Ein wunderlicher Tänzer

[176] Während wir den weinbekränzten Berg hinanstiegen, begegneten uns viele schöngeputzte Damen und Herren, man sagte uns, es sei der Wochentag, an welchem auf diesem Berge große Konversation und Tanzbelustigung in dem weiten Saale des obenstehenden Gebäudes stattfinde. Als wir in den Saal traten, fanden wir ihn auch von Tanzenden erfüllt. Auf einmal stand alles still; eine hohe Mannsgestalt, den Leib nachlässig und malerisch nur mit einem Tuch umschlungen und auch das Haupt zur Hälfte in ein Tuch gehüllt, war eingetreten. Dieser[176] Mann war ein Wahnsinniger, wie man mir in späterer Zeit erklärte, man hieß ihn den »Salzburger«, auch den »Josephle«. Über seinem Herkommen und Schicksale lag ein Schleier, und man wußte nur so viel aus seinen irren Reden, daß er einmal eine hohe Stelle zu Salzburg oder im Salzburgischen bekleidete, daß er dort widrige Schicksale erfahren, namentlich Freundestreubruch, unglückliche Liebe, und daß er geisteszerrüttet nach Schwaben und in die Wälder des württembergischen Unterlandes geriet, in welchen er sich nun in einem irren halbwilden Zustande umhertrieb. Nachts und zur Winterzeit kam er in die Dörfer, wo er oftmals in den Backöfen, die vor den Ortschaften standen, übernachtete.

Hie und da ging er in ein Pfarrhaus, nahm aber nie Geldgeschenke, sondern notdürftig Nahrungsmittel an. Mit den Geistlichen sprach er lateinisch und griechisch und spielte auf dem Klavier wunderliche Phantasien. Sein Gang zeigte Grazie und Würde, so auch die Art, mit der er Haupt und Körper mit geschenkten Tüchern umhüllte und auch oft sich mit Blumen bekränzte. Wollte man ihn fragen über sein Herkommen, seine Schicksale, so wurde er einsilbig oder sprach in irren unverständlichen Reden. Ungezogene Knaben eines Dorfes, die ihn einmal verfolgten, hatten ihm ein Auge ausgeworfen, was er mit einem turbanartig um den Kopf gewundenen Tuche verdeckte.

Er suchte immer die tiefste Waldnacht, aus der ihn nur Hunger oder auch Musik, hörte er sie aus der Ferne, locken konnten. Es war eine Zeit, wo die Polizei derlei Menschen noch nicht auffing.

Es war auf diesem Berge eine Warte, ein hoher Turm mit einem Knopfe aus Eisenblech, in den man durch Treppen und ein Türchen eingehen konnte, und dieser Knopf war so groß, daß, wie man sagte, sieben Schneider[177] in ihm ungehindert arbeiten konnten. Sonst hatte der Turm kein Gemach und keine Bewohner. Schon seit mehreren Nächten hatte der Wahnsinnige in diesem Turmknopfe seine Schlafstätte genommen. Die Musik, die von dem Berge in den nahen Wald tönte, hatte ihn aus demselben gelockt. Er war in den Saal getreten in dem beschriebenen Aufzuge, den man schon an ihm gewohnt war. Alles hielt zu tanzen inne, er aber hatte sich einem sehr lieblich scheinenden Mädchen in blauem Kleide genähert, soll still vor sich hingesagt haben: »ja! ja, ein solches Kleid trug sie!« bot ihr den Arm zum Tanze, sie sträubte sich nicht, man kannte ihn schon, da tanzte er mit ihr voll Grazie und Rhythmus, während die ganze Gesellschaft das Paar umstand, ein paarmal auf und nieder, führte sie zur Mutter, von der er sie genommen, Dank murmelnd, und verschwand dann wieder so unerwartet und schnell aus dem Saale, als er herein gekommen war.

Quelle:
Justinus Kerner: Bilderbuch aus meiner Knabenzeit. Frankfurt a. M. 1978, S. 176-178.
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