Dritte Vorstellung.

[15] Die Reisenden, die ich morgens zu Begleitern auf dem Postwagen bekam, waren: ein Chemikus, der wahnsinnige Dichter Holder, ein Pfarrer und ein Schreiner.

Mein Freund Holder, als er mich erkannte, fiel mir mit starker Liebeswut um den Hals und sprach: »Es ist doppelt erfreulich, daß ich dir in dieser Stadt und auf deiner Reise nach Norden begegne: denn wo in Gesangkraft ausströmt der Stern, daß als Komet er ein Nachtmahlskelch der Schöpfung schwebt durch die Himmel, da wird geboren ein Meer, das ist die Nordsee und das Eisen auf ihr. – – Von Norden aber wird kommen Nieerhörtes: denn dahin weist das Eisen und sein Geist, die Magnetur.« – Hier geriet er in konvulsivische Verzuckungen, dann sprach er wieder: »O, ehrt mir den Metallgeist der Erde und sein Auge, das Gold! und zerreißt nicht die Glieder und wuchert mit ihnen, ein freches Volk! ha! ha! ha! so wollt' ich mein Leben auf einmal leben!« Hier stürzten ihm stromweis die Tränen aus dem Auge voll Seele.

Hernach sprach er wieder: »O Deutschland, das du geglättest bist wie der Rücken eines Esels!«

Der Chemikus bemerkte gegen seinen Nebenmann, den Pfarrer, daß die Seele dieses Menschen viel zu viel Sauerstoff in sich haben müsse, und daß man ihm, um ihn radikal herzustellen, bloß eine Schweinsblase voll Wasserstoffgas beizubringen habe.

Der Pfarrer aber war nicht seiner Meinung. Denn ihm war aller Materialismus und insgeheim auch die Chemie gegen alle Moralität. Darum stand er mit vieler Gravität von seinem Sitze auf und hielt, während er beständig in seinen beiden Taschen rührte, folgende Rede: »Wir wollen Gott die Bestandteile aller Dinge, vor allem aber die Bestandteile unseres Körpers und unserer Seele anheimgestellt sein lassen; ja ich halte ein jedes Nachgrübeln hierüber (hier zog er ein Stück[15] des Leipziger Zeitungsblattes für Genügsame aus der Tasche) für höchst naseweis und moralitätswidrig. Das ist wahr und wohl zu erklären, wie von Tag zu Tag immer mehr und mehr das Verrücktsein (hier zog er die Reise durch die Erziehungsinstitute Deutschlands, von einem Manne von Geschmack, aus der Tasche) gleich einer Pest um sich greift und höchst ansteckend wird (der Chemikus zog bei diesen Worten ein Fläschchen voll Salzsäure aus der Tasche und fing zu räuchern an); denn würden wir nur einmal die Schriften neuerer Zeit lesen (hier zog er die wohlzubeherzigenden Worte eines alten sterbenden Mannes, wie dem Ungeschmack der neuesten Literatur Einhalt zu tun, aus der Tasche), so würden wir leicht einsehen, woher dieser Wahnsinnsstoff seinen Ursprung nimmt; wogegen nur eine von Jugend auf tief inokulierte Moralität (hier zog er ein Stück der Zeitschrift: ›schmeckende Wurm‹ aus der Tasche) die Kuhpocke sein kann.

Und nun, mein armer, verirrter (hier wandte er sich zu Holder, indem er ihm alle die Schriften zu überreichen suchte), höchst wahrscheinlich noch sehr junger Freund! empfangen Sie, um mich mit dem Herrn Chemikus zu vergleichen, empfangen Sie hier das wahrste Wasserstoffgas in den Worten gebildeter, erfahrener, wackerer Leute, Schriften, die mir eine geehrte Redaktion des schmeckenden Wurms zu belobender Rezension – – o weh!« schrie der Pfarrer – denn hier faßte ihn mein wahnsinniger Freund bei der Gurgel und hätte ihn erdrosselt, wenn nicht der Kondukteur und ich zu Hilfe geeilt wären.›

Der Postwagen hielt, und die Gesellschaft machte den Vorschlag, Holder auf den Sitz des Kondukteurs zu bringen, worüber aber der Chemikus insgeheim sehr erbost war: denn er erwartete von der Stickluft der Gesellschaft im Wagen eine radikale Heilung und hielt jenen Anfall bloß für einen durch die Stickluft im Wagen veranlaßte, letzte Explosion des Sauer- und Wahnsinnstoffes.


Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 1, Berlin 1914, S. 15-16.
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