[265] Kaum war es am nächsten Tage Abend geworden, als im Bäckerhause jemand eilfertig in die Stube hereinschlüpfte. Die Bäckerin war allein; sie saß im Großvaterstuhle und hatte die Hände schlaff in den Schoß gelegt. Sie blickte den Eintretenden scharf[265] durch die Dämmerung an. »Wer ist's?« fragte sie endlich, da sie ihn nicht erkannte.
»Grüß Gott, Bas«, sagte eine bekannte Stimme.
»Herrjeses, der Frieder!« rief sie. »Was, schon wieder aus der Fremde da? Was ist denn das? Wie geht denn das zu?«
»Schrecklich ist's«, erwiderte der Ankömmling, »wenn man alt und jung, Kind und Kegel immer auf die nämlich Frag Antwort geben soll. Wo ich geh und steh, greift man mich mit Fragen an und verlangt Rechenschaft von mir, warum ich schon wieder da sei. Ich will's Euch nachher alles haarklein sagen, aber zuerst hab ich eine Bitt an Euch. Tut mir die Liebe, Bas, und gehet, so groß und schwer Ihr seid, den Abend noch hinaus zum Hirschbauer und saget einem von der Christine ihren Brüdern, am liebsten dem Jerg, denn der ander ist hinter den Ohren nicht trocken, daß ich notwendig mit ihm zu reden hab. Ich kann mich keinem Menschen sonst anvertrauen als Euch, denn der Profos hat's in den Gliedern, heißt das, soweit sie nicht hölzern sind.«
»Ach Friederle«, seufzte die Frau, »ich tät's gewiß gern, aber bei mir ist's auch mit dem Springen vorbei. Ich kann dem Profosen mit seinem Gliederweh Gesellschaft leisten: seit ein paar Tagen weiß ich, warum ich immer so müd bin, ich hab geschwollene Füß.«
»Wird doch das nicht sein. Sollen denn meine beste Freund in so kurzer Zeit presthaft werden?«
»Meine Mutter ist an der Wassersucht gestorben«,[266] sagte sie, »und ich weiß jetzt auch, was mir blüht. Eure Hochzeit erleb ich schon nicht mehr; wenn ihr aber zusammenkommet und vergnügt miteinander lebet, so soll mich's noch unterm Boden freuen. Dem Jerg will ich durch den Beckenbuben entbieten, daß er zu mir herkommt; denn wenn ich auch die Füß nicht recht mehr brauchen kann, so ist das Mundstück noch gut im Gang. Was soll ich ihm denn ausrichten?«
»Ach, Bas, Ihr machet mir das Herz schwer. Es wird doch so schlimm nicht sein.«
»Wie Gott will. Wo soll sich der Jerg einfinden?«
»Man paßt mir auf jedem Schlich auf. Saget meinem Schwager und vergesset ja nicht, ihn so zu heißen, morgen um Vesperzeit oder etwas später, wenn der Tag sich neigt, woll ich ihn unter den Linden an der Schießmauer treffen. Den Grund, warum ich nicht zu ihm ins Haus kommen kann, und alles andere will ich ihm mündlich sagen.«
»Kann mir's schon denken. Es soll pünktlich ausgerichtet werden. Heut abend muß er noch zu mir kommen.«
Hierauf erzählte er ihr, wie seine Reise abgelaufen und unter welcher Bedingung er in sein väterliches Haus zurückgekehrt sei. Dann sprach er ihr von den Vorsätzen, an welchen er gleichwohl in betreff seiner Liebsten festhalten werde, unterbrach sich aber bald mit den Worten: »Ich seh wohl, Ihr habt Ruh nötig, und ich darf nicht lang ausbleiben. Gott tröst Euch, Bas, ich dank vielmals für die Freundschaft und will bald wieder nach Euch sehen.«[267]
Die beiden Schwäger, wie sie sich nannten, begrüßten sich den folgenden Abend an dem verabredeten Orte aufs herzlichste. – »Wir haben schon gewußt, daß du wieder da bist aus der Welt«, sagte Christinens Bruder, der nach Bauernart nicht sogleich den eigentlichen Zweck der Zusammenkunft berührte. »Das Christinele hat vor Freuden geweint. Jetzt sag mir nur auch, wie ist's dir denn gangen da draußen?«
»So so, la la«, antwortete Friedrich. »Die Leut wären schon recht, aber 's ist eben alles ganz anders als bei uns. Da schnurrt jedermann nur so an einem vorbei und läßt einem das Nachsehen; und wenn einer so im Vorbeischießen was an dich hinwelscht, – bis dir eine Antwort eingefallen ist, ist der schon über alle Berg. Dann können sie doch auch wieder recht gesellschaftlich sein, sonderlich die in Sachsenhausen; und wenn sie dich gern haben, so geben sie dir die gröbsten Schimpfreden, über die's bei uns zu Mordhändeln käm. Bei ihnen aber ist das aus Freundschaft gered't, und wenn sie dich ein schlechts Luder heißen, so ist das lauter Liebe und Güte. Die in Frankfort, die auch viel rüber kommen sind, und wir zu ihnen nüber, die sind feiner, aber sie hänseln und föppeln einen gern, und in ihrer schnellen, spitzigen Sprach kann dir das in die Nas fahren wie ein Pfeil. Wiewohl, ich bin ihnen auch nichts schuldig blieben. Einmal haben sie mich gefragt, wie man denn im Schwabenland die Holderküchle – Holderküchelche sagen sie – macht. Ich hab aber gleich gemerkt, daß sie bloß ihren Spott mit mir[268] treiben wollen, und hab ihnen erzählt, man mach das Feuer und den Teig grad unter dem Holderbaum an und zieh dann einen Zweig um den andern mit dem Blust nur in den Teig runter und laß wieder schnappen, dann hängen die Küchelche am Baum, wie wenn sie dran gewachsen wären.«
Jerg lachte unmäßig. »Wenn sie das glaubt haben, so müssen sie rechtschaffen dumm sein.«
»Nein, dumm sind sie grad nicht. Sie haben eben arg drüber gelacht. Jetzt wollen wir aber von andern Dingen reden, Jerg, denn wir sind hier nicht zusammen kommen, daß ich dir Späß vormach, sondern mir ist's Ernst, und das bitterer. Sieh, ich bin noch ganz der nämlich gegen euch, wie da ich gangen bin, aber die Sach ist ein wenig anders worden. Zuerst, und vor allem andern muß ich dir sagen, daß ich der Christine mein Wort halt, der Schein mag sein, wie er will.«
»Das kannst ihr ja selber sagen, Frieder«, sagte Jerg mit schlauem Lächeln.
»Nein, Jerg, das ist's ja eben. Sieh, ich will und muß dir's frei heraus bekennen, daß ich hab versprechen müssen, mit deiner Schwester weder mündlich noch schriftlich etwas zu haben.«
»Das ist freilich ein ander Ding«, sagte Jerg.
»Hör mich voraus. Wenn ich nichts mehr von ihr wollt, so hätt ich mir's ersparen können, mit dir zu reden; aber darum grad hab ich dich ja hieher bestellt, denn mit dir ist mir's nicht verboten.«
»So red, daß man weiß, wie man mit dir dran ist.«
»Sieh, Jerg, wie ich die Stell bei meinem Vetter[269] besetzt gefunden hab und ist meines Bleibens nicht gewesen, da ist mir die Welt auf einmal vorkommen wie ein groß Wasser, in das ich gestoßen bin und untergesunken bis an Hals. Ich hab auch die Welt erst kennenlernen und hab jetzt eingesehen, daß es nicht so leicht ist, in dem Wasser zu schwimmen, als ich vorher gemeint hab, und hab keine Gelegenheit hinausgelassen, mit verständigen Leuten drüber zu reden, die in der Welt herumgekommen sind. Sieh, überall ist alles zünftig, und da kann man nicht so hineinsitzen, wie man will. Das kann nur der, der ein Geschäft ererbt oder so viel Geld hat, um sich eins zu kaufen. Andere schlupfen hinein, indem sie eine Meisterstochter oder Witwe heiraten, und dabei muß man oft ein Aug zudrucken und dem Teufel ein Bein brechen, auch oftmals einen krummen Buckel machen, bis man allen recht ist, die ein Wort mitzureden haben, oder man muß gar zum schlechten Kerl werden, seinen Eid brechen und seinen Schatz sitzenlassen, vielleicht mit dem Kind dazu. Wieder andere kommen gar nicht hinein und bringen's ihr Lebtag zu nichts. Ich hab glaubt, wenn ich die Christine nachkommen ließ und tät ihr einen Dienst verschaffen, so könnten wir, jedes in seinem Dienst, nach und nach einiges erübrigen und einander zuletzt heiraten. Aber Kutz Mulle, blas Gersten, da könnten wir dienen und ledig bleiben unser Leben lang. Ja, wenn mein Vetter mich hätt bei sich behalten können und hätt mich vielleicht liebgewonnen, der hätt mich auf die ein oder ander Art versorgen können, so daß ich[270] gar nicht mehr zurückgekommen wär und die Christine auswärts geheiratet hätt. So aber ist das nichts gewesen, und ich bin auf einmal rat- und hilflos dagestanden in der weiten Welt. Mein Vetter hat mich zwar liebreich gehalten und hat mich heißen als Gast bleiben; aber ich bin mir eben fremd vorkommen und hab ihm nicht in die Länge beschwerlich sein wollen. Ich sag dir, Jerg, ich bin dir ganz verzagt gewesen und hab nicht mehr gewußt, wo aus noch wo ein, grad wie ein Kind, das aus seinem Bett gefallen ist, und tappt in der Nacht herum und kommt nicht mehr zurecht, oder wie einer, der das Wasser am Kinn spürt und keinen Boden unter den Füßen mehr und in der Angst nach einem Strohhalm langt. Du magst vielleicht denken, ich hätt doch versuchen sollen, anderswo in der Fremde in einem Dienst unterzukommen. Aber ich hab kein Glück: das hab ich gleich gesehen, wie's bei meinem Vetter nichts gewesen ist. Und wenn ich bei fremden Leuten in Dienst gangen wär, so hätt ich damit eine große Scheidewand zwischen mir und meinem Vater aufgerichtet und hätt ihm gezeigt, daß ich ihm Trotz bieten will; wenn mir's nachher in der Welt nicht geglückt wär, wie's wahrscheinlich ist, so wär mir die Heimat zugeschlossen gewesen, und ich hätt der Christine zweimal nicht Wort halten können, was mir doch die Hauptsach ist. Auch ist mir's durch den Kopf gefahren, beweisen kann ich's freilich nicht, daß des Gerichtsschreibers Sohn von Boll, der mich bei meinem Vetter verdrängt hat, weil er schon vor mir Anwartschaft[271] gehabt hab, daß der vielleicht meinem Vetter einen Floh ins Ohr gesetzt hat –«
Er stockte. »Von wegen deiner Liebschaft?« meinte Jerg.
»Nein«, sagte Friedrich und ließ die Stimme sinken, »er hat's ihm vielleicht gesteckt, ich sei nicht ganz hautrein und sei schon in Ludwigsburg gewesen.«
»Das wär aber liederlich, das wär schlecht!« sagte Jerg.
»Ich trau so einem Schreiberssöhnle nicht viel Guts zu; er hat vielleicht besorgt, ich könnt ihm doch vielleicht noch den Rang ablaufen, und das wär auch keine Kunst für mich gewesen. Kurzum, ich bin auf einmal wie an der Welt End gestanden, wo sie mit Brettern vernagelt ist, und hab mir sagen müssen, daß da eben nichts übrigbleibt, als umkehren und gute Wort geben. Wie ich dann vollends bedacht hab, was das einen Spott und ein Gelächter geben wird, wenn ich schon wieder komm, und hab's doch nicht anders machen können, wenn ich nicht alle Brücken zwischen mir und meinem Schatz hab abwerfen wollen, da ist mir der Mut ganz und gar gesunken, und hab nichts mehr vor Augen gesehen, als daß ich eben jetzt alle Schmach muß auf mich nehmen und zu Kreuz kriechen. Herr Gott, wie ich noch ein Bub gewesen bin und hab Schläg kriegt, da hab ich nicht gemuckst und hab sagen können: ›Ich will noch mehr!‹ daß mein Vater schier verzweifelt ist. Und jetzt, wo ich groß bin, hab ich dir Brief nach Haus geschrieben – Brief – ich sag dir, Jerg, der jämmerlichst Bettler schreibt nicht[272] erbärmlicher und demütiger. Aber ich hab eben gar nichts anders mehr gewußt, und – die Heimat ist halt doch das Best in der Welt. Doch hab ich bloß Gehorsam versprochen. Aber das hat mich nichts genutzt. Wie man einmal gesehen hat, daß ich gehörig mürb bin, und das ist kein Wunder, denn ich hab den Amtmann noch auf'm Hals gehabt, da hat man mich noch weiter trieben. Ich bin nicht eher angenommen worden, als bis ich buchstäblich versprochen hab – ich hab dir's ja schon gesagt und will's nicht wiederholen.«
»Und was soll ich ihr jetzt sagen?« fragte Jerg.
»Was ich meinem Vater versprochen hab, das halt ich ihm, aber ich halt auch, was ich deiner Schwester versprochen hab, und das geht vor, denn es ist ein älteres Versprechen. Auch hab ich keineswegs geschworen, daß ich sie in alle Ewigkeit nicht mehr sehen, noch ihr schreiben wolle, und noch weniger hab ich gesagt, ich wolle mein Herz von ihr abziehen und ihr mein Wort brechen. Zwischen uns bleibt alles im alten Recht. Sag ihr nur, sie solle etliche Zeit Geduld haben, wie ich mich auch gedulden muß. Ich muß erst wieder festen Boden unter den Füßen haben, damit ich in Ruh sehen kann, wie Has lauft, und kann Zeit und Gelegenheit walten lassen. Vielleicht wächst der Axt von selber ein Stiel. Sag ihr, jedenfalls nehm ich keine andere, und wenn ich Haus und Hof dahinten lassen müßt oder müßt alt und grau mit ihr werden, bis wir vor den Altar kommen. Das muß ihr für jetzt genug sein. Und deinem Vater sag, es bleib bei[273] unsrer Abred, und er soll sie bei sich behalten, wie wir ausgemacht haben, bis etliche Zeit verstrichen ist; sowie ich wieder ein wenig zu Kräften komm, will ich ihn dafür schadlos halten. Du aber versprichst mir, daß wir uns je und je im Beckenhaus treffen, damit ich Nachricht von meinem Schatz hab; denn du bist jetzt mein Mündlich's und mein Schriftlich's mit ihr.«
»Bleib's dabei«, sagte Jerg.
»Und jetzt sag mir noch eins, offen, Aug in Aug: glaubst du meinen Worten und willst du dich bei den Deinigen und bei deiner Schwester für mich verbürgen, daß ich's noch so treulich mein wie sonst, trotzdem daß der Schein gegen mich ist? Die Hand drauf, Schwager, Bruderherz?«
»Ja, ich glaub dir, da hast meine Hand.«
»So, jetzt geh ich mit leichterem Herzen heim. Gut Nacht, und grüß mir mein' Schatz vieltausendmal.«
Ausgewählte Ausgaben von
Der Sonnenwirt
|
Buchempfehlung
Der historische Roman aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges erzählt die Geschichte des protestantischen Pastors Jürg Jenatsch, der sich gegen die Spanier erhebt und nach dem Mord an seiner Frau von Hass und Rache getrieben Oberst des Heeres wird.
188 Seiten, 6.40 Euro
Buchempfehlung
1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.
396 Seiten, 19.80 Euro