[995] Erinnerungen
Der Notarius erwartete am Morgen nichts Geringeres und Gewisseres als einen Bedienten außer Atem, der ihn eilig vor das Schreibepult des Generals bestellte. Nichts kam. Der Mittelmann glaubt, die Obermänner stehen darum auf den höhern Sprossen der Staatsleiter, um besser die Nachsteiger zu überschauen; indes er selber das Auge weniger auf den Kopf seines Nachsteigers als auf den Hintern seines Vorsteigers heftet: und so alle auf und ab. Die mittleren Stände haben den höhern keine andere Vergeßlichkeit[995] schuld zu geben als die, welche die niedern wieder ihnen vorwerfen.
Die Dämmerung konnte Vult kaum erwarten, um ein Dämmerungsfalter zu werden und auszuflattern; Walt zählte ebenso stark darauf, um ein Dämmerungs-, ein Nacht- und ein Tagfalter zugleich zu sein, aber nur geistig und nur daheim.
Himmel! er wurd' es so sehr! Denn als Vult ganz spät und nicht in bester Laune nach Hause kam, fand er Walten hingegen darin, nämlich in bester – feurig schreitend – fast verjüngt, ja verkindlicht – so daß er ihn fragte: »Du hast, ich schwöre, heute Gesellschaft gehabt oder gesehen, und zwar die angenehmste, nur weiß ich nicht welche. (Er meinte heimlich Raphaela.) Oder hat der Magister Dyk gut geschrieben?«
»Ich erinnerte mich«, versetzte Walt, »den ganzen Abend fort, und zwar der Kindheit; denn sonst hatt' ich noch nichts.« – »Lehre mich diese Gedächtniskunst«, sagte Vult. – »Das Schulmeisterlein Wutz von J. P. macht' es wie ich, so wunderbar errät ein Dichter das Geheimste. Ich möchte wohl tagelang über die kleinen Frühlingsblümchen der ersten Lebenszeit reden und hören. Im Alter, wo man ohnehin ein zweites Kind ist, dürfte man sich gewiß erlauben, ein erstes zu sein und lange zurückzuschauen ins Lebens-Frührot hinein. Dir offenbar' ichs gern, daß ich mir höhere Wesen, z.B. Engel, ordentlich weniger selig aus Mangel an Kindheit denken kann, wiewohl Gott vielleicht keinem Wesen irgendeine Kindheits- oder Vergißmeinnichts- Zeit mag abgeschlagen haben, da sogar Jesus selber ein Kind war bei seiner Geburt. Besteht denn nicht das gute Kinderleben nur aus Lust und Hoffnung, Bruder, und die Frühregen der Tränen fliegen darüber nur flüchtig hin?«
»Früh-Regen und alter Weiber Tänze und so weiter – nämlich junge Not und alte Lust und so weiter. Fall' ich noch in den Zeitpunkt deiner versus memoriales?« sagte Vult.
»Wahrlich, stets hob ich in Leipzig und hier nur Tage dazu heraus, wo du noch nicht mit dem Musikus entlaufen warst.«
»So erinnere dich deines heutigen Erinnerns wieder vor mir«, bat Vult; – »ich stehe dir mit neuen Zügen bei.«[996]
»Ein neuer Zug aus der Kindheit ist ein goldnes Geschenk«, sagte Walt – »nur wirst du manches zu kindisch finden. (›Kindisch bloß‹, sagte Vult.) Ich nahm heute zwei Tage, nahe am kürzesten und längsten.
Der erste Tag fiel in die Adventszeit. Schon dieser Name und der andere ›Adventsvogel‹ umfliegt mich wie ein Lüftchen. Im Winter ist ein Dorf schön, man kann es mehr überschauen, weil man mehr darin beisammen bleibt. Nimm nur den Montag. Schon den ganzen Sonntag freuete ich mich auf die Schule am Montag. Jedes Kind mußte um 7 Uhr bei Sternenschein mit seinem Lichtchen kommen; ich und du hatten schön bemalte von Wachs. Vielleicht mit zu großem Stolze trug ich einen Quartband, einige Oktavbände und ein Sedez-Werkchen unter dem Arm.«
»Ich weiß«, sagte Vult, »du holtest der Mutter noch Semmel aus dem Wirtshause, als du schon den Markus und seinen Ochsen griechisch exponiertest.«
»Dann fing die schöne Welt des Singens und Lehrens in der süßen Schulstubenwärme an. Wir großen Schüler waren hoch über die kleinen erhoben; dafür hatten die Abc-Zwerge das Recht – und es war ihnen zu gönnen –, daß sie den Kandidaten laut anreden und ohne Anstand ein wenig aufstehen und herumgehen durften.
Wenn er nun entweder die Spezialkarte aufhing und wir am meisten froh waren, daß Haßlau und Elterlein und die umliegenden Dorfschaften daraufstanden – oder wenn er von den Sternen sprach und sie bevölkerte und ich voraussah, daß ich abends den Eltern und Knechten dasselbe erweisen würde – oder wenn er uns laut vorlesen hieß: –«
»Du weißt«, fiel Vult ein, »daß ich dann das Wort Sakrament, er mochte sagen, was er wollte, immer mit einem Akzent herlas, als ob ich fluchte, desgleichen Donnerwetter. Auch war ich der einzige, der ins laute gemeinschaftliche Abbeten eine Art 3/8 Takt zu bringen versuchte.«
»Ich hätte dem arbeitsamen Manne so gern Entzückungen gegeben, wenn ich sie gehabt hätte. Ich betete oft ein leises Vaterunser,[997] damit Gott ihn einen Finken, wenn er hinter seinem Kloben lauerte, darauf fangen ließe; und du wirst dich erinnern, daß ich stets die Schlachtschüssel mit Fleisch (du aber nur den Suppentopf) zu ihm trug. Wie ich mich auf das nächste Wiedersehen in der Schule freuete!«
»Wer mich hart gegen den Schulmeister findet«, sagte Vult, »dem halt' ich bloß vor, daß mir der Schulmann einmal eine angerauchte Pfeife abpfändete und sie in derselben Schulstube öffentlich vor meiner Nase gar ausrauchte. Heißt dies exemplarischer Lebenswandel von Schulmeistern? Oder etwa dies, daß sie Fischchen-Fangen und Vögel-Stellen uns Scholaren sprichwörtlich verbieten, wie Fürsten die Wagspiele, sich aber selber erlauben? Darüber möcht ich einmal Männer in öffentlichen Blättern hören.« –
»O die liebe erste Schulzeit! Mir war alles erwünscht, was gelehrt und geboten wurde, die kleinste Wissenschaft war ja ganz voll Neuigkeiten, indes ihr jetzt in Messen nur einige nachwachsen. Kam nun vollends der Pfarrer mit den großen Augenbraunen im Priesterornat und verdunkelte doch den Kandidaten, wie ein Kaiser oder Papst einen Landesregenten, den er besucht: wie süß-schauerlich! Wie groß fiel jeder Laut seiner Baßstimme! Wie wollte man das Höchste werden! Wie wurde jedes Wort unsers Schomakers dreifach besiegelt durch seines!
Ich glaube, man ist schon darum in der Kindheit glücklicher als im Alter, weil es in ihr leichter wird, einen großen Mann zu finden und zu wähnen; ein geglaubter großer Mensch ist doch der einzige Vorschmack des Himmels.«
»Insofern«, sagte Vult, »möcht' ich ein Kind sein, bloß um zu bewundern, weil man damit sich so gut kitzelt als andere. Ja ich möchte als ein Fötus mit Spinnenarmen an die Welt treten, um die Wehmutter als eine Juno Ludovisi anzustaunen. Ein Floh findet leicht seinen Elefanten; ist man hingegen älter, so bewundert man am Ende keinen Hund mehr. Doch muß ich dir bekennen, daß ich schon damals unserem knurrenden Pfarrer Gelbköppel aus seiner Kragen-Glorie einige Strahlen ausrupfte. Ich hatte, wie gewöhnlich, ein Buch unter die Schultafel in der Absicht[998] fallen lassen, hinunterzukriechen und drunten die Fruchtschnur von Hängfüßen am Bank-Galgen lächerlich zu finden: als ich auch Gelbköppels Wochen-Stiefel auf dem Boden antraf und durch den aufklaffenden Priesterrock die Hosen, die er bei dem Grummet-Aufladen angehabt, zu Gesicht bekam – weg war seine ganze oben darauf gepelzte Würde – Der Mensch, wenigstens der Apostel, sei aus einem Stück gekleidet, er sei kein halber Aposteltag, Walt!«
»Vult, bist du dergleichen nicht fast in mancher Bemerkung? Nun kam 11 Uhr heran, wo wir beide auf den Turm zum Läuten und Uhr-Aufziehen gehen durften. Ich weiß noch gut, wie du dich oben auf dem Glockenstuhl an das Seil der ausschwankenden Glocke hingst, um geschwungen zu werden, obgleich viele dir sagten, sie werfe dich durch das Schalloch. Ich hätte selber hindurchfliegen mögen, wenn ich so hinaussah über das ganze kreuzweis gebahnte Dorf voll lärmender Dreschtennen und an die dunkle Bergstraße nach der Stadt und über den weiten Schnee- Glanz auf allen Hügeln und Wiesen und dabei den blauen Himmel darüber her! Doch damals war der Erde der Himmel nicht sehr nötig. – Hinter mir hatt' ich die ernsthafte Glocke mit ihrer eiskalten Zunge und mit ihrem Hammer, und ich dachte mir es schauerlich, wie sie einsam in der frostigen Mitternacht zu mir ins tiefe Haus und warme Bette hinab reden werde. Ihr Summen und Aussummen in dieser Nähe umfloß den Geist mit einem stürmenden Meere, und alle drei Zeiten des Lebens schienen darin untereinander zu wogen.«
»Bei Gott! Hier hast du recht, Walt. Nie hör' ich dieses Tonbrausen ohne Schauder und ohne den Gedanken, daß der Müller erwacht, sobald die rauschende Mühle stillsteht, unser Leib mit seiner Holz- und Wasserwelt; indes ergötzt die Betrachtung schlecht für den Augenblick.«
»Nimm nicht dein ernstes Herz so wieder zurück, Bruder! Sollt' ich dein Gleichnis wieder mit einem beantworten, so würd' ich sagen, diese Stille sei die auf dem Gipfel des Gotthardsberges Alles ist dort stumm, kein Vogel und kein Lüftchen zu hören, jener findet keinen Zweig, dieses kein Blatt; aber eine gewaltige[999] Welt liegt unter dir, und der unendliche Himmel mit allen übrigen Welten umfängt dich rings. – Willst du jetzt weitergehen in unserer Kindheit oder lieber morgen?«
»Jetzt, besonders jetzt. Der Kindheit werf' ich nichts vor als zuweilen – Eltern. Wir stiegen also beide die langen Turmtreppen herunter –«
»– und im elterlichen Hause wurden wir durch die reinlichgeordnete Mittags-Welt erfreuet an der Stelle der trüben Morgenstube; überall Sonnenschein und Aufordnung. Da aber der Vater in der Stadt war und also das Mittagbrot schlechter und später: so ließ ich mir es bis nach der Schule aufheben, weil ich nicht zu spät in diese kommen wollte, und weil mir jetzt aus der Ferne durchs Fenster schon Kameraden und Lehrer wieder neu erschienen.
In der Schulstube grüßte man die unveränderten Bänke als neu, weil man selber verändert ist. Ein Schul-Nachmittag ist, glaub' ich, häuslicher, auch wegen der Aussicht, abends zu Hause und noch häuslicher zu bleiben. Ich freute mich auf das ungewöhnliche Allein-Essen und auf den Vater mit seinen Sachen aus der Stadt. Ein ganzer Wolkenhimmel von Schneeflocken wirbelte herunter, und wir Schüler sahen es gern, daß wir kaum mehr die kleine Bibel lesen konnten in der ohnehin dunkeln traulichen Schulstube.
Draußen nun sprang jeder in neu-gefallnen Schnee sehr lustig mit den lange müßigen Gliedmaßen. Du warfst deine Bücher ins Haus und bliebst weg bis zum Gebetläuten; denn die Mutter erlaubte dir das Austoben am meisten in Absein des Vaters. Ich folgte dir selten. Der Himmel weiß, warum ich stets kindischer, ausgelassener, hüpfender, unbeholfen-eckiger war als du – ich machte meine Kinds- oder Narrenstreiche allein, du machtest deine als Befehlshaber fremder mit.«
»Ich war zum Geschäftsmann geboren, Walt!«
»Aber in der Vesper las ich lieber. Ich hatte erstlich meinen Orbis pictus, der, wie eine Iliade, das Menschen-Treiben auseinanderblätterte. Ich hatte auf dem Gesimse auch viele Beschreibungen, teils vom Nordpol, teils von alter Norden-Zeit,[1000] z.B. die frühesten Kriege der Skandinavier usw., und je grimmig-kälter ich alles in den geographischen Büchern fand oder je wilder in den historischen: deso häuslicher und bequemer wurde mir. Noch kommt mir die altnordische Geschichte wie meine Kindheit vor, aber die griechische, indische, römische mehr wie eine Zukunft.
In der Dämmerung verflatterte das Schneegestöber, und aus dem reinen Himmel blitzte der Mond durch das Blumengebüsch der gefrierenden Fenster – Hell klang draußen in der strengen Luft das Abendläuten unter den aufgebäumten Rauchsäulen – Unsere Leute kamen hände-reibend aus dem Garten, wo sie die Bäume und Bienenstöcke in Stroh eingebauet hatten – Die Hühner wurden in die Stube getrieben, weil sie im Rauche mehr Eier legen – Das Licht wurde gespart, weil man ängstlich auf den Vater harrete – Ich und du standen auf den Hand- und Fußhaben der Wiege unserer sel. Schwester, und unter dem heftigsten Schaukeln hörten wir dem Wiegenlied von grünen Wäldern zu, und der kleinen Seele taten sich tauschimmernde Räume auf – Endlich schritt der geplagte Mann über den Steg, bereift und beladen, und eh' er noch den Quersack abgehoben, stand sein dickes Licht auf dem Tisch, kein dünnes. Welche herrliche Nachrichten, Gelder und Sachen bracht' er mit und seine eigne Freude!«
»Wer bezweifelt seine Entzückung weniger als ich, den er darin allemal ausprügelte, bloß weil ich auch mit entzückt sein wollte und dadurch, springend und tanzend, den Lärm erregte, den er in stiller Lust am meisten verfluchte; so wie ein Hund sich nie mehr kratzen muß, als wenn er freudig an seinem Herrn aufspringt.«
»Scherze nicht! Und bedenke, was er uns mitbrachte; ich weiß es aber nicht mehr – mir einen für mein Geld gekauften Bogen Konzeptpapier, wovon ich damals nicht denken konnte, daß so etwas Breites, Nettes nicht mehr koste als zwei Pfennige. – Für die Schwester ein Abc-Buch mit Gold-Buchstaben schon auf der äußern Deckel-Schale und mit frischen saubern Tier-Bildern im Vergleich gegen unsre abgegriffenen alten.«
»Schießpulver als Digestivpulver für das Schwein, wovon die[1001] wenigen Körnchen, die ich zusammenkehrte, mir bessere Feuerwerke auf einen Span bescherten als irgendeinem König ein dreißigjähriger Krieg.«
»Das Beste war wohl der neue Kalender. Es war mir, als hielt' ich die Zukunft in der Hand, wie einen Baum voll Fruchtlage. Mit Lust überlas ich die Namen: Lätare, Palmarum, Jubilate, Kantate, wobei mir mein wenig Latein gute Dienste tat. Die Epiphanias waren mir verdrüßlich, besonders zu viele; hingegen je mehrere Trinitatis-Sonntage fielen, desto länger grüne, dacht' ich, die freudenreiche Zeit. Lächerlich kommt es mir vor, daß, eben da ich hinten im Kalender die Haßlauer Postberichte las, die kaiserliche reitende Post im Dorfe ins Horn stieß und ich den guten Menschen bewunderte und bedauerte, der nun, laut dem Berichte, mitten im Winter allein nach ganz Pommern, Preußen, Polen und Rußland ritt; ein Irrtum, den ich erst in Leipzig fahren ließ. Wenn nun darauf der Kandidat Schomaker zum Essen kam und wir vom Vater manche Historien mit Vergnügen zum zehntenmal hörten – wenn du nach dem Essen auf einer Span-Geige aus gewichstem Zwirnfaden kratztest – und ich einen glimmenden Schleißen-Span zu einem Feuerrad umschwang – und ich und du und der lange Knecht, der mir damals, wie den Kindern vielleicht alle gewohnte Gesichter, schön vorkam, spielten und sangen: ›Ringe, ringe Reihe, 's sind der Kinder dreie, Sitzen auf dem Holderbusch, Schreien alle Musch, Musch, Musch! Setzt euch nieder! Es sitzt 'ne Frau im Ringelein, Mit sieben kleinen Kindern. Was essens gern? Fischelein. Was trinkens gern? Roten Wein. Setzt euch nieder!‹ – Innig erfreuet las ich neulich in Gräters ›Bragur‹ das einfältige Kinderding. – Ich muß aber meinen Satz ganz anders angefangen haben.«
»Nunmehr ist er geschlossen. Das Leben fängt, wie das griechische Drama, mit Possen an. Beginn, eh' du erwachst, deinen versprochenen Sommertag.«
»Ich könnte ihn wohl von der Faßnacht anheben, wo der neuerstandene Frühling lauter Sonnenstrahlen in die Schulstube voll kleiner geputzter Tänzer streuet, so daß es in den Seelen früher blühte als in den Gärten. Schon der alte simple Vers: ›Zur Lichtmeß[1002] essen die Herrn am Tag, zur Faßnacht tuns die Bauern auch nach‹ zog Abendröte und Blütenschatten um den Abendtisch. Gott, wie wehen noch die Namen Marientage, Salatzeit, Kirschenblüte, Rosenblüte die Brust voll Zauberduft! – So denk' ich mir auch die Jugend meines Vaters bloß als einen ununterbrochenen Sommer, besonders in der Fremde; so wie ich meinen Großvater und überhaupt die zurückliegende Zeit vor meiner Geburt immer jung und blühend sehe. Da gabs schöne Menschentage, sagt man sich. Wie frisch und hell springend, gleich Frühlingsbächen, kommen mir die alten Universitäten, Bologna und Padua, vor mit ihren ungemessenen Freiheiten, und ich wünschte mich oft in diese hinein!«
»Macht' ich weniger aus dir, so müßt' ich bei deinem Wunsche denken, es wäre damals, außer Hauspump, Buxen, Landesvater, auch gassatim Rumoren und Degen wetzen deine Sache gewesen; aber ich weiß gut, du wolltest zu allem nur ruhig sitzen und zusehen als Rector magnificus. – Allein gib nun deinen heutigen Sommertag!«
»Es war das hl. Dreifaltigkeitsfest, und zwar das jener Woche, worin du auf und davon gingest. Nur vorher lasse mich noch bemerken, daß mir deine erwähnten Studenten-Wörter teils neu klingen, teils roh. An diesem hl. Feste nun, das mit Recht in die schönste Jahreszeit fällt, gingen, wenn du es nicht vergessen, unsere Eltern immer zum hl. Abendmahl. Gerade an jenem Sonnabend – wie denn überhaupt an jedem Beichtsonnabend – bezeigten die lieben Eltern sich noch gütiger und gesprächiger gegen uns Kinder als sonst; Gott aber schenke ihnen in dieser Stunde die Freude, die mir jetzt in ihrem Angedenken das Herz durchwallt! Die Mutter ließ vieles im Stall durch Leute besorgen und betete aus dem schwarzen Kommunion-Büchlein. Ich stand hinter ihr und betete unbewußt mit herunter, bloß weil ich das Blatt umkehrte, wenn sie es herab hatte. Die Bauernstube war so rein und schmuck aufgeräumt für den Sonntag – wie am hl. Christabend war es am Beichtabend – aber schöner und höher – dazu hing nun der reich-schwere Frühling herein, und der Blütengeruch zog durch das ganze Haus und jeden Dachziegel –[1003] Frühling und Frömmigkeit gehören gewiß recht für einander – Ich sah nachher, als der Nachtwächter antrat, noch ein wenig aus dem Dachfenster, voll Düfte und Sterne war der Himmel über dem Dorfe – die Generalin ging so spät noch mit ihrem Kinde an der Hand auf dem Schloßwall spazieren, und das ganze Dorf wußte, daß sie morgen kommunizierte und ich und du die Kommunikantentüchlein dabei hielten – Wahrlich, ob ich gleich schon Lateinisch sprechen konnte, die weißgekleidete Generalin kam mir als die Mutter Gottes vor, und das Kind als ihr Kind.«
»Hat denn die Generalin einen Sohn?«
Walt sagte verlegen: »Ich stellte mir nämlich ihre damalige Tochter so vor in der Ferne. Ich möchte jetzt noch vor Freude über die Wundernacht weinen, wenn du nicht lachtest....«
»So weine zum Henker! Wer lacht denn, Satan, wenn einmal ein Mensch die Aufrichtigkeit in Person ist?«
»Es erschien denn das hl. Trinitatis-Fest mit einem blauen Morgen voll Lerchen und Birkendüfte; und als ich aus dem Bodenfenster diese Bläue über das ganze Dorf ausgespannt erblickte, wurde mir nicht, wie sonst an schönen Tagen, beklommen, sondern fast wie jauchzend. Unten fand ich die Mutter, die sonst nur in die Nachmittagskirche ging, schon angeputzt, und den Vater im Gottestischrock, wodurch sie mir, zumal da sie unser Sonntags-Warmbier nicht mittranken, sehr ehrwürdig erschienen. Den Vater liebt' ich ohnehin am Sonntag stärker, weil er bloß da rasiert war. Ich und du folgten ihnen in die Kirche; und ich weiß, wie darin die Heiligkeit meiner Eltern gleichsam in mich herüberzog unter der ganzen Predigt; eine fremde wird in einem blutsverwandten Herzen fast eine größere.«
»Mein Fall war es weniger. Ich lebte nie lustiger als an ihren Kommuniontagen, weil ich wußte, daß sie es für Sünde hielten, mich früher als nach Sonnenuntergang auszuwichsen – und weil sie nach dem Abendmahl auch das Mittagsmahl bei dem Pfarrer nahmen und wir folglich das Schachbrett zum Rösselsprung frei hatten. Steht es noch vor deiner Seele, malt es sich noch glühend, färbt es sich noch brennend, daß ich an demselben Sonntage mit einem Taschenspiegel vom Chore herab den Sonnenglanz wie[1004] einen Paradiesvogel durch die ganze Kirche und sogar um die zugedrückten Augen des Pfarrers schießen ließ, indes ich selber ruhig mit nachsah und nachspürte? Und gedenkst du noch – denn nun entsinn' ich mich alles –, daß mich darüber der satanische Kandidat erwischte und der Vater nach der Kirche mich nach der peinlichen Halsgerichts-Ordnung von Karl, die (im Artikel 113) Gefangenschaft mit Besen-Streichen leicht vertauschen lässet, aus Andacht bloß einkerkerte, anstatt, was mir lieber gewesen, mich halbtot zu schlagen?«
»Du hieltest aber dennoch in der Kirche das rechte Altartüchlein bei der Oblate unter den Kommunikanten auf und ich das linke beim Kelch. Es soll nie von mir vergessen werden, wie demütig und rührend mir unser blasser Vater auf seinen Knien an der scharlachenen Altarstufe vorkam, indes der Pfarrer ihm sehr schreiend den goldnen Kelch vorhielt. Ach wie wünscht' ich, daß er stark tränke vom hl. Weine und Blut. Und dann die tief geneigte Mutter! Wie war ich ihr unter dem Trinken so rein-gut! Die Kindheit kennt nur unschuldige weiße Rosen der Liebe, später blühen sie röter und voll Schamröte. Vorher aber trat die majestätische lange Generalin in ihrem schwarzen und doch glänzenden Seidengewand an die Altarstufe, sich und die langen Augenwimpern senkend wie vor einem Gott, und die ganze Kirche klang mit ihren Tönen drein in die andächtige Gegenwart dieser idealen Herzogin für uns alle im Dorf.«
»Die Tochter soll ihr so ähnlich sehen, Walt?«
»Die Mutter wenigstens ist ihr sehr ähnlich. Darauf zog man denn aus der Kirche, jeder mit emporgehobnem Herzen – die Orgel spielte in sehr hohen Tönen, die mich als Kind stets in helle fremde Himmel hoben – und draußen hatte sich der blaue Äther ordentlich tief ins Sonntagsdorf hineingelagert, und vom Turme wurde Jauchzen in den Tag herabgeblasen – Jeder Kirchgänger trug die Hoffnung eines langen Freudentags auf dem Gesichte heim – Die sich wiegende lackierte Kutsche der Generalin rasselte durch uns alle durch, nette, reiche Bedienten sprangen herab – – Überhaupt, wäre nur nachher nicht die Sache mit dir gewesen – –«
»Zu oft käue sie nicht wieder!«[1005]
»Also ging der Vater im Gottestischrock ins Pfarrhaus und hinter ihm die Mutter. Und als ich, da sie abgegessen hatten, die Klingeltüre des Pfarrhofs öffnete und schon die Truthühner desselben mit Achtung sah; –«
»Du brauchst mirs nicht zu verdecken, daß du mich drüben aus meiner verfluchten Karzerkammer losbitten wolltest, weil ich zu sehr schrie und Fenster und Kopf einzustoßen schwur.«
»Die Bitte half wenig beim Vater; vielleicht weil der Pfarrer sagte, du hättest ihn zu sehr beleidigt und geblendet. Ich vergaß leider bald dich und die Bitte über dem herrlichen süßen Wein, den ich trank. Auf dem Lande hat man zu wenig Erfahrung der vornehmern Welt und bewundert ein Glas Wein. Der Pfarrer ließ mich Entzückten durch ein Prisma schauen und gleichsam jedes einzelne Stück Welt mit einer Aurora und Iris umziehen. Ich bildete mir oft ein, ich könnte wohl, da ich so viel Gefühl für Malerei, sogar für Farben an Schachteln, Zwickeln, Ziegelsteinen zeigte, fast mehr zum Maler taugen, als ich dächte. Da ich meinen Vater tief unten an der Tafel sitzen sah, dacht' ich mir das Vergnügen, ihn einst sehr auszuzeichnen, falls ich etwas würde.«
»Es ist auffallend, wie oft auch ich schon seit Jahren geschworen, mich meiner Herkunft zu entsinnen, wenn ich im Publikum bedeutend in die Höhe und Dicke wüchse, und mich weder deiner noch der Eltern zu schämen. Man kann fast nicht früh genug anfangen, sich bescheiden zu gewöhnen, weil man nicht weiß, wie unendlich viel man noch wird am Ende. – Liebe für Farben, wovon du sprachst, ist darum noch keine für Zeichnung; inzwischen kannst du immer, wenn die eine Art Maler sich von fremder Hand die Landschaften, die andere sich die Menschen darin malen ließ, beide Arten in dir vereinen. Vergib den Spaß!«
»Recht gern! Wir zogen als vornehme Gäste durchs Dorf nach Hause, wo der Vater die Scharlachweste anlegte und mit mir und der Mutter spazieren ging, um abends gegen 6 Uhr im Gartenhäuschen zu essen. Nun glaub' ich nicht, daß an einem solchen Abende, wo alle Welt im Freien und angeputzt und freudig ist und die Generalin und andere Vornehme mit rotseidnen Sonnenschirmen[1006] spazierengehen, irgendein Herz, wenn es zumal in einem Bruder schlägt, es ertragen kann, daß du allein im Kerker hausest.«
»Sakerment!« sagte Vult.
»Sondern es war natürlich, daß ich und der Knecht dir eine Dachleiter ans Fenster setzten, damit du herunter könntest ins Dorf zur Lust. – Nein, kein Spaziergang mit Menschen ist so schön als der eines Kindes mit den Eltern. Wir gingen durch hohe grüne Kornfelder, worin ich die Schwester hinter mir nachführte in der engen Wasserfurche. Alle Wiesen brannten im gelben Frühlingsfeuer. Am Flusse lasen wir ausgespülte Muscheln wegen ihres Schillerglanzes auf. Das Flößholz schoß in Herden hinab in ferne Städte und Stuben, und ich hätte mich gern auf ein Scheit gestellt und wäre mitgeschifft! Viele Schafherden waren schon nackt geschoren und legten sich mir näher ans Herz, gleichsam ohne die Scheidewand der Wolle. Die Sonne zog Wasser in langen wolkigen Strahlen, aber mir kam es vor, als sei die Erde mit Glanzbändern an die Sonne gehangen und wiege sich an ihr. Eine Wolke, die mehr Glanz als Wasser hatte, regnete bloß neben, nicht auf uns; ich begriff aber da mals gar nicht, als ich die Grenzen der nassen und der trocknen Blumen sah, wie ein Regen nicht allezeit Über die ganze Erde falle. Die Bäume neigten sich gegeneinander, als die Wolke tropfend Darüber wegwehte, wie die Menschen am Abendmahls-Altar. Wir gingen ins Gartenhaus, das innen und außen nur weiß ist; aber warum glänzet dieser kleine Name Über alle stolz gedeckte Prachtgebäude herüber und blinkt in seinem Abendrot sehr gegen fremdes Morgenrot? Alle Fenster und Türen waren aufgemacht – Sonne und Mond sahen zugleich hinein – die rotweißen Äpfelknospen wurden von ihren starren struppigen Ästen hineingehalten und zuweilen eine schneeweiße Äpfelblüte mit (o Vult, ich gebe den Apfel für die Äpfelblüte gern) – Die Bienen gaben dem Vater Zeichen eines nahen Schwärmens – Ich fing mir in eine Schachtel Goldkäfer, für welche ich den Zucker längst aufgesparet hatte – Noch glänzt mir das Gold und der Smaragd dieser Paradiesvögelchen hienieden, in Deutschland meint' ich – Auch zog ich mir im Garten Schößlinge aus, um sie daheim anzupflanzen zu einem Lustwäldchen[1007] unter meinem Knie. Die Vögel schlugen wie bestellt in unserem Gärtchen, das nur fünf Apfelbäume und zwei Kirschbäume hatte und mehrere Pflaumenbäume samt guten Johannisbeer- und Haselstauden. Zwei Finken schlugen, und der Vater sagte, der eine singe den scharfen Weingesang und der andere den Bräutigam. Aber ich zog – und noch jetzt – meinen guten Embritz vor-«
»Deutlicher in der ornithologischen Sprache Emmerling, Goldammer, Gröning, Gelbling, Geelgerst, Emberiza citrinella L.«
»– welcher, wie die Eltern sagten, sang: ›wenn ich eine Sichel hätt', wollt' ich mit schnied.‹ – Was ist denn das Dunkle im Menschen-Innern, daß ich wirklich den einfachen Embritz, wenn ich durch Wiesen gehe und ihn an belaubten Abhängen höre, leider über die göttliche Nachtigall, die freilich wenig rein durchführt, sondern heftig springt, zu setzen suche? – Floß aber nicht nachher die Abendröte in den ganzen Garten hinein und färbte alle Zweige? Kam sie mir nicht wie ein goldner Sonnentempel mit vielen Türmen und Pfeilern vor? Und gingen nicht auf den Wolkenbergen die Sternchen wie Maienblümchen auf? – und die breite Erde war ein Webstuhl rosenroter Träume? Und als wir spät nach Hause wandelten, hingen nicht in den finstern Büschen goldne Tautropfen, die lieben Johannis-Würmchen? Und fanden wir nicht im Dorfe ein ganz besonderes Fest-Leben, sogar die kleinen Viehhirten endlich im Sonntagsputz, und dem Wirtshause fehlte nichts als Musik, und auf dem Schlosse wurde gesungen?«
»Und nahm mich nicht«, fuhr Vult fort, »der gute Vater, als er mich in dieser Freude als Teilhaber fand, leise bei den Haaren mit nach Hause und prügelte mich so verflucht? – O daß doch der Teufel alle Erziehungen holte, so wie er selber keine erhalten! Wer nimmt mir jetzt die Fest-Prügel ab und den Karzer? Du kannst dich leicht herstellen und entsinnen und vergnügt außer dir sein und die Repetieruhr der Erinnerung aus der Tasche ziehen. Aber Hölle, was hab' ich denn schmelzend mich zu erinnern als an die lausige Aurora eines aufgehenden Schwanzsterns? O wie glücklich, glücklich könnte man ein Kind machen! Dies probiere[1008] aber einmal einer bei einem greisen Schelm von 40 Jahren! Ein einziger Kindertag hat mehr Abwechsel als ein ganzes Manns- Jahr. Sieh an, wie er mich, wenn das kühne Bild zu gebrauchen ist, aus einem zarten, weißen Kindesgesicht so zu einem braunen Kopfe geraucht und erhitzt hat wie einen Pfeifenkopf! – Wärme mich nicht mehr wieder so auf! – Was seh' ich denn von Elysien und elysischen Äckern um mich her als ein paar Sessel? – unsern Bett- und Stuben-Schirm? – nichts zu trinken? – dich guten Millionär bloß voll innerer Gedächtnismünzen? – und einen hölzernen Sitz der Seligen? – O ich möchte... He, herein nur! Vielleicht bringt uns doch, Walt, ein Himmelsbürger ein oder ein paar Himmelspforten und Empyreen.«
Es schritt die gelbe Postmontur ein mit dem Hoppelpoppel oder das Herz unter dem Arm, das der Magister Dyk mit den Worten zurückschickte, er verlege zwar gern Rabenersche und Wezelsche Pläsanterien, aber nie solche. »Nu, ist das kein Sonnenblick aus unserm Freudenhimmel?« fragte Vult. »Ach«, sagte Walt, »ich glaube, ich war eben vorhin und bisher zu glücklich; darauf kommt immer ein wenig Betrübnis – Es ist doch gut, daß das Werk nicht auf der Post hin und her verloren gegangen.« – »O du weiches – Holz!« fuhr jener auf. »Aber nicht du sollst es ausbaden, sondern der Magister. Ich will ihn waschen mit Seewasser, obs gleich nicht weiß macht.«
Er setzte sich auf der Stelle nieder und schrieb im Grimm einen unfrankierten Brief an den Magister, worin die Höflichkeit des Briefstils so gut als ganz hintangesetzt war.
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Flegeljahre
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Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.
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