Fünfter Auftritt.

[20] Adam. Kain. Seth.


ADAM. Warum hast du mein Gebot übertreten und bist in meine friedsame Hütte gekommen, Kain?

KAIN. Beantworte mir vorher auch eine Frage, so will ich dir antworten. Wer ist der Mann, der mich zu dir hereingeführt hat?

ADAM. Es ist mein zweiter Sohn Seth.

KAIN. Ich mag deines Mitleids nicht! Es ist dein dritter Sohn! Und nun will ich dir auch antworten. Ich bin gekommen, mich an dir zu rächen, Adam!

SETH. Willst du meinen Vater auch erwürgen?

KAIN. Eh du geboren wurdest, war ich schon ganz elend! Laß mich und Adam allein reden. Ich will deinen Vater nicht tödten![20]

ADAM. Wofür willst du dich an mir rächen, Kain?

KAIN. Daß du mir das Leben gabst!

ADAM. Dafür, mein erstgeborner Sohn?

KAIN. Ja, dafür, daß ich meinen Bruder Abel erwürget habe! daß sein Blut laut zum Allmächtigen gerufen hat! daß ich der Unglückseligste unter allen deinen Kindern bin, die dir geboren sind und noch geboren werden sollen! daß ich, mit diesem Elende belastet, auf der Erde herumirre und keine Ruhe finde! selbst im Himmel keine finden würde! Dafür will ich mich an dir rächen!

ADAM. Eh' ich dir gebot, daß du mein Antlitz nicht mehr sehen solltest, hab' ich dir Dieß schon oft beantwortet. Aber so hast du es mir noch nie gesagt, und so hab' ich es noch nie empfunden, als an diesem schrecklichsten meiner Tage!

KAIN. Du hast es mir nie genug beantwortet. Und wenn du es heut' empfunden hast, wie stark und wie wahr es ist, so ist Das doch meine Rache noch nicht! Jahre schon, lange Jahre hab' ich dich, heiße, gerechte, wiedervergeltende Rache, beschlossen! heut' will ich dich ausführen!

SETH. Wenn dein starres Auge vor Wuth noch sieht, so schau', o Kain, schau seine grauen Haare!

KAIN. Grau oder abgefallen! Ich bin der Unglückseligste unter seinen Kindern! Ich will mich an ihm rächen! Rächen will ich mich, daß er mir das Leben gab!

ADAM zu Seth. Sein und mein Richter hat ihn hergesandt! – Was ist denn deine Rache, Kain?

KAIN. Ich will dir fluchen! – –

ADAM. Das ist zu viel, mein Sohn Kain! Fluche deinem Vater nicht! Um der Rettung willen, die du noch finden kannst, fluch' Adam nicht![21]

KAIN. Ich will dir fluchen!

ADAM. So komm denn, ich will dir den Ort zeigen, wo du mir fluchen sollst! Komm, Dieß ist deines Vaters Grab! Ich werde heut sterben! Ein Todesengel hat mirs angekündigt!

KAIN. Und was ist Das für ein Altar?

SETH. Du Unglückseligster unter den Menschen, weil du der Boshafteste unter ihnen bist! Das ist Abels Altar! und, an diesen Steinen, Das ist sein Blut! –

KAIN. Die Wuth des Abgrunds steigt zu mir herauf! Der Altar, der fürchterliche Altar, liegt wie ein Fels auf mir! Wo bin ich? – Wo ist Adam? – Höre mich, Adam! Mein Fluch beginnt: An dem Tage, da du sterben willst, Adam! – an dem letzten deiner Tage – müsse dich die Todesangst von siebentausend Sterbenden ergreifen! müsse das Bild der Verwesung – –

ADAM. Es ist zu viel! Es ist zu viel, mein erstgeborner Sohn! – Nun versteh' ich dich ganz, du Todesurtheil, das dort über mich ausgesprochen ward, ich verstehe dich ganz! – Lass' ab von mir, mein erstgeborner Sohn!

KAIN. Ach! Ach! – hab' ich meines Vaters Blut vergossen? Wo bin ich? Wer leitet mich aus dieser schreckenden Dämmerung, wer leitet mich, daß ich die Nacht des Abgrunds finde? – – – Doch hier ist mein Vater! – Ist er es selbst? oder erscheint er mir? Wende dein Antlitz von mir, daß ich entfliehn kann.


Er entflieht.


Quelle:
Friedrich Gottlieb Klopstock: Sämmtliche Werke. Band 6, Leipzig 1844, S. 20-22.
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