Neuntes Kapitel
Die arme Baronin

[497] Er war zwar bald und fest eingeschlafen; doch der neue Inhalt, die Schatzvermehrung seiner Gedanken weckte ihn vor Tagesanbruch, wie wenn es ein lebendiges Wesen außer ihm wäre, das freundlich seine Schulter berührte. Er mußte sich lange besinnen, wo er sei, und erst als er das von der Morgendämmerung erhellte Viereck des großen Fensters aufmerksam betrachtete, kam er seinen gestrigen Erlebnissen auf die Spur. Es wurde ihm beinahe feierlich angenehm zu Mut, und indem er in diesem Gefühle so hindämmerte, entschlief er wieder und erwachte erst, als das schöne Landgebiet, in das er hinausschaute, schon im vollen Sonnenscheine lag und der Fluß weithin schimmerte. In den Platanen war großes Vogelkonzert, eine Schar dieser Musikanten flatterte und saß an den Marmorschalen des Brunnens, in dessen Nähe ein Tisch zum Frühstücke gedeckt war.

»Lux, mein Licht! wo bleibst du?« hörte er eine alte, obwohl noch kräftige Stimme rufen und sah darauf den vermutlichen Oheim, vom Diener gestützt und mit einer Krücke versehen, hinter dem Hause hervorkommen. Der Ruf Lux galt natürlich der Nichte, deren Namen Lucia er sich dergestalt zugestutzt hatte. Es schien ein ehemaliger Kriegsoberst zu sein, da er einen langen grauen Schnurrbart trug sowie einen Rock von halbmilitärischem Zuschnitt und ein verschlissenes Bändchen am Knopfloch. Nun erschien auch das Fräulein auf dem morgenfrischen Schauplatze, und so säumte Reinhart nicht länger, sich fertigzumachen und auch hinunterzugehen, wo er den Herrn[498] und die Dame am Tische sitzend antraf, dicht neben dem Brunnen mit seinem klingenden kristallklaren Wasser. Reinhart verhinderte rasch, daß der alte Herr sich erhob, als er ihm von Lucien vorgestellt wurde.

Der Oheim fixierte ihn aufmerksam mit der Freiheit alter Soldaten oder Sonderlinge, indem er nach und nach, ohne sich zu eilen, vorbrachte, sein Name sei ihm wohlbekannte, es komme nur darauf an, ob er etwa der Sohn der Professors gleichen Namens in X sei; denn wenn er sich recht besinne, so sei ein Freund aus jungen Jahren dort hängengeblieben und ein berühmter Pandektenpauker geworden.

Reinhart bestätigte lachend seine Vermutung, und Lucie erklärte das Ereignis für ein sehr artiges, welches sie teilweise herbeigeführt zu haben sich etwas einbilde. Der Oheim jedoch fuhr fort, das Gesicht des jungen Gastes zu studieren und immer tiefer in seiner Erinnerung nachzugraben, indessen sein eigenes Gesicht einen säuerlich süßen Ausdruck annahm, dann in ein halb spöttisches Lächeln, dann in einen weichen Ernst überging und zuletzt von einem vollen biedern Lachen erhellt wurde. Er faßte kräftig die Hand des jungen Reinhart, schüttelte sie und fragte: »Haben denn Ihre Eltern nie von mir gesprochen?«

Reinhart dachte nach und schüttelte den Kopf, sagte aber nach einem weitern Besinnen: »Es müßte denn sein, was auch wahrscheinlich ist, daß Sie erst auch ein Leutnant gewesen sind, ehe Sie Herr Oberst wurden. Dunkel entsinne ich mich aus meinen Kinderjahren, daß die Eltern, bald der Vater, bald die Mutter, meistens diese, von einem Leutnant sprachen, und zwar hieß es scherzend: das hätte der Leutnant nicht getan, oder: Was würde der Leutnant zu dem Falle sagen, und so weiter. Dann verlor sich die Gewohnheit, wenn es eine war, und ich habe die Sache vergessen.«

»Sehen Sie, es ist richtig!« rief der Oberst, »der Leutnant bin ich! In Ihrem angenehmen Angesicht habe ich die Spuren von[499] beiden verehrten Eltern herausgefunden, vom Herrn sowohl wie von der Dame, und es geht mir fast ein Licht auf, wie wenn meine junge Lux hier an meinem engen Altershorizont aufgeht als meine tägliche Morgensonne! Seien Sie uns willkommen und bleiben Sie jedenfalls, einige Tage, oder besser, machen Sie Ihre Reise fertig und kommen Sie bald wieder für länger! Spielen Sie Schach?«

»Leider nein, ich spiele überhaupt gar nichts!«

»Ei, das ist schade, warum denn nicht?« rief der Alte.

»Ich bin zu dumm dazu!« erwiderte Reinhart, der in der Tat weder die Aufmerksamkeit noch die Voraussicht aufbrachte, welche zum ernsthaften Spielen erforderlich sind. Lucie sah ihn unwillkürlich mit einem dankbaren Blicke an, da sie einen Genossen in dieser Art von Dummheit in ihm fand.

»Nun«, sagte der alte Herr, »solang man jung ist, spürt man eben keine Langeweile und braucht kein Spiel. Die hat's auch so, die hier sitzende Jugendfigur! Später wird sie's wohl noch lernen; denn ich hoffe, es gibt eine schöne alte Jungfer aus ihr, die ewig bei mir bleibt und auf meinem Grabe fromme Rosen züchtet und okuliert.«

»Das kann geschehen«, sagte die Nichte, »wenn über das Heiraten solche Anschauungen aufkommen, wie ich sie aus dem Munde des Herren Ludwig Reinhart habe hören müssen! Denke dir, Onkel, wir haben gestern bis Mitternacht uns verunglückte Heiratsgeschichten erzählt! Die gebildeten Männer verbinden sich jetzt nur mit Dienstmädchen, Bäuerinnen und dergleichen; wir gebildeten Mädchen aber müssen zur Wiedervergeltung unsere Hausknechte und Kutscher nehmen, und da besinnt man sich doch ein bißchen! Sagen Sie, Herr Reinhart, haben Sie nicht noch eine Treppenheirat zu erzählen?«

»Freilich hab ich«, antwortete er, »eine ganz prächtige, eine Heirat aus reinem Mitleiden!«

»O Himmel!« rief Lucie, »wie glücklich! Magst du sie auch hören, lieber Onkel?«[500]

»Da ihr Faulpelze nichts spielen und nur schwatzen wollt, so ist es das Beste, was wir tun können, wenn wir uns einige blaue Wunder vormachen?«

Der Tisch wurde abgeräumt, Lucie ließ sich einen Arbeitskorb bringen, und Reinhart suchte den Eingang seiner Geschichte zusammen. »Denn«, sagte er, »die Personen, die es angeht, stehen in der Blüte ihres Glückes, und um sie in keiner Weise darin zu stören, ist es nötig, sie in eine allgemeine Form der Unkenntlichkeit zu hüllen. Es dürfte daher am zweckmäßigsten sein, die Sache gleich in der Art zu erzählen, wie ein gezierter Novellist sein Stücklein in Szene setzt. Ich würde zugleich damit in meiner Erzählungskunst, die mir wie ein Dachziegel auf den Kopf gefallen, einen Fortschritt anstreben können, man weiß ja nie, wo man es brauchen kann.« Es würde also etwa so lauten:


»Brandolf, ein junger Rechtsgelehrter, eilte die Treppe zum ersten Stockwerk eines Hauses empor, in welchem eine ihm befreundete Familie wohnte, und wie er so in Gedanken die Stufen übersprang, stieß er beinahe eine weibliche Person über den Haufen, die mitten auf der Treppe lag und Messer blank scheuerte. Es war ihm, als ob mit einem Messer nach seiner Ferse gestochen würde; er sah zurück und erblickte unter sich das zornrote Gesicht eines, soviel er wegen des umgeschlagenen Kopftuches sehen konnte, noch jugendlichen Frauenzimmers, welches er für ein Dienstmädchen hielt. Grollend, ja böse blickte sie nieder auf ihre Arbeit, und Brandolf trat unangenehm betroffen in die Wohnung seiner Freunde. Dort untersuchte er den Absatz seines Stiefels und fand, daß wirklich eine kleine Schramme in das glänzende Leder gestochen war.

›Es ist doch ein Elend mit uns Menschen!‹ rief er aus; ›täglich sprechen wir von Liebe und Humanität, und täglich beleidigen wir auf Wegen, Stegen und Treppen irgendein Mitgeschöpf! Zwar nicht mit Absicht; aber muß ich mir nicht selbst[501] gestehen: wenn eine Dame im Atlaskleide auf den Stufen gelegen hätte, so würde ich sie sicherlich beachtet haben! Ehre dieser wehrbaren scheuernden Person, die mir wenigstens ihren rächenden Stachel in die Ferse gedrückt hat, und wohl mir, daß es keine Achillesferse war!‹

Er erzählte den kleinen Vorfall, alle riefen: ›Das ist die Baronin!‹ und der Hausvater sagte: ›Lieber Brandolf! Diesmal hat Ihre humane Düftelei den Gegenstand gänzlich verfehlt! Die Dame auf der Treppe ist eine wahrhafte Baronin, die aus reiner Bosheit, um den Verkehr zu hemmen, und aus Geiz, statt ihre Innenräume zu brauchen, die gemeinsame Treppe mit Hammerschlag beschmutzt und Messer blank fegt und dabei aus Adelstolz uns Bürgerliche weder grüßt noch auch nur ansieht!‹

Verwundert über diese seltsame Aufklärung, ließ sich Brandolf das Nähere berichten. Die Baronin war vor einigen Wochen in das Haus gezogen, in die jenseitige kleinere Hälfte des Stockwerkes, und hatte alsobald ihren prunkenden Namen an die Türe geheftet, zugleich aber einen Zettel vor das Fenster gehängt, welcher eine möblierte Wohnung zum Vermieten ausbot. Schon waren einige Fremde dagewesen, aber keiner hatte es länger als ein paar Tage ausgehalten, uns sie waren mittels Bezahlung einer tüchtigen Rechnung entflohen. Wer in die aufgestellte Falle dieser Miete ging, der durfte in seiner Stube nicht rauchen, nicht auf dem prunkhaften Sofa liegen, nicht laut umhergehen, sondern er mußte die Stiefel ausziehen, um die Teppiche zu schonen; er durfte nicht im Schlafrock oder gar in Hemdsärmeln unter das Fenster liegen, um die freiherrliche Wohnung nicht zu entstellen, und überdies befand er sich wie ein hilfloser Gefangener, weil die Baronin keinerlei Art von Bedienung hielt, sondern alles selbst besorgte und daher jede Dienstleistung rundweg verweigerte, welche nicht in der engsten Grenze ihrer Pflicht lag. Sie stellte alle Morgen eine Flasche frischen Wassers hin und füllte am Abend das Waschgeschirr, sonst aber reichte sie nie ein Glas Wasser, und wenn der Mietsmann[502] am Verschmachten gewesen wäre. Das alles begleitete sie mit unfreundlichen, oder vielmehr meistens mit gar keinen Worten. Niemand kannte ihre Verhältnisse und woher sie kam; mit niemandem ging sie um, und wenn ihre häuslichen Beschäftigungen sie an den Brunnen, in den Hof, unter die Mägde und Dienstleute führten, so fuhr sie wie ein böser Geist schweigend unter ihnen herum.

Kurz, man war übereingekommen, daß sie ein ausgemachter Teufel und Unhold sei, welcher sein menschenfeindliches und räuberisches Wesen auf eigene Faust betreibe und hauptsächlich den Plan gefaßt habe, durch sein Benehmen einen häufigen Wechsel der Mieter zu veranlassen, um solchergestalt viele kleine, aber dennoch übertriebene Rechnungen ausstellen und überschüssige Mietgelder einziehen zu können, wenn die Verunglückten vor der Zeit wegzogen. Und dieser Plan, wenn er wirklich bestand, war allerdings nicht übel, da das Haus in einer lebhaften und schönen Straße lag, welche immer aufs neue anständige und wohlhabende Fremde herbeilockte, die dann froh waren, sich bald loszukaufen und andern Platz zu machen.

Als diese Schilderung, verwebt mit noch vielen absonderlichen Zügen, beendigt war, fühlte Brandolf eher ein geheimes Mitleid mit der bösen Baronin als Zorn und Verachtung, und als die Freunde ihn scherzweise fragten, ob er nicht ihr Hausgenosse werden und bei der wunderlichen Nachbarin einziehen wolle, erwiderte er ernsthaft: ›Warum nicht? Es käme nur darauf an, die Dame in ihrem eigensten Wesen an der Kehle zu packen und ihr den Kopf zurechtzusetzen!‹

Da er aber sah, daß die Frau des Hauses nicht geneigt war, des weitern auf diesen Scherz oder Gedanken einzugehen, so schwieg er, kam aber für sich darauf zurück, als er auf der Straße bemerkte, daß die Vermietungsanzeige eben wieder vor dem Hause hing.

Brandolf konnte gar nicht begreifen, wie man bösen und ungerechten oder tollen Menschen gegenüber in Verlegenheit geraten[503] und den kürzern ziehen könne. So gutmütig und friedfertig er im Grunde war, empfand er doch stets eine rechte Sehnsucht, sich mit schlimmen Käuzen herumzuzanken und sie ihrer Tollheit zu überführen. Wo er von erlittenem Unrecht hörte, wurde er noch zorniger über die, welche es duldeten, als über die Täter, weil durch das ewige Nachgeben diese Unglücklichen nie aus ihrer Verblendung herauskämen. Nur die offene Gewalt ließ er unbekämpft, weil sie sich selber brandmarke und weiter keiner Beleuchtung bedürfe, um in ewiger Jämmerlichkeit und Selbstzerstörung dazustehen. Er besaß ein tiefes Gefühl für menschliche Zustände und vertraute so sehr auf das Menschliche in jedem Menschen, daß er sich vermaß, auch im Verstocktesten diesen Urquell zu wecken oder wenigstens dem Sünder das Bewußtsein beizubringen, daß er durchschaut und von der Übermacht des Spottes umgarnt sei. Allein sei es, daß die Argen seine sieghafte Sicherheit von weitem ausspürten, sei es das irdische Schicksal, welches uns das, was man wünscht, selten erreichen läßt, Brandolf bekam fast nie so recht wohlbegründete Händel, und wo eine ausgesuchte üble Existenz blühte, kam er immer zu spät, die Blume zu brechen. Daher ging er an der Pforte der Baronin wie an einem verschlossenen Paradiese vorbei, in welches einzudringen und mit dem hütenden Drachen zu streiten er sich herzlich sehnte.

Als im September die Freundesfamilie samt Kindern und Dienstboten mit Kisten und Koffern im Wagen untergebracht war, um die Reise nach Italien anzutreten, wo ein Winter verlebt werden sollte, als die schwerfällige Maschine endlich unter den Seufzern der Haus- oder hier der Reisefrau fortrollte, da hatte Brandolf, der den Schlag zugemacht, im Hause eigentlich nichts mehr zu tun, und er hätte füglich nach seiner eigenen Wohnung gehen können. Er stieg aber wieder die Treppe hinauf, klingelte bei der Baronin und wünschte ihre Zimmer zu besehen. Sie erkannte ihn als denjenigen, der sie auf der Treppe gestoßen, und als den täglichen Besucher der Nachbarherrschaft.[504] Mißtrauisch und mit großen Augen sah sie ihn an, ohne ein Wort zu sprechen, und hielt die Türe so, als ob sie ihm dieselbe vor der Nase zuschlagen wollte; doch konnte sie das nicht wagen und ließ ihn mit knappen Worten eintreten.

Mit saurer Höflichkeit führte sie ihn zu den Zimmern; sie waren höchst anständig und solid eingerichtet, und Brandolf erklärte nach flüchtiger Besichtigung, die er mehr zum Scheine vornahm, daß er die Wohnung miete und gleich am nächsten Tage einziehen werde. Ohne die mindeste Freudenbezeigung verbeugte sich die Baronin ein bißchen, von der er übrigens nicht viel sah, weil sie wieder das verhüllende Tuch um Kopf und Hals geschlagen hatte, einer Kapuze ähnlich, und eine Art grauen Überwurfes trug, der sowohl einen Mantel wie einen Hausrock vorstellen konnte. Er eilte, die Veränderung seinen bisherigen Wirtsleuten anzuzeigen. Die waren sehr betrübt darüber, da sie noch nie einen so guten und liebenswürdigen Mieter bei sich gesehen hatten, und da sie selbst ordentliche und wohlgesinnte Leute waren, so nahm sich Brandolfs Entschluß doppelt unbegreiflich aus. Sie konnten sich denselben auch nur dadurch erklären, daß der Herr als ein reicher und unverheirateter studierter Mensch seine Launen und keine Sorgen habe und also sich nach Belieben den Hafer könne stechen lassen.

Erst als Brandolf seine Habseligkeiten in das neue Losament gebracht hatte und sich dort einhauste, sah er sich genötigt, genauer auf die für solche Mietzimmer ungewöhnliche Ausstattung zu achten. Es waren überhaupt nur drei nach der Straße gelegene Stuben; diese schienen aber mit dem Hausrate einer ganzen Familie angefüllt zu sein und alles von teuren Stoffen und Holzarten gearbeitet. Der Boden war mit bunten Teppichen überall belegt, an manchen Stellen doppelt; in jedem Zimmer standen Sekretäre, feine Schränke, Luxusmöbel, Spieltische und Spiegelgebäude, Sofas und weiche Polsterstühle im Überfluß; prächtige Vorhänge bekleideten die Fenster, und sogar an den Wänden drängte sich eine Bilderware von Gemälden, Kupferstichen und[505] allem möglichen zusammen, wie wenn der Wandschmuck eines weitläufigen Hauses da zur Auktion aufgestapelt worden wäre. Erschien der Raum der sonst ziemlich großen Zimmer hierdurch beengt, so wurde der Umstand noch bedenklicher durch einige Eckgestelle, auf deren schwank aufgetürmten Stockwerken eine Menge bemalten oder vergoldeten Porzellans und unendlich dünner Glassachen stand und zitterte wie Espenlaub, wenn ein fester Tritt über die Teppiche ging. An allen diesen Zerbrechlichkeiten war das gleiche Wappen gemalt oder eingeschliffen, welches auch auf der Karte an der Eingangstüre prangte über dem Namen der Baronin Hedwig von Lohausen. Als er später schlafen ging, bemerkte Brandolf, daß die Freiherrenkrone nicht minder auf die Leinwand des prachtvollen Bettes gestickt war, welches das eine der beiden Hauptstücke einer ehemaligen Brautaussteuer zu sein schien. Alles aber, trotz der durch die drei Zimmer herrschenden Fülle, war in tadellosem Stande gehalten und nirgends ein Stäubchen zu erblicken, und Brandolf wunderte sich nur, ob der Mieter für sein teures Geld eigentlich zum Hüter der Herrlichkeit bestellt sei und ihm ehestens ein Reinigungswerkzeug mit Staublappen und Flederwisch anvertraut werde? Denn wenn jemand anders die Arbeit besorgte, so mußte ja fast den ganzen Tag dieser Jemand sich in den Zimmern aufhalten. Es ist aber schon jetzt zu sagen, daß keines von beiden der Fall war; alles wurde in Abwesenheit des Mietsmannes getan wie von einem unsichtbaren Geiste, und selbst die Glas- und Porzellansachen standen immer so unverrückt an ihrer Stelle, wie wenn sie keine Menschenhand berührt hätte, und doch war weder ein Stäubchen noch ein trüber Hauch daran zu erspähen.

Nunmehr begann Brandolf aufmerksam die bösen Taten und Gewohnheiten der Wirtin zu erwarten, um den Krieg der Meschlichkeit dagegen zu eröffnen. Allein sein altes Mißgeschick schien auch hier wieder zu walten; der Feind hielt sich zurück und witterte offenbar die Stärke des neuen Gegners. Leider[506] vermochte ihn Brandolf nicht mit dem Tabaksrauche aus der Höhle hervorzulocken, denn er rauchte nicht, und als er zum besondern Zwecke ein kleines Tabakspfeifchen, wie es die Maurer bei der Arbeit gebrauchen, nebst etwas schlechtem Tabak nach Hause brachte und anzündete, um die Baronin zu reizen, da mußte er es nach den ersten drei Zügen aus dem Fenster werfen, so übel bekam ihm der Spaß. Teppiche und Polster zu beschmutzen ging auch nicht an, da er das nicht gewöhnt war; so blieb ihm vorderhand nichts übrig, als die Fenster aufzusperren und einen Durchzug zu veranstalten. Dazu zog er eine Flanelljacke an, setzte eine schwarzseidene Zipfelmütze auf und legte sich so breit unter das Fenster als möglich. Es dauerte richtig nicht lange, so trat die Freiin von Lohausen unter die offene Türe, rief ihren Mietsmann wegen des Straßengeräusches mit etwas erhöhter Stimme an, und als er sich umschaute, deutete sie auf eine große Roßfliege, die im Zimmer herumschwirrte. Es sei in der Nachbarschaft ein Pferdestall, bemerkte sie kurz. Sogleich nahm er selbst die Zipfelmütze vom Kopf, jagte die Fliege aus dem Zimmer und schloß die Fenster. Dann zog er die Mütze wieder auf, zog sie aber gleich abermals herunter, da die Dame noch im Zimmer stand und ihn, wie es schien, statt mit Entrüstung, eher mit einem schwachen Wohlgefallen in seinem Aufzuge betrachtete. Ja, soviel von ihrem ernsten und abgehärmten Gesichte zu sehen war, wollte beinah ein kleiner Schimmer von Heiterkeit in demselben aufzucken, der aber bald wieder verschwand, so wie auch die Frau sich zurückzog.

Zunächst wußte Brandolf nichts weiter anzufangen; er hüllte sich in seinen schönen Schlafrock, tat Jacke und Zipfelmütze wieder an ihren Ort und nahm Platz auf einem der Diwans. Dort gewahrte er ein Klingelband von grünen und goldenen Glasperlen und zog mit Macht daran. Wie ein Wettermännchen erschien die Baronin auf der Schwelle, immer in ihrem grauen Schattenhabit mit dem kapuzenähnlichen Kopftuche. Brandolf wünschte seinem Schneider, der viele Straßen weit[507] wohnte, eine Botschaft zu senden. Die Baronin errötete; sie mußte selbst gehen, denn sie hatte sonst niemanden. Ob es so dringlich sei oder bis Nachmittag Zeit habe? fragte sie nach einem minutenlangen Besinnen. Allerdings sei es dringlich, meinte Brandolf, es müsse ein Knopf an den Rock genäht werden, den er gerade heut tragen wolle. Sie sah ihn halb an und war im Begriff, die Tür zuzuschlagen, drehte sich aber doch nochmals und fragte, ob sie den Knopf nicht ansetzen könne? ›Ohne Zweifel, wenn Sie wollten die Güte haben,‹ sagte Brandolf, ›er hängt noch an einem Faden; allein das darf ich Ihnen nicht zumuten!‹ – ›Aber eine halbe Stunde weit zu laufen?‹ erwiderte sie und ging, ein kleines, altes Nähkörbchen zu holen, in welchem ein Nadelkissen und einige Knäulchen Zwirn lagen. Brandolf brachte den Rock herbei, und die vornehme Wirtin nähte mit spitzen Fingerchen den Knopf fest. Da sie mit der Arbeit ein wenig ins hellere Licht stehen mußte, sah Brandolf zum ersten Mal etwas deutlicher einen Teil ihres Gesichtes, ein rundlich feines Kinn, einen kleinen, aber streng geformten Mund, darüber eine etwas spitze Nase; die tief auf die Arbeit gesenkten Augen verloren sich schon im Schatten des Kopftuches. Was aber sichtbar blieb, war von einer fast durchsichtigen weißen Farbe und mahnte an einen Nonnenkopf in einem altdeutschen Bilde, zu welchem eine etwas gesalzene und zugleich kummergewohnte Frau als Vorbild diente.

Es blieb aber nicht viel Zeit zu dieser Wahrnehmung; denn sie war im Umsehen fertig und wieder verschwunden.

Für den ersten Tag war Brandolf nun zu Ende, und so vergingen auch mehrere Wochen, ohne daß sich etwas ereignete, das ihm zum Einschreiten Ursache gegeben hätte. Er mußte sich also aufs Abwarten, Beobachten und Erraten des Geheimnisses beschränken; denn ein solches war offenbar vorhanden, obgleich die Frau hinsichtlich ihrer Bösartigkeit verlästert wurde. Da fiel ihm nun zunächst auf, daß der Teil der Wohnung, wo sie hauste, immer unzugänglich und verschlossen blieb; es war auch nichts[508] weiter als eine Küche, ein einfenstriges schmales Zimmer und ein kleines Kämmerchen. Dort mußte sie Tag und Nacht mutterseelenallein verweilen, da außer einem Bäckerjungen man niemals einen Menschen zu ihr kommen hörte. Ein einziges Mal konnte Brandolf einen Blick in die Küche werfen, welche mit sauberem Geräte ausgestattet schien; aber kein Zeichen bekundete, daß dort gefeuert und gekocht wurde. Nie hörte er einen Ton des Schmorens oder ein Prasseln des Holzes, oder ein Hacken von Fleisch und Gemüse oder den Gesang von gebratenen Würsten oder auch nur von armen Rittern, die in der heißen Butter lagen. Von was nährte sich denn die Frau? Hier begann dem neugierigen Mietsmann ein Licht aufzugehen: wahrscheinlich von gar nichts! Sie wird Hunger leiden – was brauch ich so lange nach der Quelle ihres Verdrusses zu forschen! Ein Stück Elend, eine arme Baronin, die allein in der Welt steht, wer weiß durch welches Schicksal!

Er genoß im Hause nichts als jeden Morgen einen Milchkaffee mit ein paar frischen Semmeln, von denen er jedoch meistens die eine liegenließ. Da glaubte er denn eines Tages zu bemerken, daß Frau Hedwig von Lohausen, als sie das Geschirr wegholte, mit einer unbewachten Gier im Auge auf den Teller blickte, ob eine Semmel übrig sei, und mit einer unbezähmbaren Hast davoneilte. Das Auge hatte förmlich geleuchtet wie ein Sterngefunkel. Brandolf mußte sich an ein Fenster stellen, um seiner Gedanken Herr zu werden. Was ist der Mensch, sagte er sich, was sind Mann und Frau! Mit glühenden Augen müssen sie nach Nahrung lechzen, gleich den Tieren der Wildnis!

Er hatte diesen Blick noch nie gesehen. Aber war für ein schönes, glänzendes Auge war es bei alledem gewesen!

Mit einer gewissen Grausamkeit setzte er nun seine Beobachtung fort; er steckte das eine Mal die übrigbleibende Semmel in die Tasche und nahm sie mit fort; das andere Mal ließ er ein halbes Brötchen liegen, und das dritte Mal alle beide, und stets glaubte er an dem Auf- und Niederschlagen der Augen, an dem[509] raschern oder langsamern Gange die nämliche Wirkung warhzunehmen und überzeugte sich endlich, daß die arme Frau kaum viel anderes genoß, als was von seinem Frühstück übrigblieb, ein paar Schälchen Milch und eine halbe oder ganze Semmel.

Nun nahm die Angelegenheit eine andere Gestalt an; er mußte jetzt trachte, die wilde Katze, wie er sie wegen ihrer Unzugänglichkeit nannte, gegen ihren Willen ein bißchen zu füttern, nur vorsichtig und allmählich. Er gab vor, zu einem spätern Frühstück, das er sonst außerhalb einnahm, nicht mehr ausgehen zu wollen, und bestellte sich eine tägliche Morgenmahlzeit mit Eiern, Schinken, Butter und noch mehr Semmeln. Davon ließ er dann den größern Teil unberührt, in der Hoffnung, die arme Kirchenmaus werde davon naschen. Das mochte auch während einiger Tage geschehen; dann aber schien sie den Handel zu wittern, wurde mißtrauisch und bemerkte eines Morgens, er möchte entweder weniger bestellen oder über die Reste in irgendeiner Weise verfügen, und zuletzt nahm sie auch die Semmel nicht mehr, die übrigblieb. Da wußte er nun wieder nichts mit ihr anzufangen.

Eines Tages, als er von einem Ausgange nach Hause kam, traf er sie auf dem Hausflur bei einer Gemüsefrau, welche auf ihrem Kärrchen einen prächtigen Nelkenstock zu verkaufen hatte, der trotz der vorgerückten Jahreszeit noch ganz voll von hochroten Nelken blühte. Die Baronin nahm den Topf in die Hand und drückte schnell ein wenig das Gesicht in die Blumen, offenbar von einem Heimweh nach dergleichen ergriffen; sie fragte zögernd um den Preis, schüttelte den Kopf, gab den Stock zurück und schlurfte eilig davon. Brandolf erstand sogleich das Gewächs, hoffend, es ihr noch auf der Treppe aufdrängen zu können; sie war aber schon in ihrem Malepartus verschwunden, und er trug den Nelkenstock in seine Wohnung, wo er denselben auf sein Tischlein stellte, das er nebst einem Stuhle zum Lesen an ein Fenster gerückt hatte. Sorgfältig legte er jedoch zur Schonung des Tischchens einen Quartanten unter den Topf.[510]

Später begab er sich wieder weg, um zu Tische zu gehen, und da es zu regnen begann, versah er seine Füße mit Gummischuhen. Daher war sein Schritt unhörbar, als er nach einigen Stunden zurückkehrte und ins Zimmer trat. Unter der geöffneten Türe stehend, sah er die Frau auf dem Stuhle vor dem Nelkenstocke sitzen, einen Staubwedel in der Hand. Sie lehnte müde zurück und war eingeschlafen, die Hände mit dem Wedel im Schoße. Leise schloß er die Türe und schlich nach dem Sofa, von wo aus er mit verschränkten Armen die schlafende Frau aufmerksam betrachtete. Man konnte nicht sagen, daß es gerade ein ausdrücklicher Gram war, der auf dem Gesichte lagerte; er glich sozusagen mehr einer Abwesenheit jeder Lebensfreude und jeder Hoffnung, einer Versammlung vieler Herrlichkeiten, die nicht da waren. Einzig an den geschlossenen Wimpern schienen zwei Tränen zu trocknen, aber ohne Weichmut, wie ein paar achtlos verlorene Perlen.

Desto weichmütiger wurde Brandolf von dem Anblick; je länger er hinsah, um so enger schloß er ihn ans Herz; er wünschte dies unbekannte Unglück sein nennen zu dürfen, wie wenn es der schönste blühende Apfelzweig gewesen wäre oder irgendein anderes Kleinod. Er hatte sein Leben lang etwas Närrisches an sich und soll es jetzt noch haben, insofern man das närrisch nennen kann, was einem nicht jeder nachtut.

Plötzlich erschütterte sich die Schläferin wie von einem unwilligen oder ängstlichen Traume und erwachte. Verwirrt sah sie sich um, und als sie den Mann mit dem teilnehmenden Ausdruck im Gesichte wahrnahm, raffte sie sich auf und bat, mit milderen Worten, als sie bisher hatte hören lassen, um Entschuldigung. Sie tat sogar ein übriges und fügte zur Erklärung bei, Nelken seien ihre Lieblingsblumen und sie habe dem Gelüste nicht widerstehen können, ein wenig bei dem schönen Stock auszuruhen, wobei sie leider eingeschlafen. Einst habe sie über hundert solcher Stöcke gepflegt, einer schöner als der andere und von allen Farben.[511]

›Darf ich Ihnen diesen anbieten, Frau Baronin?‹ sagte Brandolf, der sich sogleich erhoben hatte, ›ich habe ihn unten gekauft, als ich sah, daß Sie die Pflanze in die Hand genommen und mit Gefallen betrachteten.‹

Das milde Wetter war aber schon vorüber. Mit Rot übergossen schüttelte sie den Kopf. ›Bei mir ist zu wenig Licht dafür‹, sagte sie, ›hier steht er besser!‹ Als ob es sie gereute, schon so viel gesprochen zu haben, grüßte sie knapp, ging hinaus und ließ sich die folgenden Tage kaum blicken.

Endlich brachte sie die erste Monatsrechnung, auf einen Streifen grauen Papiers geschrieben. Er las sie absichtlich nicht durch; mit dem innerlichen Wunsche, sie möchte recht hoch sein, bezahlte er den Betrag, der jedoch die Ausgabe keineswegs überschritt, auf die er zu rechnen gewohnt war. Während er das Geld hinzählte, stand die sonderbare Wirtin, wie ihm schien, eher in furchtsamer als in trotziger Haltung lautlos da, wie wenn sie der gewohnten Aufkündigung entgegensähe. Aber entschlossen, durchaus ein Licht in das Dunkel dieses Geheimnisses zu bringen, ließ er sie hinausgehen, ohne die geringste Lust zum Ausziehen zu verraten. Neugierig, wie es sich mit ihren Rechnungskünsten verhalte, studierte er gleich nachher den Zettel und fand ihn nicht um einen Pfennig übersetzt; dagegen war jedesmal, wo er beim Frühstück nur ein Brötchen gegessen, das zweite übriggebliebene nicht aufgeschrieben. Nun wurde er gar nicht mehr klug aus der ganzen Geschichte, zumal er beim Weggehen gegen Abend zum ersten Male von der Gegend der Küche her ein schüchternes Knallen wie von einem brennenden Holzscheitlein hörte und den Geruch von einer guten gebrannten Mehlsuppe empfand, die mitzuessen ihn seltsam gelüstete. Nun war er überzeugt, daß die Baronin erst jetzt sich etwas Warmes zu kochen erlaubte. Am Ende, dachte er, tut sie das alle Monat einmal, wenn die Rechnung bezahlt wird, wie die Arbeiter am sogenannten Zahltage ins Wirtshaus zu gehen pflegen![512]

Und in der Tat war von der üppigen Kocherei schon am nächsten Tage nichts mehr zu verspüren.

Um die Mitte des Monats Oktober kam es zu einer fast ebenso langen Unterredung, wie die von dem Nelkenstock war. Die Baronin machte Brandolf aufmerksam, daß jeden Tag der Winter eintreten und die Feuerung in den Öfen nötig werden könne, und sie fragte, ob er Holz wolle anfahren lassen und wieviel? Und es kam ihm vor, als ob sie mit einiger Spannung auf die Antwort warte, aus welcher sie ersehen konnte, ob er bis zum Frühjahr zu bleiben gedenke. Er nannte ein so großes Quantum, daß man alle Öfen der ganzen Wohnung damit heizen und auch auf dem Herde ein lustiges Feuer bis in den Mai hinaus unterhalten konnte. Zugleich übergab er ihr eine Banknote mit der Bitte, alles Nötige zu besorgen, den Einkauf und das Kleinmachen des Holzes; sie nahm die Note und verrichtete das Geschäft mit aller Sorgfalt und Sachkunde. Es dauerte auch kaum acht Tage, so fing es an zu schneien, und jetzt mußte die einsame Wirtin sich öfter sehen lassen, da sie die drei Öfen ihres Mietsherrn selbst einfeuerte und mit Holzherbeitragen und allem andern genug zu tun hatte. Sie bekam dabei rußige Hände und ein rauchiges Antlitz und sah bald völlig einem Aschenbrödel gleich.

Wenn Brandolf aber gehofft, sie werde nicht so dumm sein und auch ihr eigenes Wohngelaß etwas erwärmen, so hatte er sich darin getäuscht, denn so wenig als im Sommer konnte er gewahren, daß dort das kleinste Feuerchen entfacht wurde. Und doch war inzwischen die Kälte stärker und anhaltend geworden; wenn die Baronin ihre Geschäfte beendigt hatte, so mußte sie sich einsam im kalten Gemache aufhalten, und Gott mochte wissen, was sie dort tat. Auch wurde sie ersichtlich immer blasser, spitziger und matter, und es schien ihm, als ob sie die Holzkörbe jeden Tag mühsamer herbeischleppte, so daß es ihm, der ohnedies ein gefälliger und galanter Mann war, ins Herz schnitt. Allein jeden Versuch, sie zum Sprechen zu bringen und[513] eine Hilfe einzuleiten, lehnte sie beharrlich ab, wie wenn sie sich so recht vorsätzlich aufreiben wolle. Er aber war ebenso hartnäckig und wartete auf den Augenblick, der schließlich nicht ausbleiben konnte.

Indessen wurde die Zeit doch etwas lang in Hinsicht auf seine Verhältnisse. Sein verwitweter Vater war ein großer Gutsbesitzer und ein sehr reicher Mann, welcher wünschte, daß der einzige Sohn bei ihm lebte und die Verwaltung der Güter übernahm. Auf der andern Seite war der Sohn ein entschiedenes juristisches Talent und ein gut empfohlener junger Mann, welcher von oben dringend zum Staatsdienste aufgefordert und ermuntert wurde. Er war auch nach der Hauptstadt gekommen, um sich die Dinge näher anzusehen und sich für einstweilen zu entschließen, wenn auch nicht für immer. Täglich einige Stunden auf dem Ministerium als Freiwilliger arbeitend und im übrigen ein etwas wähliger reicher Muttersohn, ließ er sich mit aller Gemächlichkeit Raum, zum Entschlusse zu kommen. Doch wurde soeben von neuem in ihn gedrungen, da man ihn zu einer bestimmten Funktion ausersehen hatte, die seinen Aufenthalt in einem entlegenen Landeskreise erforderte. Er aber wollte den Abschluß seines Abenteuers in der Mietswohnung durchaus nicht fahrenlassen, der Vater drang ebenfalls auf Erfüllung seines Wunsches, und so lag er eines Morgens länger im Bette als gewöhnlich und sann über den Ausweg nach, den er zu ergreifen habe. Endlich gelangte er zu der Meinung, daß er ja ganz füglich seine juristischen Kenntnisse und amtlichen Beziehungen benutzen könne, um im stillen und mit aller Schonung über die Vergangenheit und Gegenwart der Baronin die wünschbaren Aufschlüsse zu sammeln und je nach Befund und Umständen der verlassenen Frau eine bessere Lage zu verschaffen oder aber sie aus dem Sinne zu schlagen und sein Unternehmen als ein verfehltes aufzugeben.

Mit diesem Vorsatz kleidete er sich an und eilte, seinen Morgenkaffee zu nehmen, um sich ungesäumt auf den Weg zu[514] machen. Allein trotz der vorgerückten Stunde war das Kaffeebrett nicht an der gewohnten Stelle zu erblicken; die Zimmer waren erkaltet und in keinem Ofen Feuer gemacht. Verwundert machte er eine Türe auf und horchte in den Flur hinaus; es war nichts zu sehen und zu hören. Er zog die bewußte schöne Klingelschnur, aber es blieb totenstill in der Wohnung. Besorgt schritt er den Gang entlang, bis er an die Küchentüre gelangte, und klopfte dort erst sanft, dann stärker, ohne daß ein Lebenszeichen erfolgte. Er öffnete die Türe, durchschritt die stille Küche bis zu einer andern Türe, welche in die Wohnstube der Baronin führen mußte. Dort pochte er wiederum behutsam und lauschte und horchte, hörte aber nichts als ein ununterbrochenes heftiges Atmen und zeitweiliges Stöhnen. Da öffnete er auch diese Türe und trat in das tiefe und düstere Zimmer, dessen kahle Wände von der Kälte bis zum Tropfen feucht waren; das nach dem Hofe hinausgehende Fenster bedeckte ein einfacher weißer Vorhang samt der dicken Stickerei von Eisblumen. Auf einem elenden Bette, das aus einem Strohsacke, einem groben Leintuche und einer jämmerlich dünnen Decke bestand, lag die Baronin. Eine schmale, feine Gestalt zeichnete sich durch die Decke hindurch; der blasse Kopf lag auf einem ärmlichen Kissen und das feuchte nußbraune Haar in verworrenen Strähnen um das Gesicht herum, das mit offenen Augen an die geweißte feuchte Decke starrte. Sie war mit einem dünnen Flanelljäckchen angetan; die Arme und Hände, die auf der Wolldecke lagen, schlotterten demnach von Kälte und Fieber zugleich, und ebenso zitterte der übrige Körper sichtbar unter der Decke. Erschrocken trat Brandolf an das Bett und rief die Kranke an; sie drehte wohl die Augen nach ihm, schien ihn aber nicht zu erkennen; doch bat sie mit schwacher Stimme hastig um Wasser. Stracks lief er in die Küche zurück, fand dort Wasser und füllte ein Glas damit. Er mußte ihr den Kopf heben, um ihr dasselbe an den Mund zu bringen; mit beiden Händen hielt sie seine Hand und das Glas fest und trank es begierig aus. Dann legte sie den Kopf[515] zurück, sah den fremden Mann einen Augenblick an und schloß hierauf die Augen.

›Kennen Sie mich nicht? wie geht es Ihnen?‹ sagte Brandolf und suchte an ihrem dünnen und weißen Handgelenk den Puls zu finden, der sich mit seinem heftigen Jagen bald genug bemerklich machte. Als sie nicht antwortete, noch die Augen öffnete, eilte er zu der Hausmeisterin hinunter, die im Erdgeschoß hauste, und forderte sie auf, zu der Erkrankten zu gehen und Hilfe zu leisten, während er einen Arzt herbeihole. Er selbst machte sich unverzüglich auf den Weg, dies zu tun; er war dem bewährten ärztlichen Vorsteher eines Krankenhauses befreundet und suchte ihn an der Stätte seiner vormittäglichen Tätigkeit auf. Der Arzt beendete so rasch als möglich die noch zu verrichtenden Geschäfte und fuhr dann unverweilt mit dem Freunde, den er in seinen Wagen nahm, nach dessen Wohnung. ›Du hast da eine wunderliche Wirting gewählt,‹ sagte er scherzend; ›am Ende, wenn sie stirbt, bekommst du noch Pflegekosten, Begräbnis und Grabstein auf die Rechnung gesetzt und kannst alsdann ausziehen!‹

›Nein, nein!‹ rief Brandolf, ›sie darf nicht sterben! Ich hab es einmal auf dies mysteriöse Bündel Unglück abgesehen, und es ist mir fast zu Mut wie einem schwachen Weibe, dem das Kind erkrankt ist!‹

Er erzählte dem Arzte, solange der Weg es noch erlaubte, einiges von der Lebensart der Baronin. Jener schüttelte immer verwunderter den Kopf. ›Lohausen!‹ sagte er, ›wenn ich nur wüßte, wo ich den Namen schon gehört habe! Gleichviel, wir wollen sehen, was zu tun ist!‹

›Das ist ja ein vertracktes Loch!‹ rief er dann, als er das feuchte, kalte und finstere Zimmer betrat, in dem die Kranke lag. Sie war jetzt bewußtlos und hatte sich nach Aussage der Hausmeisterin nicht geregt, seit Brandolf fortgegangen. Nach kurzer Betrachtung erklärte der Arzt den Zustand für den lebensgefährlichen Ausbruch einer tiefen Erkrankung. ›Vor allem muß sie hier weg‹, sagte er, ›und in ein rechtes Bett in[516] guter Luft! In meinen Krankensälen wird sich leicht ein Platz finden, wenn wir sie hineinbringen; die Einzelzimmer sind freilich im Augenblicke alle in Anspruch genommen.‹

›Wir können die menschenscheue Frau nicht dem Momente aussetzen, wo sie am unbekannten Orte und unter einer Menge fremder Gesichter zu sich kommt‹, versetzte Brandolf, der das Kleinod seiner Teilnahme nicht aus dem Hause lassen wollte. ›Und überdies‹, sagte er, ›haben wir es hier sichtlich mit verborgener und arg verschämter Armut zu tun, deren Gemütsbewegungen auch berücksichtigt sein wollen. Ich kann mein äußerstes Zimmer ganz gut entbehren; dort bringt man sie hin, setzt eine zuverlässige Wärterin hinein und schließt das Zimmer nach meiner Seite her ab, so sind beide Parteien ungestört. Hätten wir nur erst das Bett!‹

›Ich habe hier neben in die Kammer hineingeguckt‹, berichtete jetzt die Haumeisterin, ›und gesehen, daß die Stücke eines vollständigen schönen Bettes dort beieinander liegen. Der Himmel mag wissen, warum die wunderliche Dame auf diesem Armesünderschragen schläft, während sie ein so gutes Lager vorrätig hat!‹

›Das will ich Euch sagen, Frau Hausmeisterin!‹ sprach Brandolf, ›sie tut es, weil sie das gute Bett spart, um nötigenfalls zwei Mieter einlogieren zu können. So viel habe ich gesehen, daß sie wahrscheinlich ihr Leben lang gewöhnt war, mit dem Entbehren an sich selbst anzufangen, vielleicht nicht aus Güte, sondern weil sie es für notwendig hielt. Denn die kleine, schmale Weibsgestalt unter dieser Decke ist ein wahrer Teufel von Unerbittlichkeit gegen sich und andere.‹

Der Arzt aber warf nur ein: ›So will ich eine gute Wärterin, die ich kenne, gleich selbst aufsuchen und hersenden.‹ Worauf er sich in seiner Kutsche wieder entfernte, nachdem er noch angedeutet, er werde Verhaltungsbefehle und Anordnungen der Wärterin mitgeben. Auch die Hausmeisterin mußte sich in eigenen Geschäften zurückziehen, und Brandolf saß allein am Leidensbette[517] der Fieberkranken, bis die Wärterin mit ihrem Korbe und ihren Siebensachen anlangte, von der Hausmeisterin begleitet. Zuerst wurde nun das bessere Zimmer eingerichtet und das gute Bett darin aufgeschlagen und sodann die Übersiedelung der Baronin bewerkstelligt. Als die beiden Frauen sich nicht recht anzuschicken wußten, nahm Brandolf das kranke Aschenbrödel, in seine Decke gewickelt, kurzweg auf den Arm und trug es so sorglich, wie wenn es das zerbrechliche Glück von Edenhall gewesen wäre, hinüber und ließ hierauf die Weiber das Ihrige tun. Beide versorgte er mit dem nötigen Geld, um alles Erforderliche vorzusehen und empfahl ihnen, die treulichste Pflege zu üben. Für sich selber bestellte er noch eine besondere Aufwärterin, welche des Morgens herkam und den Tag über dablieb, so daß es in der sonst so stillen Küche auf einmal lebendig wurde.

Etwas länger als zwei Wochen blieb die Kranke bewußtlos, und der Arzt versicherte mehrmals, daß in dem zarten Körper eine gute Natur stecken müsse, wenn er sich erholen solle. Es geschah dennoch; die Fieberstürme hörten auf, und eines Tages schaute sie still und ruhig um sich. Sie sah das schöne Zimmer mit ihrem eigenen Geräte, die freundliche Wärterin und den behäbigen Doktor, der mit tröstlichen Mienen und Worten an ihr Lager trat; aber sie frug nicht nach den Umständen, sondern überließ sich der schweigenden Ruhe, wie wenn sie fürchtete, derselben entrissen zu werden. Erst am zweiten oder dritten Tage fing sie an zu fragen, was mit ihr geschehen sei und wer für sie gesorgt habe. Als sie vernahm, daß es der Herr Mietsmann sei, schwieg sie wieder und lag lange in stillem Nachsinnen; aber der Trotz schien gebrochen, die Nachricht sie eher ein wenig zu beleben als zu beunruhigen.

Als Brandolf von der besseren Wendung hörte, wurde er sehr zufrieden und empfand etwas wie das Vergnügen eines Kindes, wenn ein lieber Gast im Hause sitzt und nun allerlei angenehme und merkwürdige Dinge in Aussicht stehen. Wie[518] wenig braucht es doch, dachte er im stillen, um sich selber einen Hauptspaß zu bereiten, und was für schöne Gelegenheiten liegen immer am Wegrande bereit, wenn man sie nur zu sehen wüßte!

Inzwischen hatte sich die Kunde von der erkrankten und von ihm verpflegten adeligen Wirtsfrau weiter verbreitet, und er bekam in den Kreisen, die er besuchte, davon zu hören, was ihn keineswegs belästigte. Er machte sich nur darüber lustig, daß er in das Haus gezogen sei, einen ungerechten Drachen zu bändigen, und statt dessen nun den Kranken- und Armenpfleger spielen müsse. Durch das Gerede entwickelten sich dagegen ein paar dürftige Angaben über das Vorleben des Pfleglings. Als die Tochter eines im Nachbarstaate seßhaft gewesenen und verstorbenen Freiherrn von Lohausen sei sie mit einem Rittmeister von Schwendtner verheiratet worden, habe sich aber nach einer dreijährigen unglücklichen Ehe von ihm scheiden lassen, und der etc. Schwendtner sei dann in übeln Umständen verschollen. Brandolf empfand sogleich eine sonderbare Eifersucht gegen den Unbekannten und eine zornige Straflust, nicht bedenkend, daß er den Mann am Ende auch noch pflegen müßte, wenn er denselben in die Hände bekäme.

Nach ungefähr weiteren acht Tagen befand sich die Baronin entschieden auf dem Wege der Genesung, wenn keine schlimmen Einflüsse dazukamen. Brandolf war sehr begierig, das gerettete Wesen anzusehen, und ließ durch die Wärterin ordentlich anfragen, ob die Frau Baronin seinen Besuch empfangen würde. Denn er wollte auch im Punkte der Höflichkeit zur Befestigung ihrer Gesundheit beitragen und gutmachen, was sie als dienende Wirtin in ihrer Vermummung erlitten haben mochte. Kurzum, es sollte alles wohlsinnig und freundlich hergehen, solange er die Hand im Spiele hatte.

Als er den Bericht erhielt, daß sie seinen Besuch erwarten wolle, zog er einen Ausgehrock und Handschuh' an und begab sich in das Krankenzimmer hinüber.[519]

Er erstaunte nicht wenig, sie in ihrem hübsch zugerüsteten Bette liegen zu sehen, und hätte sie beinahe nicht wiedererkannt, angetan, wie sie war, mit reinlich weißem Gewande und mit dem vergeistert weißen Gesichte, das von dem leicht, aber schicklich geordneten Haar umrahmt wurde. Sie richtete mit großem Ernste die Augen auf ihn, als er auf einem Stuhle Platz nahm, den die Wärterin neben das Bett gestellt hatte. Ihr Blick haftete zerstreut und aufmerksam zugleich an seinem Gesichte und schien dasselbe neugierig zu prüfen, während er nach ihrem Befinden frug und seine Zufriedenheit über ihre Wiedergenesung ausdrückte.

›Ihr Freund, der gute Herr Doktor‹, sagte sie leis, ›meint, ich werde gesund werden.‹

›Er ist davon überzeugt und ich auch, denn er versteht es!‹ erwiderte Brandolf, und sie fuhr fort:

›Sie haben es nicht gut getroffen mit Ihrer Wohnung! Statt besorgt und bedient zu werden, wie es sich gehört, mußten Sie die Wirtin versorgen und verpflegen lassen, die Sie nichts angeht!‹

›Ich hätte es ja nicht besser treffen können‹, antwortete er mit offenherzigem Vergnügen; ›tun Sie uns nur den Gefallen und lassen sich ferner recht geduldig pflegen und nichts anfechten! Nicht wahr, Sie versprechen es?‹

Er hielt ihr unbefangen und zutraulich die Hand hin, und sie legte ihre fast wesenlose blasse Hand hinein, die nur durch die Schwäche ein kleines Gewicht erhielt. Zugleich bildete sich auf dem ernsten Munde ein ungewohntes, unendlich rührendes Lächeln, wie bei einem Kinde, das diese Kunst zum ersten Male lernt; dasselbe machte aber Miene, in ein weinerliches Zucken übergehen zu wollen. Brandolf verschlang das flüchtige kleine Schauspiel mit durstigen Augen; da er sich jedoch erinnerte, daß er die Kranke nicht lang hinhalten und aufregen durfte, so drückte er sanft ihre Hand und empfahl sich.[520]

Er eilte aber auch um seiner selbst willen davon, weil es ihn an die freie Luft drängte, ein Freudenliedchen zu pfeifen, das er schon begann, während er Mantel und Hut an sich nahm, um zum Mittagsmahl zu gehen. Fröhlich begrüßte er die tägliche Tischgesellschaft und verführte die Herren sogleich zu einem außergewöhnlichen Gütlichtun, indem er eine Flasche duftenden Rheinweins bestellte. Einer nach dem andern folgte dem Beispiel; es entstand eine bedeutende Heiterkeit, ohne daß jemand wußte, was eigentlich die Ursache sei. Schließlich wurde Brandolf als Urheber ins Gebet genommen.

›Ei‹, sagte er, ›meine Katze hat Junge, und als ich heut eines der Tierchen in die Hand nahm, gingen ihm in demselben Augenblicke die Äuglein auf, und ich sah mit ihm die Welt zum ersten Mal.‹

Die Herren schüttelten lachend die Köpfe ob dem Unsinn; Brandolf hingegen wurde am gleichen Nachmittage noch sehr scharfsinnig. Denn als er tatlustig auf sein Bureau ging, wo er die Akten eines in der Provinz hausenden höhern Justizbeamten zu prüfen hatte, arbeitete er mit so vergnüglich hellem Geiste, daß eine ausgezeichnete Kritik zustande kam, infolge welcher jener ungerechte Mann aus der Ferne erheblich beunruhigt, gemaßregelt und endlich sogar entsetzt wurde, alles wegen des jungen Kätzleins, dessen Welterblickung Brandolf gefeiert haben wollte.

Am nächsten Tage wiederholte er seinen Besuch und brachte der Baronin einige zartgefärbte junge Rosen, die er im Gewächshause eines Gärtners zusammengesucht. Sie hielt dieselben in der Hand, die auf der Decke ruhte. Dergleichen Artigkeit hatte sie noch nie erlebt und vielleicht auch niemals verlangt. Es war daher wie eine erste Erfahrung in ihrem neu beginnenden Leben, und nach Maßgabe der noch nicht zu Kräften gekommenen Herzschläge verbreitete sich ein schwacher rötlicher Schimmer, gleich demjenigen auf den Rosen, über die blassen Wangen. Gleichzeitig verband sich mit dem Schimmer[521] ein schon lieblich ausgebildetes Lächeln, vielleicht auch zum ersten Male in dieser Art und auf diesem Munde. Es erinnerte fast an den Text eines alten Sinngedichtes, welches heißt: ›Wie willst du weiße Lilien zu roten Rosen machen? Küß eine weiße Galathee: sie wird errötend lachen.‹ Von einem Kusse war freilich da nicht die Rede.

Brandolf sorgte jetzt jeden Tag um etwas Erquickliches für die Augen oder den Mund, wie es der Arzt erlaubte, und die Genesende ließ es sich gefallen, da es ja doch ein Ende nehmen mußte. Nach Ablauf einer weiteren Woche verkündigte die Wärterin, daß die Baronin aufgestanden sei und Brandolf sie im Lehnstuhle finden werde. So war es auch. Sie trug ein bescheidenes altes Taftkleid und ein schwarzes Spitzentüchlein um den Kopf; immerhin sah man, daß sie dem Besuch Ehre zu erweisen wünschte. Sie blickte mit sanftem Ernste zu ihm auf, als er Glück wünschend eintrat und auf ihren Wink sich setzte.

›Wie ich damals mit einem Messer nach ihrer Sohle stach‹, sagte sie, ›dachte ich nicht, daß ich einst so Ihnen gegenübersitzen werde!‹

›Es war ein sehr lieber Stich; denn er ist die Ursache unserer guten Freundschaft und ohne ihn würde ich kaum je Ihr Zimmerherr geworden sein‹, antwortete Brandolf, ›weil ich kam, um Sie dafür zu strafen.‹

›Sie haben freilich Kohlen auf mein Haupt gesammelt‹, sagte sie traurig, ›indem Sie wahrscheinlich mein Leben gerettet haben. Aber Sie griffen zugleich in dies gerettete Leben ein, weil ich es nun ändern muß. Ich erfahre, daß ich nicht auf die bisherige selbständige Weise bestehen kann, und ich will versuchen, irgendwo als Wirtschafterin oder so was unterzukommen. Ich habe mir von der Wärterin und der Hausfrau soweit möglich die Ausgaben zusammentragen lassen, und um die Rechnung zu bereinigen und die nötigen Mittel für die nächste Zukunft zu gewinnen, gedenke ich nun, meinen Hausrat, das letzte, was ich besitze, zu veräußern, sobald ich vollständig hergestellt[522] bin. Ich muß Ihnen also die Wohnung kündigen und bitte Sie, mir das nicht ungut aufzunehmen. Sie tun es aber nicht, denn Sie sind der erste gute Mann, der mir vorgekommen ist, und es tut mir leid, Sie so bald verlieren zu müssen!‹

›Dieser Verlust wird Ihnen nicht so leicht gelingen!‹ rief Brandolf fröhlich und ergriff ihre Hand, die er festhielt. ›Denn Ihr Vorsatz trifft auf das Beste mit dem Plane zusammen, den ich für Sie entworfen habe! Glauben Sie denn, wir werden Sie so ohne weiteres wieder so allein in die Einöde hinauslaufen lassen?‹

›Ach Gott‹, sagte sie und fing an zu weinen, ›ich bin so gute Worte nicht gewohnt, sie brechen mir das Herz!‹

›Nein, sie werden es Ihnen gesund machen!‹ fuhr er fort, ›hören Sie mich freundlich an! Mein Vater lebt als verwitweter alter Herr auf seinen Gütern, während ich mich noch einige Zeit fernhalten muß. Unsere alte Wirtschaftsdame ist vor einem halben Jahre gestorben, und der Vater sehnt sich nach einer weiblichen Aufsicht. So lassen Sie sich denn zu ihm bringen, sobald Sie zu Kräften gekommen sind, und machen Sie sich nützlich, solange es Ihnen gefällt und bis sich etwas Wünschenswerteres zeigt! Daß Sie uns nützlich sein werden, bin ich überzeugt; denn ich halte die starre Entbehrungskunst, die Sie hier geübt haben, nur für die erkrankte Form eines sonst kerngesund gewesenen haushälterischen Sinnes, und ich weiß, daß Sie Ihren Untergebenen gerne gönnen werden, was ihnen gehört, wenn die Sachen vorhanden sind. Hab ich nicht recht?‹

Ihre Hand zitterte sanft in der seinigen, als sie leise sagte: ›Es tut freilich wohl, sich so beschreiben zu hören, und ich brauche gottlob nicht nein zu sagen!‹

Sie blickte ihn dabei mit Augen so voll herzlicher Dankbarkeit an, daß ihm über diesem neuen lieblichen Phänomen die Brust weit wurde.

›Also ist es abgemacht, daß Sie kommen?‹ fragte er hastig, und sie sagte: ›Ich finde jetzt nicht mehr die Kraft, es abzulehnen,[523] aber Sie müssen doch vorher vernehmen, wer ich bin und woher ich komme!‹

›Morgen plaudern wir weiter, es eilt nicht!‹ rief er mit eifriger Fürsorge und stand entschlossen auf, so ungern er ihre Hand fahrenließ, als er bemerkte, daß sie angegriffen, müde und hinwieder aufgeregt wurde.

Desto besser sah sie verhältnismäßig am andern Tage aus. Sie erhob sich von ihrem Sessel und ging ihm mit kleinen Schritten entgegen, als er kam. Doch nötigte er sie sofort zum Sitzen.

›Ich habe sehr gut geschlafen die ganze Nacht‹, sagte sie, ›und zwar so merkwürdig, daß ich fast während des Schlafes die Wohltat fühlte, wie wenn ich es wüßte.‹

›Das ist recht!‹ sagte er mit dem Behagen eines Gärtners, der ein verkümmertes Myrtenbäumchen sich neuerdings erholen und im frischen Grün überall die Blüten erwachen sieht. Denn er gewahrte mit Verwunderung, welch anmutigen Ausdruckes dieses Gesicht im Zustande der Zufriedenheit und Sorglosigkeit fähig war. Er nahm einen kleinen Spiegel, der in der Nähe stand, und hielt ihn der Frau vor mit den Worten: ›Schauen Sie einmal her!‹

›Was ist's?‹ sagte sie leicht erschrocken, indem sie in den Spiegel sah, aber nichts entdecken konnte.

›Ich meinte nur, wie schön Sie aussehen!‹

›Ich? Ich war nie eine Schönheit und bin es, kaum dem Grab entronnen, wohl am wenigsten!‹

›Nein, keine Schönheit, sondern etwas Besseres!‹

Das rote Fähnchen ihres Blutes flatterte jetzt schon etwas kräftiger an den weißen Wangen. Sie wagte aber nicht zu fragen, was er damit sagen wolle, und nahm ihm schweigend den Spiegel aus der Hand; und doch schlug sie mit einer innern Neugierde die Augen nieder, was das wohl sein möchte, was besser als eine Schönheit sei und doch im Spiegel gesehen werden könne. Brandolf bemerkte das nachdenkliche Wesen unter den Augendeckeln; er sah, daß es wieder Ungewohntes war, was ihr gesagt[524] worden, und da es ihr nicht weh zu tun schien, so ließ er sie ein Weilchen in der Stille gewähren, bis sie von selbst die Augen aufschlug. Es ging ein sogenannter Engel durch das Zimmer. Um nicht eine Verlegenheit daraus werden zu lassen, ergriff die Baronin das Wort und sagte: ›Es ist mir jetzt so ruhig zumute, daß ich glaube, Ihnen meine Angelegenheit ohne Schaden kurz erzählen zu können; es ist nicht viel.

Sie sehen in mir die Abkömmlingin eines Geschlechtes, das sich seit hundert Jahren nur von Frauengut und ohne jede andere Arbeit oder Verdienst erhalten hat, bis der Faden endlich ausgegangen ist. Jede Frau, die da einheiratete, erlebte das Ende ihres Zugebrachten, und immer kam eine andere und füllte wieder den Krug. Ich habe meine Großmutter noch gekannt, deren Vermögen der Großvater bequemlich aufbrauchte, bis der Sohn erwachsen und heiratsfähig war. Diesem verschaffte sie dann im Drange der Selbsterhaltung eine reiche Erbin aus ihrer Freundschaft, von welcher man wußte, daß ihr im Verlaufe der Zeit noch mehr als ein Vermögen zufallen würde, so daß es nach menschlicher Voraussicht endlich etwas hätte klecken sollen. Diese starb aber noch in jungen Jahren, nachdem sie zwei Knaben zur Welt geboren hatte, und weil nun möglicherweise zwei Nichtstuer mehr dem Hause heranwuchsen, ruhte jene nicht, bis sie dem Sohne, meinem Vater, eine zweite Erbin herbeilocken konnte, von der ich sodann das Dasein empfing. Allein ich erlebte noch, wie die Großmutter, ehe sie starb, ihre Sorge verfluchte, mit der sie die zwei jungen Weiber ins Unglück gebracht.

Der Vater verschwendete das Geld auf immerwährenden Reisen, da es ihm nie wohl zu Hause war. Mit den zunehmenden Jahren fing eine andere Torheit an, ihn zu besitzen, indem er sich an falsche Frauen hing, denen er Geld und Geldeswert zuwendete, was er aufbringen konnte. Sogar Korn und Wein, Holz und Torf ließ er vom Hofe weg und jenen zuführen, die alles nahmen, was sie erwischen konnten. Die heranwachsenden[525] Söhne verachteten ihn darum, taten es ihm aber nach und bestahlen das Haus, wo sie konnten, um sich Taschengeld zu machen. Niemand vermochte sie zu zwingen, etwas zu lernen, und als sie das Alter erreichten, wußten sie sogar dem Militärdienste aus dem Wege zu gehen, obgleich sie groß und gesund waren. Der Vater haßte sie und lauerte auf die Erbschaften, die ihrer von mütterlicher Seite her noch warteten, um als natürlicher Vormund das Vermögen seiner Söhne wenigstens noch während ein paar Jahren in die Hände zu bekommen. Allein sie wurden richtig volljährig, ehe die Glücksfälle rasch einer nach dem andern eintraten; und nun rafften sie ihren Reichtum zusammen und reisten miteinander in die Welt hinaus, um zu treiben, was ihnen wohlgefiel, und nicht einen Pfennig ließen sie zurück. Sie hingen aneinander wie die Kletten; während man sonst von einer Affenliebe spricht, hielten die zwei Brüder mit einer Art von Halunkenliebe zusammen und tun es wahrscheinlich jetzt noch, wenn sie noch leben; denn man weiß nicht, wo sie sind.

Der Vater wurde kränklich und starb, und nun war die Mutter mit mir allein auf dem verarmten Stammsitze zu Lohausen, den sie nie gesehen zu haben wünschte. Schon seit Jahren hatte sie zu retten gesucht, was zu retten war, und jetzt kämpfte sie wie ein Soldat gegen den Untergang. Von ihr lernte ich, fast von nichts zu leben und das Nichts noch zu sparen. Mit wenigen Leuten hielten wir uns auf dem Hofe, obgleich er schon verschuldet war. Früh und spät schaute die Mutter zur Sache; ihr Vermögen war verloren, aber noch hatte auch sie zu erben, und in dieser Hoffnung nur hielt sie sich aufrecht. Sie erlebte es aber nicht; als sie einen naßkalten Herbsttag hindurch auf dem Felde verweilte, um das Einbringen von Früchten selbst zu überwachen, trug sie eine Krankheit davon, die sie in wenigen Tagen dahinraffte.

Nun befand ich mich allein, aber nicht lange. Die letzte Erbschaft, die in das unselige Haus kam, fiel mir zu; sie betrug volle zweihunderttausend Taler. Mit ihr waren plötzlich auch die[526] Brüder wieder da, scheinbar in ordentlichen Umständen, obgleich von wilden Gewohnheiten. Sie brachten einen Rittmeister Schwendtner mit sich, einen hübschen und gesetzten Mann, der einen wohltätigen Einfluß auf sie zu üben und sie förmlich im Zaume zu halten schien, wenn sie allzusehr über die Stränge schlugen. Er war mit Rat und Tat bei der Hand und voll bescheidener Aufmerksamkeit, ohne das Hausrecht zu verletzen. Die Dienstboten schienen froh, einen kundigen Mann sprechen zu hören, denn sie waren freilich nicht mehr von der vorzüglichsten Art und verstanden selbst nicht viel. Trotzdem blieb ein Rest von Unheimlichkeit, der mir an allem nicht recht zusagte, und ich befand mich in ängstlicher Beklemmung. Allein vielleicht gerade wegen dieser Angst und in meiner Verlassenheit fiel ich der Bewerbung des Rittmeisters, die er nun anhob, zum Opfer; ich heiratete den Mann in tiefer Verblendung, ohne ein zarteres Gefühl, das ich nicht kannte, und nun fing meine Leidenszeit an.

Denn alles war eine abgekartete Komödie gewesen. Mein Vermögen wurde mir aus den Händen gespielt, ich wußte nicht wie, und angeblich in einer hauptstädtischen Bank sicher angelegt. Die Brüder verschwanden wieder, nachdem sie den Lohn ihres Seelenverkaufes mochten empfangen und sich vorbehalten haben, an dem Raube ferner teilzunehmen. Drei Jahre brachte ich unter Mißhandlungen und Demütigungen zu. Die Brüder habe ich nicht mehr gesehen. Mein Mann war häufig oder eigentlich meistens abwesend, bis er eines Tages mit einer ganzen Gesellschaft halb betrunkener Männer zu Pferde und zu Wagen auf dem Hofe ankam und mir befahl, eine gute Bewirtung zuzurüsten. Ich tat, was ich vermochte, während die Männder auf das Pistolenschießen gerieten. Ich hatte ein krankes Kind in der Wiege liegen, welches ich einen Augenblick zu sehen ging; es war nach langem Wimmern ein wenig eingeschlafen. Da kam Schwendtner mit der Pistole in der Hand und verlangte, ich sollte »seinen Jungen« der Gesellschaft vorweisen. Ich machte[527] ihn auf den Schlaf des armen Kindes aufmerksam. Er aber rief: »Ich will dir zeigen, wie man ein Soldatenkind munter macht!« und schoß die Pistole über dem Gesichtchen los, daß die Kugel dicht daneben in die Wand fuhr. Er schreckte erbärmlich auf und verfiel in tödliche Krämpfe; es war auch in drei Tagen dahin. An jenem Tage aber zwang mich der Unhold, beim Essen mit zu Tisch zu sitzen. Um Ruhe zu bekommen, tat ich es für einige Minuten, und da insultierte er mich vor dem ganzen Troß mit ehrlosen Worten, die nur ein Verworfener seiner Frau gegenüber in den Mund nimmt. Ich stand auf und schwankte zu meinem in Zuckungen liegenden Kinde.

Inzwischen fuhr die Gesellschaft wieder davon, wie sie gekommen war. Nachher starb, wie gesagt, das Kind; ich begrub es in der Stille, ohne den Mann zu benachrichtigen, und verließ nachher das Lumpenschloß, dessen Namen mir leider geblieben ist. Durch den Verkauf meiner mütterlichen Schmucksachen gewann ich die Mittel, einen Advokaten zu nehmen, der mich von dem Manne befreite und die Auseinandersetzung besorgte, die damit endete, daß ich nicht einen Taler mehr von dem Meinigen zu sehen bekam. Alles war verschwunden, obschon schwerlich aufgebraucht in so wenig Jahren. Schwendtner wurde nicht lange nachher wegen einer andern Niederträchtigkeit aus dem Offiziersstande gestoßen und soll sich eine Zeitlang mit meinen Brüdern als Spieler herumgetrieben haben. Zuletzt sollen alle drei miteinander ins Gefängnis gekommen sein. Das Gut Lohausen wurde verkauft, und ich behielt nichts als die hausrätliche Einrichtung, mit der ich, wie Sie sehen, mich als Zimmervermieterin durchzubringen gesucht habe, freilich mit wenig Glück. Seit zwei Jahren ziehe ich in dieser Stadt, wo mich niemand leiden mag, von einem Haus in das andere, immer von der Angst gehetzt, die Miete nicht zusammenbringen zu können. So ist am hellen Tage das Kunststück fertiggebracht worden, daß eine schwache Frau fast verhungern mußte, während drei baumstarke Männer unbekannt wo, ihr rechtmäßiges Erbe vergeudeten.[528] Denn gewiß haben sie Teile davon in Sicherheit gebracht, wie ja die Diebe auch ihren Raub zu verbergen wissen und gemächlich hervorholen, wenn sie aus dem Zuchthaus kommen.‹

Nicht nur, weil sie mit ihrer Erzählung zu Ende war, sondern auch weil Brandolf Zeichen der Unruhe von sich gab und glühende Augen machte, hielt sie inne. Ehe sie jedoch seine Aufregung recht wahrnehmen konnte, hatte er den in ihm aufgestiegenen Grimm schon bezwungen, und verschluckte gewaltsam die Wut, die ihn gegen das Gesindel erfüllte, damit die genesende Frau nicht in Mitleidenschaft gerate, nachdem sie die Unglücksgeschichte so gelassen erzählt wie einen quälenden Traum, von dem man erwacht ist.

›Das ist nun vorbei und wird nicht wiederkommen!‹ sagte Brandolf ruhig und ergriff ihre Hand, die er sänftlich streichelte; denn er fing ein wenig an, sie wie eine wohlerworbene Sache zu behandeln oder ein anvertrautes Gut, für das man verantwortlich ist, das man aber dafür nicht aus der Hand läßt. So zog sich das neue Leben still und ruhig dahin, bis im sonnigen März der Arzt die Baronin für genesen und fähig erklärte, ohne Gefahr eine Reise anzutreten.

Jetzt wurde der ganze Hausrat, vor allem das Porzellan und Glas mit den unzähligen Wappen, verkauft; nur was zum Andenken an ihre Mutter dienen konnte, behielt sie, alles andere aber wollte sie, wo möglich, aus ihrem Gedächtnisse vertilgen.

Auch ließ sie ihren bescheidenen Kleidervorrat nach neuerem Zuschnitt umändern, suchte auf Brandolfs Bitte, da es daran fehle, eine ordentliche Stubenjungfer aus, und reiste endlich, mit seinen Grüßen wohlversehen, von der Jungfer begleitet, in die Provinz, wo der Vater Brandolfs hauste und zu ihrem Empfange alles vorbereitet war.

Brandolf dagegen begab sich in eine andere Landesgegend, wo er die Aufgabe übernommen hatte, während einiger Monate ein nicht unwichtiges Amt provisorisch zu verwalten und gewisse[529] in Verwirrung geratene Verhältnisse in Ordnung zu bringen. Man gedachte hierdurch seine Kräfte zu prüfen und ihn zu Weiterem vorzubereiten; er aber behielt sich vor, nach vollbrachter Sache in seine Freiheit zurückzukehren.

Es dauerte nicht viele Wochen, so kamen Briefe des alten Herrn, Brandolfs Vater, die vom Lobe der Frau Hedwig von Lohausen und von dem neuen Stande der Dinge voll waren. Es sei, wie wenn sie eine Schar Wichtelmännchen im Dienst hätte, so glatt und gutgeordnet gehe seit ihrer Ankunft alles vonstatten; ein wahrer Segen liege in ihren Händen, und rührend sei ihre sichtbare stille Freude über die Fülle und Sicherheit, in welcher sie sich bewegen könne und zweckmässig zu walten berufen sei. Von früh bis spät freue sie sich der Bewegung, aber ohne alles Geräusch, und lieblich sei es, wenn sie sich hinwieder eine Stunde der Ruhe überlasse, fast mehr wie um nicht bemerklich zu sein und andern auch Erholung zu gönnen, als wie um selbst zu ruhen. Auch die Stubenjungfer habe die besten Manieren, und die Küche sei vortrefflich geworden, kurz, der Herr Vater befinde sich wie im Himmel und fühle sich wie verjüngt. Fast beginge er die Torheit, noch zu heiraten, um die treffliche Person nicht mehr zu verlieren.

Endlich kam ein Brief, in welchem der Vater schrieb, er habe sich den Gedanken einer Heirat wirklich überlegt und gefunden, daß der Sohn sie ins Werk setzen müsse. Denn so liebevoll die Frau von Lohausen für ihn sorge, hänge ihr Herz jedenfalls am Sohne, er müsse es ihr angetan haben, das bemerke er wohl. Niemals spreche sie von ihm; aber sooft sein Name genannt werde, erröte sie ein wenig, gleich einem jungen Mädchen, dem sie auch in ihrer schlanken und feinen Turnüre ähnlich sei. Darum wünsche der Vater, daß Brandolf sich entschließen könnte, den Sprung zu wagen; er hoffe auf keine bessere Schwiegertochter für seine Verhältnisse.

Brandolf antwortete, er sei es zufrieden. Die Hedwig sei ihm als Schützling lieb, wie wenn sie sein Kind wäre; allein er könne[530] sie auch als sein Frauchen liebhaben und werde sie alsdann mit einem seidenen Faden am feinen Knöchel anbinden, damit sie ihm nie mehr abhanden komme. Doch müsse der Papa für ihn fragen und den Korb einheimsen, den es allenfalls absetze.

Darauf schrieb der Alte zurück, er habe es sofort getan und augenblicklich ein Ja erhalten. Es sei auf dem Wege zu dem großen Gemüsegarten geschehen, den sie in so herrlichen Stand gebracht habe. Sie sei so ehrlich und offen, daß sie sich nicht eine Sekunde lang zu zieren vermocht, sondern ihm gleich beide Hände zitternd entgegengestreckt habe, von einem ganz merkwürdig hingebenden und seelenvollen Ausdruck des schmalen Gesichtes begleitet. Ja, ja, die kleine Hexe sei nicht nur nützlich, sondern auch angenehm, usw.

Hierauf begann Brandolf allerhand kleine Briefchen und große Geschenke an die Erwählte zu senden. Sie antwortete ebenso kurz; aber die Buchstaben flimmerten von den Empfindungen, die darin lebten. Der Tag der Verlobung wurde in den Monat Mai verlegt und die Verwandten und Freunde geladen. Als Hauswirtin hatte Hedwig die Pflicht und Freude, alle Vorbereitungen zu treffen, und sie selbst war die Braut. Bei Brandolfs Ankunft war sie ihm allein entgegengeeilt; so hatten sie es verabredet. Er stieg aus dem Wagen und wandelte mit ihr durch einen einsamen blumigen Wiesenpfad, auf dessen Mitte er sie fest an sich drückte und sie an seinem Halse hing, von den niederhängenden Ästen der weiß blühenden Apfelbäume geschützt. Hier ist nun weiter nichts zu sagen, als daß eine jener langen Rechnungen über Lust und Unlust, die unsere modernen Shylocks eifrig aufsetzen und dem Himmel so mürrisch entgegenhalten, wieder einmal wenigstens ausgeglichen wurde.

Da Brandolf bis gegen den Herbst hin mit seiner amtlichen Verrichtung beschäftigt und nicht gesonnen war, auch nach der Hochzeit noch im Dienste zu bleiben, wurde die Zeit der Weinlese zu dem Feste bestimmt, um zugleich eine natürliche Lustbarkeit mit demselben zu verbinden und es zu einer gewissermaßen[531] symbolischen Feier für die wirtliche Braut zu gestalten, die so vieles erduldet und entbehrt hatte. Es sollte auch von einer Hochzeitsreise nicht die Rede sein, sondern das eheliche Leben gleich im Anfange in das Arbeitsgeräusch und den bacchischen Tumult des Herbstes untertauchen.

Zur Zeit der Kornernte reiste Brandolf nochmals auf ein paar Tage nach Hause; nachdem er die Braut im bittern Winter kennengelernt, im Lenz sich mit ihr verlobt, wollte er sie im Glanze des Sommers sehen, ehe der Herbst die Erfüllung brachte. Sie war jetzt vollkommen erstarkt und beweglich, aber immer besonnen und still waltend, und die helle Liebesfreude, die in ihr blühte, von der gleichen unsichtbaren Hand gebändigt und geordnet wie die Wucht der goldenen Ähren, die jetzt in tausend Garben auf den Feldern gebunden lagen. Zwischen zwei ausgedehnten gelben Ackerflächen zog sich ein schmaler Forst alter Eichen, deren Schatten das blendende Licht der Felder und der Sommerwolken kräftig unterbrach; ein klarer Bach floß überdies in diesem Schatten. Hier hatte Hedwig ihren Aufenthalt; sie ordnete die Ernährung der vielen Arbeitsleute, und jedermann wollte hier speisen; auch der alte Herr war herausgekommen. Und obgleich die Gegenwart der Frau von jedermann angenehm empfunden wurde, war es doch, wie wenn sie nicht da wäre. Nach verrichteter Mahlzeit blieb sie allein im durchsichtigen Forste zurück, zwischen dessen Stämmen man überall das Feld übersehen konnte. Sie nahm sich die Zeit, rasch die Erntekränze zu besorgen, und Brandolf leistete ihr Gesellschaft. Im einfachsten Sommerkleide, nur ein dünnes Goldkettchen um den Hals, welches die Uhr trug, schien sie eine Tochter der freien Luft zu sein und sich allein des gegenwärtigen Augenblickes zu erfreuen, ohne ein Wissen um Vergangenheit oder Zukunft.

›Bist du auch schon so gewesen wie jetzt in diesem Augenblicke?‹ sagte Brandolf vertraulich, indem er ihrem Tun und Lassen gemächlich zuschaute.[532]

›Nein‹, antwortete sie, ›ich habe die Erinnerung nicht! Es ist mir alles neu und darum so froh und kurzweilig. Ich scheine mir überhaupt früher nicht gelebt zu haben.‹

Auf der Rückreise nach dem Orte seiner jetzigen Tätigkeit bekam Brandolf Regenwetter und sah sich deshalb mehr als sonst veranlaßt, bei den am Wege stehenden Herbergen abzusteigen. So geriet er auch, schon viele Meilen unterwegs, in eine Posthalterei, deren große Gaststube von Reisenden aller Art angefüllt war. Darunter befanden sich drei lange verwilderte Kerle mit struppigen Bärten und elenden Kleidern, welche verdorbene Musikinstrumente bei sich trugen. Brandolf bemerkte, wie die drei Menschen nach Verhältnis der fortwährend neuankommenden Gäste mit ihren Branntweingläschen von Tisch zu Tisch weggedrängt und zuletzt ganz aus der Stube gewiesen wurden. Murrend, aber ohne Widerstand gingen sie auf den Hof hinaus, stellten sich dort unter das Vordach eines Holzschuppens und nahmen, wahrscheinlich um sich zu rächen, ihre Instrumente zur Hand. Aber sie begannen eine so gräßliche Musik hören zu lassen, daß in der Stube das Publikum zu fluchen anhub und verlangte, die Kerle sollten schweigen. Ein gutmütiger Krämer sammelte einige Groschen und rote Pfennige für die Unglücklichen und brachte ihnen die kleine Ernte, worauf sie den Lärm einstellten und in einem Winkel zusammenhockten, um das Nachlassen des Unwetters abzuwarten. Brandolf fragte einen Aufwärter, was das für traurige Musikanten seien. Ja, erwiderte der Bursche, das seien unheimliche und wenig beliebte Gesellen. Die zwei etwas kürzeren nenne man die Lohäuser, und der ganz lange heiße nur der schlechte Schwendtner. Man munkle, es seien drei Junker, die einst reich gewesen und dann ins Zuchthaus gekommen seien.

Hedwig war in der Tat im Irrtum, als sie glaubte, das ihr abgestohlene Vermögen sei zum Teil noch vorhanden und die Räuber erfreuten sich seiner. Sie hatten es freilich so im Sinne gehabt und waren, um das Geld wuchern zu lassen, unter die[533] Börsianer gegangen; allein die drei Spitzbuben waren an die Unrechten geraten und in weniger als sechs Wochen bis auf die Haut ausgezogen. Wütend hierüber wollten sie sich durch einen großartigen Wechselbetrug rächen und heraushelfen und sich alsdann aus dem Staube machen. Es mißlang, und sie wurden ein Jahr lang eingesperrt und mußten gestreifte Kleider anziehen. Als sie herauskamen, standen sie auf der Straße; sogar ihre guten Kleider samt den seidenen Schlafröcken hatte das Amt verkauft, und sie mußten mit den bescheidenen Hüllen vorliebnehmen, welche die öffentliche Wohltätigkeit ihnen verabreichte. So konnten sie sich nicht einmal mehr zu der Ehrenstufe von Professionsspielern erheben, die sie früher bekleidet, und sanken, weil sie sich immerfort schlecht aufführten, schnell auf die Landstraße hinunter. Dort konnten sie erst recht nicht voneinander lassen; wenn sie sich je auseinander verfügten, um besser fortzukommen, so waren sie in zwei Wochen sicher wieder beisammen; nur ein gelegentlicher Polizeiarrest vermochte sie im übrigen zu trennen. Der lange Rittmeister Schwendtner hatte in seinen jüngern Jahren etwas geigen gelernt und wußte mit Not noch eine Saite aufzuziehen und darauf zu kratzen. Die beiden Lohäuser hatten als Knaben einst Posthorn und Klarinette lernen sollen, die Arbeit aber frühzeitig eingestellt. Solch ideale Jugendbestrebungen kamen ihnen jetzt im Unglück zustatten und liehen ihnen den Vorwand, einen dauernden Verband zu bilden und das Land nach Brot und Abenteuern zu durchstreifen.

Brandolf seinerseits, der an einem Fenster des Posthauses saß und durch das an demselben herabrieselnde Regenwasser nach den drei grauen Brüdern hinausschaute, konnte nicht im Zweifel sein, wen er da vor sich sehe. Schrecken und Sorge um seine Braut waren die erste Wirkung des unwillkommenen Anblickes. Sie ahnten nicht, daß ihr böses Schicksal so nahe um sie her schweifte. Dann stieg der Zorn mächtig in ihm auf, und er verspürte Lust, die Peitsche seines Kutschers zu nehmen, hinauszugehen[534] und auf die drei Menschen einzuhauen. Je länger er aber hinsah, desto milder wurde die gewaltsame Stimmung und verwandelte sich zuletzt in eine launige Genugtuung, als er sich doch überzeugen mußte, wie übel es den Kumpanen erging. Er sah, wie der schlechte Schwendtner einmal ums andre die geröteten Augen wischte und sich an seinem durchlöcherten Schuhwerk zu schaffen machte, in welches er ein Stückchen Birkenrinde schob, das er vor dem Schuppen fand, während die Lohäuser aus dem Schnappsack einige Brotrinden hervorsuchten und daran kauten, dann aber einen weggeworfenen Zigarrenstummel aus dem Straßenkot holten, reinigten und abwechselnd rauchten; denn die Halunkenliebe zwischen ihnen schien geblieben zu sein.

Nach ungefähr einer halben Stunde, während es in Strömen fortregnete, war in Brandolfs Gedanken ein mehr lustiger als gewalttätiger Rache- und zugleich Befreiungsplan fertig, der sich um den Beschluß drehte, das Kleeblatt auf seine Weise zur Hochzeit zu laden. Und unverweilt machte er sich an die Vollziehung.

Er führte einen anschlägigen und getreuen Knecht vom väterlichen Gute mit sich, der Jochel hieß und mit ihm aufgewachsen war, auch in früheren Jahren manchen närrischen Streich mit ihm bestanden hatte. Diesen Jochel zog er jetzt ins Vertrauen und unterrichtete ihn, wie er die drei Musikanten sich merken und und ihre Spur verfolgen müsse, damit er zur rechten Zeit sich in geeigneter Verkleidung an sie machen und sie in die Nähe des Gutes locken konnte, mit der Aussicht auf ordentlichen Gewinn und schönes Leben. Denn es handelte sich darum, sie am Tage der Hochzeit und des Winzerfestes zur Hand zu haben, ohne daß sie wußten, was vorging.

Es gelang auch der Schlauheit des guten Jochel so vortrefflich, daß er sie bis zum rechten Zeitpunkt richtig auf den Platz brachte, das heißt in ungefährliche Nähe, wo ihnen der Mund wässerte, den Jochel vorderhand mit einem und andern Kruge Most erquickte und diesen wieder mit einem Gläschen Branntwein[535] abwechseln ließ. Sie übten dabei wohlmeinend ihre grausigen Harmonien, da sie allen Ernstes glaubten, eine Hauptrolle spielen zu müssen bei irgendeinem dummen Teufel von Gutsbesitzer, und die Geistertöne drangen schon unheimlich über den Wald her, hinter welchem sie verborgen saßen. Inzwischen hatte die Weinlese seit einigen Tagen begonnen und nahte dem Schlusse. Außer den eigenen zahlreichen Werkleuten waren viele fröhliche Bauernjungen und Mädchen zugezogen, die Herrschaftshäuser von Köchen und Köchinnen, Aufwärtern und andern Dienern aus der Stadt besetzt und ein Teil der Hochzeitsgäste auch schon eingerückt, während eine gute Ballmusik noch erwartet wurde.

So kam nun der große Festtag heran, von der goldig mildesten Oktobersonne geleitet, welche einen Duftschleier nach dem andern von der Erde hob und zerfließen ließ, bis alles Gelände mit Bäumen und Hügeln in warmem Farbenschmucke erglänzte und die Ferne ringsherum in geheimnisvollem Blau eine glückverheißende Zukunft darstellte. Im Hauptgebäude war vormittags die Trauung, bei welcher schon die feine Musik aus den offenen Fenstern tönte. Dann folgte das Festmahl der Hochzeitsgäste, indes die Winzer und die eingeladenen Landleute im Freien tafelten und nach einer tapferen Landmusik bereits tanzten. Gegen Abend jedoch, als die Sonne immer lieblicher ihre Bahn abwärts ging, fand nun der große Aufzug der Winzer statt, an welchem die drei Kujone mitzuwirken berufen waren. Der Zug bestand freilich in nicht viel anderem, als daß die Winzer und Kelterer in allen möglichen Vermummungen, mit ihren Gerätschaften klopfend, unter dem Voraustritte ihrer Musik an den Herrschaften vorüberzogen, die am Eingange des Parkes auf einem erhöhten Brettergerüste standen, in dessen Mitte ein aus Efeugeflechten errichtetes Tempelchen Braut und Bräutigam besonders einfaßte.

Doch entwickelte sich der Zug malerisch genug unter den hohen Bäumen hervor, und Brandolf hatte dafür gesorgt, daß[536] durch allerhand buntes Zeug, ein Dutzend Thyrsusstäbe, Schellentrommeln, Satyrmasken und vorzüglich durch eine Anzahl artiger Kindertrachten, welche die Zeit der Traubenblüte vorstellten, Abwechslung und Farbe in die Sache kam. Das Ganze drückte das Vergnügen eines guten Weinjahres aus; der Schluß hingegen war der Verachtung vorbehalten, die einem schlechten Weinjahre unter allen Umständen gebührt. Die drei Teufel eines solchen: der Teufel der Säure, derjenige der Blödigkeit und der Teufel der Unhaltbarkeit wurden rückwärts an den Schwänzen herbei- und vorübergezogen und mußten durch ihre Musik das Gift und das Elend eines schändlichen Weines ausdrücken.

Das waren eben unsere drei Herabgekommenen. Man hatte denselben, um ihnen jeden Argwohn zu benehmen, den Charakter ihrer Rolle offen mitgeteilt. Sie wußten auch, daß eine Hochzeit da war; allein Jochel hatte ihnen so unbefangen einen falschen Namen der Braut genannt, auf den sie überdies kaum achteten, daß sie ihre wahre Lage bis zum letzten Augenblicke nicht ahnten. Dennoch wollte ihr gutes Herkommen und adeliges Blut sich empören, als sie eingekleidet und sozusagen angeschirrt wurden. Man hüllte sie nämlich in grau und schwarz gefleckte Ziegenfelle, schwärzte ihnen die Gesichter und setzte ihnen Ziegenhörner auf den Kopf. An ihren Hinterseiten waren Kuhschwänze sehr stark befestigt, alle drei Schwänze zusammengebunden und an ein langes Heuseil geknüpft; an dieses Seil aber stellten sich links und rechts an die zwanzig kräftige Jünglinge in Küfertracht mit dichten Weinlaubkränzen auf den Stirnen und zogen das Seil an, um die drei Teufel im Triumphe rücklings über den Schauplatz zu schleppen. Wie gesagt, wollten diese sich zuerst störrisch zeigen; allein die fünf Taler Lohn, die jedem versprochen waren, überwanden den Widerstand.

So kamen sie denn auch heran; immer rückwärts hopsend und stapfend, durften sie keinen Augenblick stillestehen; hinter[537] ihrem Rücken hörten sie die vordere Musik, das Singen, Jauchzen und Trommeln der Winzer und Bacchanten, ohne zu wissen, wohin sie kamen; sie hörten das Schreien und Lachen des Volkes am Wege und sahen endlich die Reihen der geschmückten Hochzeitsgäste, welche in die Hände klatschten und Beifall riefen. Mit Schweißtropfen auf der rußigen Stirn kratzte der Herr Rittmeister von Schwendtner erbärmlich an seiner Geige und bliesen die Lohäuser in ihre gesprungenen Röhren, bis sie unversehens vor dem Efeutempelchen anlangten, in dem die Braut stand, lieblich in ihrem wehenden Schleier und im Glanze der Abendsonne, die auf ihrem Diamantenschmucke funkelte. Jochel, der das Seil lenkte, hieß dasselbe ein wenig nachlassen, damit die Gehörnten stehenbleiben konnten. Alle drei erkannten augenblicklich die ehemalige Frau und die Schwester; aber sie glaubten zu träumen. Sie ließen die Instrumente sinken und starrten gleich irrsinnigen Menschen hinauf, wo sie stand und ihnen lächelnd zunickte; denn sie wußte nicht, wen sie vor sich sah, und glaubte, auch diese Gestalten seien bestrebt, ihren Ehrentag mit den ungebärdigen armen Späßen zu feiern. Brandolf aber klatschte fest in die Hände und rief: ›Gut, gut so, ihr Leute!‹

Wie träumend griffen sie an ihre Hörner, dann hinten an die Schwänze, wo sie sich gebunden fühlten; dann blickten sie wieder an das Zauberbild der verratenen Schwester, der Gattin hinauf; das böse Gewissen ließ sie aber den Mund nicht öffnen, und eh sie sich besinnen konnten, ließ Jochel das Seil wieder anziehen, daß sie die rückspringende Prozession fortsetzen mußten. Der Zug ging um das Haus herum, auf dessen hinterem Balkone die Stadtmusik stand und ihn begrüßte. Dann mündete er in den Park und erschien zum zweiten Male vor der Herrschaft und ging vorüber. Wieder ließ man die drei Unholde einen Augenblick vor der Braut stillstehen, und wieder mußten sie weiterstolpern, und immer lauter und betäubender wurde der Lärm und der Jubel. Allein Brandolf winkte, und[538] zum dritten Male wiederholte sich die Szene. Die armen Teufel merkten, daß sie abermals vorgeführt wurden, und suchten seitwärts mit Gewalt auszubrechen. Denn trotz ihrer Verkommenheit empfanden sie den Verrat und Hohn, dem sie verfallen waren, mit dem Stolze der früheren Tage. Doch die unbarmherzige Kraft des Seiles hielt sie fest, und sie standen abermals vor der Braut, und sie stierten abermals zu ihr hinauf. Sie knirschten und stöhnten und ballten die Fäuste. Da warf Brandolf drei Louisdors, jeden in ein Papierchen gewickelt, hinunter, und blitzschnell haschten sie danach wie drei Affen, denen man Nüsse zuwirft. Es schien ihnen jetzt doch möglich zu sein, daß man sie nicht kenne.

Indessen winkte Brandolf wieder, Jochel zog das Seil an, und der Spuk verschwand endlich. Sie wurden aber nicht losgelassen und auch nicht zu dem Volke gebracht, das sich wieder zu Schmaus und Tanz begab, sondern Jochel führte sie und die zwanzig Küfer nach einer entfernt gelegenen Schenke, um die Teufelsgruppe dort extra zu bewirten. Nur mußten die drei Gehörnten jetzt vorwärts gehen und musizieren, indessen die Küfer hinter ihnen das Seil hielten. Darüber wurde es dunkel, und als die wunderliche Gesellschaft bei der Schenke anlangte, sah man in der Gegend des Winzerfestes drüben ein herrliches Feuerwerk gen Himmel steigen. Die Teufel wurden jetzt endlich mit ihren Schwänzen losgebunden, blieben aber fortwährend von den kräftigen Burschen umringt, und Jochel ging nicht von ihrer Seite, so daß sie nicht die geringste Gelegenheit fanden, ein einziges Wort unter sich zu reden. Indessen erlabten sie sich, ihre innere Zerstörung vergessend, an dem reichlichen Essen und Trinken, das aufgesetzt wurde, bis jemand das Fenster öffnete und nach dem Herrschaftshause hinwies, dessen Fenster alle von Licht strahlten, während eine prächtige Ballmusik durch die stille Nachtluft deutlich, aber fein gedämpft herübertönte. Ob dem Hause standen die schönsten Sterne, was freilich die Teufel nicht rühren mochte; denn wenn sie für dergleichen[539] Gefühl gehabt hätten, so wären sie jetzt nicht hier gewesen. Nur der weiche, vornehme Klang der Violinen verletzte ihnen das Herz, weil er sie an bessere Zeiten erinnerte und sie sich die Schwester und Gattin vorstellen mußten, wie sie in diesem Augenblicke im Reigen dahinschwebte.

Um die Not ihres Innern zu ersäufen, überließen sie sich um so gieriger dem Getränke, das ihnen Jochel rückhaltlos einschenkte. Als er sie für betrunken genug hielt, fing er an, sie zu necken und zum Zorn zu reizen, andere folgten und zerrten sie an den Schwänzen, worauf sie unverweilt um sich schlugen und eine schöne Prügelei anhuben.

In diesem Augenblicke erschienen zwei Gendarmen, die im Hause darauf gewartet hatten, und eh eine Viertelstunde verflossen war, saßen die drei Landstreicher festgemacht auf einem Leiterwagen, und zwei Stunden später in der Nacht im Gefängnisturme der Kreishauptstadt. Es erging ihnen jedoch nicht so übel. Vielmehr wurden sie am Morgen vorgerufen und befragt, ob sie, mit Kleidern, Wäsche, Reisegeld und Schriften hinreichend versehen, unter Überwachung der Polizei nach der Neuen Welt auswandern wollten, und drei Tage nachher reisten sie schon in Begleit eines Polizeiagenten, der Geld und Pässe auf sich trug, nach dem Seehafen. Der Agent verließ sie erst in dem Augenblicke, als das Schiff die Anker lichtete.

Hedwig erfuhr den ganzen Hergang erst, als sie eines Tages, ein schönes jähriges Knäblein auf dem Schoße haltend, die Sorge aussprach, daß das Kind einst seinen bösen Oheimen in die Hände laufen oder gar die Bekanntschaft des häßlichen Schwendtners machen könnte. Jetzt erst erzählte ihr der Mann den harten Spaß, den er sich damals mit den Herren erlaubt. Entsetzt schaute sie auf, das Kind wie zum Schutze gegen unbekannte Gefahren an sich drückend; allein er beruhigte und tröstete sie sogleich mit der Nachricht, daß laut Briefen, die er zu verschaffen gewußt, die drei Gesellen nach ihrer Ankunft in Amerika, wie umgewandelt, sich sofort getrennt hätten. Ja, der[540] Einfall habe die merkwürdigste Wirkung auf sie getan; jeder von den dreien sei in dem amerikanischen Wirbel aufrecht schwimmend dahingetrieben und an einem bescheidenen sichern Ufer gelandet, wo er sich halte. Einer sei ein stiller Bierzapfer in der Nähe von New York, der andere Schulhalter in Texas und der dritte Prediger bei einer kleinen Religionsunternehmung, und allen gehe es gut.

Brandolfs Vater wurde achtundachtzig Jahre alt und versicherte, dies verdanke er nur der Lebensfreude, welche von der stillen Gesundheit der Frau Tochter ausströme. So verschieden ist es mit der Dankbarkeit des Bodens beschaffen, in welchen eine Seele verpflanzt wird.«

Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 7, Berlin 1958–1961, S. 497-541.
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