Hem den so weit vorauszulassen, daß ihnen nicht mehr unter die Augen nachzureiten war.

Am Ende kommt doch eines, ein Ende –, der Bereiter wünschte am Hügelfuße, als er sich wieder vorwärts gesetzt, sich herzlich von der Stelle und etwa hinauf; denn die sieben Plejaden mußten nun längst untergegangen sein. Auch sah er den netten Studenten nachkommen, der das Besteigen gesehen. Aber setzte irgend jemand besondern Wert auf Ernte-Ferien, so tats der Schimmel –, vor solcher Anhöhe vollends stand er im Drachenschwanz, im[637] aufsteigenden Knoten – die Zäume, die Fußbälle auf der Erde, alle brachten ihn nicht vorwärts. Da nun der Notar auch die lebendige Quecksilberkugel jetzt nicht wieder mit diesem fixierten weißen Merkurius verquicken wollte – wegen der unglaublichen Mühe, sie aus dem Ohr zu fischen –: so saß er lieber ab und spannte sich seiner eigenen Vorspann vor, indem er sie durch den Flaschenzug des Zügels wirklich hinaufwand. Oben blühte frische Not: hinter sich sah er eine lange katholische Wallfahrt nachschleichen, gerade vor sich unten im langen Dorfe die böse Fuhr-Sieben trinken und tränken, die er einholen mußte, er mochte wollen oder nicht.

Es grünte ihm auf der andern Seite Hoffnung, aber fruchtlos; er hatte Aussichten, durch des Kleppers Allegro ma non troppo den haltenden Fuhrleuten ziem lich vorzusprengen; er ritt erheitert in starkem Schritt den Berg hinab, ins Dorf hinein; – aber da kehrte das Filial-Pferd ohne sonderliches Disputieren ein, es kannte den Wirt, jeder Krug war seine Tochter-, jeder Gasthof seine Mutterkirche. »Gut, gut«, sagte der Notar, »anfangs wars ja selber mein Gedanke« – und befahl unbestimmt einem Unbestimmten, dem Gaule etwas zu geben. Jetzt kam auch der flinke Grünhut nach. Vults Herz wallete auf vor Liebe, da er sah, wie der erhitzte schöne Bruder von der schneeweißen Bogenstirn den Hut lüftete, und wie im Morgenwehen seine Locken das zarte, mit Rosenblute durchgossene kindliche Gesicht anflatterten, und wie seine Augen so liebend und anspruchlos auf alle Menschen sanken, sogar auf das Siebengestirn. Gleichwohl konnte Vult den Spott über das Pferd nicht lassen: »Der Gaul«, sagt' er, mit seinen schwarzen Augen auf den Bruder blitzend und die Mähne streichelnd, »geht besser, als er aussieht; wie ein Musenpferd schwang er sich über das Dorf.« – »Ach das arme Tier!« sagte Walt mitleidig und entwaffnete Vulten.

Sämtliche Passagiere tranken im Freien – die Pilgrime gingen singend durchs Dorf – alle Tiere auf dem Dorfe und in der Luft wieherten und kräheten vor Lust – der kühlende Nordost durchblätterte den Obstgarten und rauschte allen gesunden Herzen zu: weiter hinaus ins freie weite Leben! – »Ein sehr göttlicher Tag«,[638] sagte Vult, »verzeihen Sie, mein Herr!« Walt sah ihn blöde an und sagte doch heftig: »O gewiß, mein Herr! Die ganze Natur stimmt ordentlich ein jubelndes herzerfrischendes Jagdlied an, und aus den blauen Höhen tönen doch auch sanfte Alphörner herunter.«

Da hingen die Fuhrleute die Gebisse wieder ein. Er zahlte schnell, nahm den Überschuß nicht an und saß im Wirrwarr auf, willens, allen vorzufliegen. Es ist ein Grundsatz der Pferde, gleich den Planeten nur in der Sonnen-Nähe eines Wirtshauses schnell zu gehen, aber langsam daraus weg ins Aphelium; der Schimmel heftete seine vier Fuß-Wurzeln als Stifte eines Nürnberger Spielpferdes fest ins lackierte Brett der Erde und behauptete seinen Ankerplatz. Der bewegte Zaum war nur sein Ankertau fremde leidenschaftliche Bewegung setzt' ihn in eigne nicht – umsonst schnalzte der leichte Reiter in grün-atlassener Weste und mit braunen Hutflammen, er konnte ebensogut den Sattel über einen Bergrücken geschnallet haben und diesen spornen.

Einige der sanftesten Fuhrleute bestrichen die Hinterbeine des Quietisten; er hob sie, aber ohne vordere. Lange genug hatte nun Walt auf sein Mitleiden gegen das Vieh gehört; jetzt warf er ohne weiters dem Trauerpferd den Schusser ins Ohr – die Kugel konnte die Massa, den Queue fortstoßen ins grüne Billard. Walt flog. Er rauschte schnell dicht hinter der Hühner-Kette von Pilgern, die scheu auseinanderspritzte, bis leider auf eine an der Spitze gehende taube Vorsängerin, die Reiten und Warnen nicht vernahm – umsonst zupften seine sterbenden Finger voll Todesnot im Ohr und wollten Kugelzieher sein – seine fliegende Kniescheibe rannte an ihr Schulterblatt und warf sie um – sie erstand schleunigst, um frühe genug, unterstützt von allen ihren Konfessions-Verwandten, ihm über alle Beschreibung nachzufluchen. Weit hinter dem Fluchen bracht' er nach langer Ballotage die Glücks- und Unglückskugel zwischen dem Daumen und Zeigefinger heraus, teuer schwörend, nie dieses Oberons-Horn mehr anzusetzen.

Wenn er freilich jetzt die Bestie wie eine Harmonika traktierte, nämlich langsam – so daß jeder die größten Schulden auf ihr absitzen[639] konnte, sogar ein Staat, wenns anders für diesen einen andern Schuldturm geben könnte außer dem Babelturm –: so wär' es wohl gegangen, hätt' er sich nicht umgedreht und gesehen, was hinter seiner Statua equestris und curulis zog; ein Heer, sah er, setz' ihm hitzig mit und ohne Wagen nach, Pilger voll Flüche, sieben weiße Weisen voll Spaß und der Student. Der menschliche Verstand muß sehr irren oder an dem, was er nachher tat, hatte die Vermutung aus dem Vorigen großen Teil, daß der nachschwimmende Hintergrund nicht nur seinen Durchgang durch ein Rotes Meer erzwingen, sondern daß sogar das Meer selber mit ihm gehen würde; weil er auf seinem lebendigen Laufstuhl niemand zu entrinnen vermochte. Schon das bloße Zurückdenken an den Nachtrab mußte wie Lärmtrommeln in die schönsten leisen Klänge fahren, die er jetzt am blauesten Tage aus den Himmels-Sphären seiner Phantasie leicht herunterhören konnte.

Deshalb ritt er geradezu aus der Landstraße über Wiesen in eine Schäferei hinein, wo er halb gleichgültig gegen lächerlichen Schein, halb mit errötender Ruhmliebe – für Geld, gute Worte und sanfte Augen – es sich von der Schäferin erbat, daß dem Schimmel so lange – denn er verstand nichts von Roß-Diätetik – Heu vorgesetzet würde, bis etwan die Feinde sich eine Stunde voraus und ihn mathematisch gewiß gemacht hätten, daß sie nicht zu ereilen wären, gesetzt auch, sie fütterten zwei Stunden.

So neu-selig und erlöset setzt' er sich hinter das Haus unter eine schwarzgrüne Linde in den frischen Schatten-Winter und tauchte sein Auge still in den Glanz der grünen Berge, in die Nacht des tiefens Äthers und in den Schnee der Silberwölkchen. Darauf stieg er nach seiner alten Weise über die Gartenmauer der Zukunft und schauete in sein Paradies hinein: welche volle rote Blumen und welches weiße Blütengestöber füllte den Garten!

Endlich – nach einer und der andern Himmelfahrt – machte er drei Streckverse, einen über den Tod, einen über einen Kinderball und einen über eine Sonnenblume und Nachtviole. Kaum wollte er, da das Pferd Heu genug hatte, von der kühlen Linde fort; er entschloß sich, heute nicht weiter zu reisen als nach dem sogenannten Wirtshaus zum Wirtshaus, eine kleine Meile von[640] der Stadt. Indes eben in diesem Wirtshaus hatten alle seine Feinde um 1 Uhr halt und Mittag gemacht; und sein Bruder war dageblieben, um ihn zu erwarten, weil er wußte, daß die Landstraße und der Schimmel und Bruder durch den Hof liefen. Vult mußte lange passen und seine Gedanken über die nächsten Gegenstände haben, z.B. über den Wirt, einen Herrnhuter, der auf sein Schild nichts weiter malen lassen als wieder ein Wirtshausschild mit einem ähnlichen Schild, auf dem wieder das gleiche stand; es ist das die jetzige Philosophie des Witzes, die, wenn der ähnliche Witz der Philosophie das Ich-Subjekt zum Objekt und umgekehrt macht, ebenso dessen Ideen sub-objektiv widerscheinen lässet; z.B. ich bin tiefsinnig und schwer, wenn ich sage: Ich rezensiere die Rezension einer Rezension vom Rezensieren des Rezensierens, oder ich reflektiere auf das Reflektieren auf die Reflexion einer Reflexion über eine Bürste. Lauter schwere Sätze von einem Widerschein ins Unendliche und einer Tiefe, die wohl nicht jedermanns Gabe ist; ja vielleicht darf nur einer, der imstande ist, denselben Infinitiv, von welchem Zeitwort man will, im Genitiv mehrmals hintereinander zu schreiben, zu sich sagen: ich philosophiere.

Endlich um 6 Uhr hörte Vult, der aus seiner Stube sah, den Wirt oben aus dem Dachfenster rufen: »He, Patron, scher' Er sich droben weg! – Will Er ins Kuckucks Namen wegreiten?!« – Das Wirtshaus stand auf einem Birken-Hügel. Gottwalt war seitwärts aus dem Wege an den herrnhutischen Gottesacker hinaufgeritten, aus welchem der Schimmel Schoten aus den Staketen zog, während der Herr das dichterische Auge in den zierlichen Garten voll gesäeter Gärtner irren ließ. Wiewohl er den Kalkanten der groben Pedalstimme nicht durch die Birken sehen konnte: so zog er doch – da den Menschen überhaupt nach einer Grobheit feinstes Empfinden schwer verfolgt – sogleich den rupfenden Rüssel aus dem Spaliere auf und gelangte bald mit den Schoten im nassen Gebisse vor der Stalltür an.

Er tat an den sehr ernst unter seiner Türe stehenden Wirt von fernen – umsonst wollt' er gar vor ihn hinreiten – barhaupt am Stalle die Frage, ob er hier mit seinem Gaul logieren könne.[641]

Ein ganzer heller Sternenhimmel fuhr Vulten durch die Brust und brannte nach.

Auch der Wirt wurde sternig und sonnig; aber wie wär' er – sonst hätt' er höflicher aus dem Dache gesprochen – darauf gekommen, daß ein Passagier zu Pferde in dieser Nähe der Stadt und Ferne der Nacht ihn mit einem Stillager beehren werde. Als er wahrnahm, daß der Passagier ein besonderes Vieleck oder Dreieck mit dem rechten Beine über dem Gaule absitzend beschrieb, und daß er die schweren, mit einem organisierten Sattel behangenen Schenkel ins Haus trug, ohne weiter nach dem Tiere oder Stalle zu sehen: so wußte der Schelm sehr gut, wen er vor sich habe; und lachte zwar nicht mit den Lippen, aber mit den Augen den Gast aus, ganz verwundert, daß dieser ihn für ehrlich und es für möglich hielt, er werde den Hafer, den er morgen in die Rechnung eintragen konnte, schon heute dem Schimmel vorsetzen.

»Nun geht«, sagte Vult bildlich, der mit Herzklopfen die Treppe hinab dem Bruder entgegenging, »ein ganz neues Kapitel an.« Unbildlich geschiehts ohnehin.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 2, München 1959–1963, S. 634-642.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Flegeljahre
Flegeljahre; Eine Biographie
Flegeljahre: Eine Biographie
Flegeljahre. Eine Biographie
Flegeljahre: Eine Biographie (insel taschenbuch)
Flegeljahre: Roman (Fischer Klassik)

Buchempfehlung

Grabbe, Christian Dietrich

Herzog Theodor von Gothland. Eine Tragödie in fünf Akten

Herzog Theodor von Gothland. Eine Tragödie in fünf Akten

Den Bruderstreit der Herzöge von Gothland weiß der afrikanische Anführer der finnischen Armee intrigant auszunutzen und stürzt Gothland in ein blutrünstiges, grausam detailreich geschildertes Massaker. Grabbe besucht noch das Gymnasium als er die Arbeit an der fiktiven, historisierenden Tragödie aufnimmt. Die Uraufführung erlebt der Autor nicht, sie findet erst 65 Jahre nach seinem Tode statt.

244 Seiten, 9.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon