[842] Wirtshäuser – Reisebelustigungen
Der Notarius, der unter die Menschen gehörte, welche wohl jahrelang daheim sparen können, aber nicht unterwegs – hingegen andere kehren es gerade um –, foderte keck sein Nößel[842] Landwein. Dabei aß und saß er und beobachtete vergnügt die Wirtsstube, den Tisch, die Bänke und die Leute. Als einige Handwerkspursche ihren Kaffee bezahlten: bemerkte er sehr wahr, daß die Milchtöpfchen in Franken ihren Gießschnabel dem Henkel gegenüber haben, in Sachsen aber links oder gar keinen. Mit gedachten Purschen ging seine Seele heimlich auf Reisen. Gibt es etwas Schöneres als solche Wanderjahre in der schönsten Jahrszeit und in der schönsten Lebenszeit, bei solchen Diätengeldern, die man unterwegs bei jedem Meister erhebt, und bei solcher Leichtigkeit, in die größten Städte Deutschlands ohne alle Reisekosten zu gehen, und sobald kaltes nasses Wetter einbricht, sogar auf einem Arbeitsstuhl häuslich zu nisten und zu brüten wie der Kreuzschnabel im Winter? – »Warum (schreibt sein Tagebuch Vulten) müssen die armen Gelehrten nicht wandern, denen das Reisen und das Geld dazu gewiß ebenso nötig und dienlich wäre als allen Gesellen?«
»Draußen im Reich«, sagte stets Walts Vater, wenn er bei Schneegestöber von seinen Wanderjahren erzählte; und daher lag dem Sohne das Reich in so romantischem Morgentau blitzend hin als irgendeine Quadratmeile von Morgenland; in allen Wandergesellen verjüngte sich ihm die väterliche Vergangenheit.
Jetzt fuhr ein Salzkärrner mit einem Pferde vor, trat ein, wusch sich in einer ganz fremden Stube öffentlich und trocknete sich mit dem an einem Hirschgeweih hängenden Handtuch ab, ohne noch für einen Kreuzer verzehrt oder begehrt zu haben. Walt bewunderte den kräftigen Weltmann, ob er gleich nicht fähig gewesen wäre, sich nur unter vier Augen die seinigen zu waschen. Dennoch exerzierte er – da er in etwas getrunken – einige Wirtshaus-Freiheiten und ging in der Stube wohlgemut umher, ja auf und ab.
Ob er gleich nicht imstande war, unter einer fremden Stubendecke den Hut aufzubehalten – sogar unter seiner sah er ungern bedeckt aus dem Fenster aus Artigkeit –: so hatt' er doch seine Freude daran, daß andere Gäste ihren aufhatten und sonst überall von den herrlichen akademischen Freiheiten und Independenzakten[843] der Wirtsstuben den besten Gebrauch machten, es sei, daß sie lagen oder schwiegen oder sich kratzten. Ihm schienen die Wirtsstuben ordentlich als hübsche geräumliche, aus abgebrochenen eingeäscherten Reichsstädten unversehrt herausgehobene reichsunmittelbare Diogenes-Fässer vorzukommen, als hübsche aus Marathons-Ebenen ausgestochne Grünplätze, vom Keller grünend gewässert.
Es wurde schon erwähnt, daß er auf und ab ging; aber er ging weiter und – denn das Wirtshausschild setzt' er als Achilles-Schild vor, den Weinbecher als Minervens-Helm auf- schrieb unter aller Augen ein und das andere Texteswort in seine Schreibtafel, um, wenn er allein wäre abends im Quartier, darüber zu predigen. Auch trug er ein, daß auf dem Schilde des Wirtshäuschens ein Schilderhäuschen stand.
Der Mut der Menschen wächset leicht, ist er nur herausgekeimt; – Kommende grüßten leise, Gehende laut; der Notarius dankte beiden lauter. Er war so freudig bei einem Freudenbecher, den nicht einmal sächsischer Landwein hätte wässern können. Er liebte jeden Hund, und wünschte von jedem Hund geliebt zu sein. Er knüpfte deswegen mit dem Wirtsspitze – um nur etwas für das Herz zu haben – ein so enges Band von Bade-Bekanntschaft und Freundschaft an, als ein Stückchen Wursthaut bei solchen Wesen sein kann. Für warmherzige Neulinge sind wohl stets die Hunde die Hundssterne, durch deren Leitung sie zur Wärme der Menschen zu gelangen suchen, sie sind sozusagen die Saufinder und Trüffelhunde tief versteckter Herzen. »Spitz, gib die Pfote«, rief der Wirt in Härmlesberg. Spitz, oder der Spitz – denn der Gattungsname ist, was bei dem Menschen selten, in Deutschland und in Haßlau zugleich der persönliche, ausgenommen in Thüringen, wo die Spitze Fixe heißen – Spitz drückte dem Notar die Hand, soweit er wußte.
»Gebt dem Herrn auch eine Patschhand, Bestien«, rief der Wirt, als drei kleine, armlange, geputzte Mädchen von einerlei Statur und Physiognomie an der Hand einer jungen schönen, aber schneeblassen Mutter hereintraten aus der Schlafkammer. »Es sind Drillinge und sollen zu ihrer Frau Patin«, sagte der[844] Wirt. Gottwalt schwört im Tagebuch, daß etwas »Allerliebsteres, Herzinniglicheres« es gar nicht gebe, als drei so liebe hübsche, niedliche Mädchen von einerlei Höhe mit ihren Schürzchen und Häubchen und runden Gesichterchen sind, wobei nur zu bedauern sei, daß es Drillinge gewesen, und nicht Fünflinge, Sechslinge, Hundertlinge. Er küßte sie alle vor der ganzen Wirtsstube kurz und wurde rot; – es war halb, als hab' er die zarte bleiche Mutter mit der Lippe angerührt; auch sind ja die guten Kinder die schönste Wesen- und Jakobsleiter zur Mutter. Dabei sind solche winzige Mädchen für Notarien, welche ohne Mut und ohne Elektrisier- und Sprachmaschine für erwachsene Mädchen dazustehen fürchten, ordentlich die schönen Ableiter und Zuleiter, geschenkte Rechenknechte für den Augenblick; – man wundert sich fröhlich und heimlich, daß man ein Ding wie ein Mädchen so dreist umhalset. Walt wurde der Kleinen später satt als sie seiner. Er war ja dem Drilling – als eigner Zwilling – viel verwandter als alle Gäste in der Stube. Er beschenkte sie geldlich zur höchsten Freude der Mutter. Dafür bekam er drei Küsse, die er lange zurücklieferte, nur bei sich betrübt, daß ein Tauschhandel solcher Artikel selber so früh dem Tausche der Zeit heimfalle. »Ei, Herr guter Harnisch!« sagte der Wirt. Walt wunderte sich über die Kenntnis seines Namens, aber nicht ohne Vergnügen, ja mit einiger Hoffnung, daß es, nach einem solchen Anfange zu urteilen, wohl noch seltsamere Avantüren zu erleben gebe. Er wollte daher lieber nicht fragen, wie und wo und wann, aus Furcht, um seine Hoffnung zu kommen.
Mit Wollust sah er zu, wie der Vater sich von den Kindern Äpfel abkaufen ließ, um Walts Geld von ihnen zu haben – und wie die Mutter dem ersten Drilling Brot zulangte, damit er wie der davon furchtsam eine Ziege unter dem Fenster abknuppern ließe – und wie der zweite herzhaft in einen Apfel einbiß, ihn dem dritten zum Beißen hinhielt, und wie beide ihn wechselnd anbissen und reichten und jedesmal lächelten. »O wär' ich nur ein wenig allmächtig und unendlich«, dachte Walt, »ich wollte mir ein besonderes Weltkügelchen schaffen und es unter die mildeste Sonne hängen, ein Weltchen, worauf ich nichts setzte als lauter[845] dergleichen liebe Kinderlein; und die niedlichen Dinger ließ' ich gar nicht wachsen, sondern ewig spielen. Ganz gewiß, wenn ein Seraph himmelssatt wäre oder sonst die goldnen Flügel hängen ließe, könnt' ich ihn dadurch herstellen, daß ich ihn einen Monat lang auf meine springende jubelnde Kinderwelt herabschickte, und kein Engel könnt', solange er ihre Unschuld sähe, seine eigene verlieren.«
Endlich rückten die Kinder, einander an den Händen zu führen befehligt, mit der Mutter aus, zur Frau Patin. Ein langer Tiroler mit grünem Hut, von welchem bunte Bänder flatterten, trat singend hinein. – Walt trank und brach auf. Schön war draußen die Welt, sogar noch in Härmlesberg. Im Dorfe wurde Zimmerholz mit lauten Schlägen zugehauen und, mit der roten Meßschnur angeschnellet, in gerade Formen abgeteilt; – alle Kinderszenen unter dem Bauholz seines Vaters kamen mit dem Rosenhonig der Erinnerung aus den Kindheitsrosen beladen zurück. Bleicherinnen mit großen Hüten begossen, leicht gebückt, die weißen Beete aus Flachs-Lilien. Aus dem Hut, den ein Mädchen an langen Bändern an der Hand herunterhängen ließ, floh er zu den blauen, gelben Glaskugeln eines Gartens auf und wiegte sich überall.
Jetzt kam er in die lange Gasse des aus Bergen wie aus Palästen zusammengereiheten Rosana-Tals hinein – Edens Gartenschlüssel wurden ihm vorn überreicht, und er sperrte es auf. »Der völlige Frühling ist da, der Orpheus der Natur, sagt' ich (schreibt er), denn die Wiesen blühen ja – die Dotterblumen stehen so dicht – den Heu-Bergen ziehen kleine Kinder mit großen Rechen kleine Hügel zu – oben aus den Wäldern der Berge ruft die Waldlerche und die Drosseln herrlich herunter – schöne Frühlingswinde ziehen durch das lange Tal – die Schmetterlinge und die Mücken halten ihren Kinderball, und der Rosennachtfalter oder das Goldvögelchen sitzt still auf der Erde – die Blätter der Kirschbäume glühen rot, wie ihre Früchte, nach, und statt blasser Blüten fallen schön bemalte Blätter – und im Frühling wie im Herbste zieht die Sonne am Spinnrade der Erde fliegendes Gewebe aus – – wahrhaftig es ist ein Frühling, wie ich noch selten einen gesehen.«[846]
Im hohen Äther waren zarte Streifen Silberblumen gewebt, und meilen-tief darunter zog langsam ein Wolken-Gebürge nach dem andern hin; – zwischen diese aufgebauete Kluft im Blau flog Walt und wandelte auf dem Himmelswege aus Duft leicht dahin und sah oben noch höher auf. Doch sah er auch herab ins heimliche Tal – sah den stillen glatten Fluß darin gleiten – Wälder bogen sich liebend von einem Bergrücken hinein, am andern glänzten Trauben und Weinbergshäuschen und reife Beete. Er fuhr wieder hernieder in sein langes Tal, wie auf einen Eltern Schoß.
»Wie geht es sich so schön in den Säulenhallen der Natur, auf dem Grün und zwischen dem Grün, in ewiger Begleitung des unendlichen Lebens!« sang er, ohne besondere Metrik, laut hin und sah sich um, damit niemand seine Singstimme belausche. »Wallet nur hin, ihr hübschen Schmetterlinge, und genießet die Honigwoche des kleinen Seins – ohne Hunger, ohne Durst30– ein schönes Sonnenleben – ein Liebessein – und die einzige Kammer des Herzens ist nur eine ewige Brautkammer der Liebe – beugt die Blumen – lasset euch wehen – spielt im Glanz und entzittert nur linde wie Blüten dem Leben.«
Er sah eine Herde stummer Nachtigallen, die sich zum nächtlichen Abzug rüsteten. »Wo fliegt ihr hin, ihr süßen Frühlings-Klänge? Sucht ihr die Myrte zur Liebe, sucht ihr den Lorbeer zum Sange? Begehrt ihr ewige Blüten und goldne Sterne? So fliegt nur ohne Stürme unter unsern Wolken fort und besingt die schönsten Länder, aber fliegt dann liebesbrünstig in unsern Frühling zurück und singt dem Herzen in schmachtenden Tönen das Heimweh nach göttlichen Ländern vor.
Ihr Bäume und ihr Blumen, ihr neigt euch hin und her und möchtet noch lebendiger werden und reden und fliegen, ich liebe euch, als wär' ich eine Blume und hätte Zweige; einstens werdet ihr höher leben.« Und da bog er einen tief ans Wasser sich neigenden Zweig gar ein wenig in die Wellen hinein.
Plötzlich hört' er in tiefer Ferne hinter sich eine Flöte durch[847] das Tal gleichsam auf dem Strom herunterkommen, dem Wehen entgegen. Die Ferne ist die Folie der Flöte; und ihm, der mehr ihren Ton als ihren Gang verstand, war keine nahe gute nur halb so lieb. Die Töne schienen nachzukommen, doch schwächer. Am Wege stand eine Steinbank, die ihn in dieser Einsamkeit schön an die Menschensorge für andere Menschen erinnerte. Er setzte sich ein wenig darauf, um gleichsam zu danken. Aber er legte sich bald ins hohe Ufer-Gras, um der guten Erde, die zugleich der Stuhl, der Tisch und das Bette der Menschen ist, näher zu sein, und regte sich wenig, um die im warmen stillen Uferwinkel spielenden Eintags-Fischchen nicht wegzuschrecken. Er liebte nicht einen und den andern Lebendigen, sondern das Leben, nicht einmal die Aussichten, sondern alles, die Wolke und den Gras-Wald der goldnen Würmchen, und er bog ihn auseinander, um ihren Aufenthalt zu sehen und ihre Brotbäumchen und ihre Lustgärtchen. Er hielt lieber mit Schreiben und Dichten auf seiner Schreibtafel innen, wenn ein buntes weiches Wesen über die glatte Fläche sich wegarbeitete, als daß er es weggeschnellet oder gar erdrückt hätte. »Gott, wie könnte man ein Leben töten, das man recht angesehen, z.B. nur eine halbe Minute lang«, fragt' er. Er hörte die Flöte, die gleich sam aus dem Herzen der stummen Nachtigallen sprach. Heiße Freudentropfen sog das dunkle Getön aus seinem von tausend Reizen überfüllten Auge. Jetzt schlugen ein paar große helle Tropfen aus einer warmen Flug-Wolke über ihm auf seine flache Hand herab – er sah sie lange an, wie er es sonst als Kind bei Regentropfen gemacht, weil sie vom hohen fernen heiligen Himmel gekommen. Die Sonne stach auf die weiße Haut und wollte sie wegküssen – er küßte sie auf und sah mit unaussprechlicher Liebe nach dem warmen Himmel auf, wie ein Kind an die Mutter. Er sang nicht mehr, seitdem er hörte und weinte. Endlich stand er auf und setzte seinen Himmelsweg fort, als er einige Schritte in der Nähe einen aus der Hutschnur eines Fuhrmanns entfallenen Zollzettel auf dem Wege gewahr wurde. In der Hoffnung, daß er dem Mann vielleicht nachkomme und ihn finde, hob er das Blättchen auf; weil ihm nichts Fremdes klein, wie nichts[848] Eignes wichtig vorkam, und weil sein poetischer Sturm leichter einen Gipfel bog als eine Blume. Wenn die Leidenschaft glutverworren auffliegt wie ein brennendes Schiff: so fliegt die zarte Dichtkunst des Herzens nur auf wie eine goldne Abendrot-Taube, oder wie ein Christus, der gen Himmel geht, weil er eben die Erde nicht vergisset.
Die Flöte floß ihm immer durch das Bette des Tales nach, ohne doch weder näherzukommen, wenn er stand, oder zurückzubleiben, wenn er lief.
Jetzt schwang sich die Landstraße plötzlich aus dem Tale den Berg hinauf. – Die Flöte drunten wurde still, da sich oben die Weltfläche weit und breit vor ihm auftat und sich mit zahllosen Dörfern und weißen Schlössern anfüllte und mit wasserziehenden Bergen und mit gebognen Wäldern umgürtete. Er ging auf dem Bergrücken wie auf einer langen Bogen-Brücke über die unten grünende Meeresfläche zu beiden Seiten hin.
Er war ganz allein und vor Ohren sicher, er pfiff frei daher figurierte Choräle, Phantasien und zuletzt alte Volksmelodien und hörte nicht einmal auf, wenn er einatmete. Gegen die Natur aller andern Blasinstrumente bleibt diese Mundharmonika, wie die andere, romantisch und süß in großer Nähe – keinen halben Fuß vom Ohre – und wie bei der Musik im Traum ist hier der Mensch zugleich der Instrumentenmacher, Komponist und Spieler, ohne im geringsten einen andern Lehrmeister dazu gehabt zu haben als wieder sich, den Schüler selber.
Immer betrunkner und glücklicher wurde Walt, als er auf dieser ersten Schäferpfeife, auf diesem ersten Alphorn fortblies, dem Morgenwinde entgegen, der die Töne in die Brust zurückwehte; und zuletzt wurd' ihm, als komme das verwehte Getön aus weiter Ferne her. Da er lange so ging und träumte – da er von dem Bergrücken bald links in die Hirtenstücken der Wiesen hinuntersah und zu den Kirchtürmen von Altengrün – von Joditz von Talhausen – von Wilhelmslust – von Kirchenfelda – und die Jagd- und Lustschlösser erblickte, deren beide Namen allein, wie romantische Zauberworte, alte Gegenden und Paradiese der Kinderseele erscheinen ließen – da er bald wieder rechts hinunterschauete[849] auf die zweite Ebene, worin sich der gerade Fluß seines Tales, die Rosana, freigeworden, auf einem blumigen Tanzplatz schlängelte und das Silber-Schild der Sonne trug und immer zeigte – und da er das Auge auf die Lindenstädter Gebürge warf, wo unter den hohen hellen Laubholzwäldern die dunklen Tannenwaldungen gleichsam nur als breite Schlagschatten zu stehen schienen – und da er in den Himmel sah, worin still und leicht die Wolke und die Taube flog – und da in den Wäldern des Tals die Herbstvögel schrien und in den Steinbrüchen einzelne Schüsse lang forthalleten: so schwieg er wie aus Andacht vor Gott und dachte dem, was er singen wollte, nach, als ob der Unendliche nicht auch das Denken höre; bis er mit leiser Stimme den Streckvers sang und wiederholte, den er schon längst gemacht:
»O wie ist der Himmel, wie die Erde so voll freudiger Stimmen! Viel schöner als dort, wo einstens der Chorus laut jammerte und nur Niobe schwieg und unter dem Schleier stand mit dem unendlichen Weh, jauchzen die Chöre im Himmel und auf Erden, und nur der Allselige ist still, und der Äther verschleiert ihn.«
Darauf sah er gen Himmel, nannte Gott zweimal du und schwieg lange; und hielt es für erlaubt, sogleich an Wina zu denken. Plötzlich kam ein altes vertrautes, aber wunderbares Mittagsgeläute aus den Fernen herüber, ein altes Tönen wie aus dem gestirnten Morgen dunkler Kindheit; siehe, meilen-tief in Westen sah er Elterlein hinter unzähligen Dörfern liegen und glaubte die alte Dorfglocke zu erkennen und Winas weißes Bergschloß, ja sogar das elterliche Haus. Er dachte voll Sehnen an seine fernen Eltern – an das Stilleben der Kindheit – und an die sanfte Wina, die ihm, auch im Stilleben ihrer Kindheit, einst die Aurikeln in die Hand gelegt – sein Auge hing an den östlichen Gebürgen im stillen Blau, hinter welche er wie hinter Klostermauern Wina als sanfte Nonne in Blumen ihres Klostergartens sinnend gehen ließ. Glocken aus mehreren Dörfern tönten zusammen der Morgenwind rauschte stärker – der Himmel wurde blauer und reiner – der bunte leichte Teppich des Erdenlebens breitete sich[850] über die Gegend aus und flatterte an den Enden, und Walt wohnte, wie ein Traum, nur in der Vergangenheit.
Er sang voll Seligkeit und nannte ihren Namen nicht: »Es zieht in schöner Nacht der Sternenhimmel, es zieht das Frühlings-Rot31, es schlägt die Nachtigall – und der Mensch schläft und merkt es nicht; – endlich geht sein Auge auf, und die Sonne sieht ihn an. O Lina, Lina, du gingst auch vorüber mit deinen Blumen – mit den süßen Tönen – und mit Liebe – aber mein Auge war blind; nun ist es aufgetan, allein die Blumen sind verwelkt, die Worte sind vergangen, und du glänzest hoch als Sonne.«
Hier kehrte er um vor dem lauten Wehen; er fand die Welt sonderbar still um sich; nur das Geläute klang allein und leise, wie Schalmeien der Kindheit, und er wurde sehr bewegt. Er lief wieder und sang immer heißer: »Nasses Auge, armes Herz, siehst du nicht den Himmel und den Lenz und das schöne Leben? Warum weinest du? Hast du was verloren, ist dir wer gestorben? Ach ich habe nichts verloren, mir ist nichts gestorben; denn ich habe noch nicht je geliebt, o laß mich weiter weinen!«
Zuletzt sang er nur einzelne Füße noch, ohne besondern Zusammenhang – er kam eiliger durch Beete – durch grüne Täler über klare Bäche – durch mittagsstille Dörfer – vor ruhendem Arbeitszeug vorbei – auf dem Zauberkreis der Höhen stand Zauberrauch – der Sturmwind war entflohen, und am klaren Himmel blieb das große unendliche Blaue zurück – Vergangenheit und Zukunft brannten hell und nahe, entzündet von der Gegenwart – der Blumenkelch des Lebens umschloß ihn buntdämmernd und wiegte ihn leise – und Pans Stunde ging an –
»Jetzt ergriff mich«, schreibt er in seinem Tagebuche, »Pans Stunde, wie allemal auf meinen Reisen. Ich möchte wohl wissen, woher sie diese Gewalt bekommt. Nach meiner Meinung dauert sie von 11 und 12 bis 1 Uhr; daher glauben die Griechen an die Pans-, das Volk an die Tags-Geisterstunde, auch die Russen32. Die Vögel schweigen um diese Zeit. Die Menschen schlafen neben[851] ihrem Arbeitszeug. In der ganzen Natur ist etwas Heimliches, ja Unheimliches, als wenn die Träume der Mittagsschläfer umherschlichen. In der Nähe ist es leise, in der Ferne an den Himmels-Grenzen schweifet Getön. Man erinnert sich nicht sowohl der Vergangenheit, sondern sie erinnert sich an uns und durchzieht uns mit nagender Sehnsucht; der Strahl des Lebens bricht in seltsam-scharfe Farben. – Allmählich gegen die Vesper wird das Leben wieder frischer und kräftiger.«
Ausgewählte Ausgaben von
Flegeljahre
|
Buchempfehlung
Pan Tadeusz erzählt die Geschichte des Dorfes Soplicowo im 1811 zwischen Russland, Preußen und Österreich geteilten Polen. Im Streit um ein Schloß verfeinden sich zwei Adelsgeschlechter und Pan Tadeusz verliebt sich in Zosia. Das Nationalepos von Pan Tadeusz ist Pflichtlektüre in Polens Schulen und gilt nach der Bibel noch heute als meistgelesenes Buch.
266 Seiten, 14.80 Euro
Buchempfehlung
Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.
430 Seiten, 19.80 Euro