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[302] Wenige Tage nach diesem Vorgang traf Friedrich, der sich nun an kein Verbot mehr gebunden fühlte, die Familie Christinens in großer Bestürzung an.[302] Christine und ihre Mutter weinten laut, als er eintrat, und der Alte, der sein häusliches Mißgeschick mit leidlichem Gleichmut ertragen hatte, schien heute ganz zerschmettert zu sein. Auf Friedrichs Befragen erzählte er, er sei vom Pfarrer und auch vom Amtmann vorgefordert worden. Der Pfarrer habe ihm eine recht bibelmäßige Predigt gehalten wegen der Sünde, daß er die standeswidrige Liebschaft seiner Tochter geduldet, und ihn vermahnt, nunmehr in christlicher Demut das Unglück derselben als eine Strafe Gottes für seinen Hochmut hinzunehmen, auch ihm eröffnet, daß, wenn er nicht seine Einwilligung zu ihrer Heirat mit dem Sonnenwirtssohne entschieden versage, er in allen künftigen Fällen von Not oder Krankheit auf eine Unterstützung aus dem Heiligen nicht mehr rechnen dürfe.

»Das kommt von meiner Frau Stiefmutter her, die hat sich hinter den Pfarrer gesteckt«, sagte Friedrich bitter. »Aber wartet nur, Vetter, es kommt gewiß noch eine Gelegenheit, wo ich's dem Höllenpfaffen eintränken kann, daß er einem Vater zumuten will, er solle dazu mithelfen, seine eigene Tochter um ihre Ehre zu bestehlen.«

»So lang's am Sonnenwirt fehlt«, versetzte der Hirschbauer, »ist's eigentlich gleichgültig, ob ich meine Einwilligung geb oder nicht, und das hab ich auch dem Pfarrer gesagt. Aber es hat mir schier das Herz auseinandergerissen, daß man arme Leut so unterdrückt. Ich soll aus Hochmut Ihm die Tür zu meiner Tochter offengelassen haben, ich soll auf[303] unrechten Wegen eine vornehme Verwandtschaft gesucht haben, während ich von Anfang an gegen die Sach gewesen bin! Ich will Ihm jetzt keinen Vorwurf mehr machen, seit Er sich gestern vor'm Kirchenkonvent so wacker gehalten hat und hat Gott und der Wahrheit die Ehr geben, was nicht ein jeder tut; aber das kann ich Ihm sagen, Er ist ein Nagel zu meinem Sarg, und wenn das Ding sich nicht bald anders wendet, so wird man sehen, wie tief mir's ins Herz gefressen hat. Armut und Niedrigkeit kann ich tragen, aber der Schmach und Verachtung bin ich mein Leben lang aus dem Weg gangen, und ich spür's am Verfall in meinen morschen Knochen, daß mich auch diesmal zuletzt der Sensenmann drüber wegführen wird.«

»Ich hoff vielmehr, Ihr sollt auf die Trübsal noch Freud an uns erleben«, sagte Friedrich, dem die Worte des alternden, gebeugten Mannes ins Herz schnitten.

»Da müßt's gar anders kommen«, erwiderte der Hirschbauer. »Für jetzt ist ein Tag schwärzer als der ander. Nach dem Pfarrer hat mich der Amtmann erfordert und hat gefragt, wie es denn mit der Christine ihrer Straf steh.«

»Die zahl ich!« unterbrach ihn Friedrich. »Das versteht sich von selbst. Das Geld kann ich freilich jetzt nicht geschwind herhexen, aber der Amtmann muß eben ein Einsehen haben.«

»Der tut arg pressant«, sagte der Hirschbauer. »Daß ich das Geld nicht aufbringen kann, hat er gleich von selber anerkannt und gesagt, ich müsse eben[304] ohne Verzug um Strafverwandlung einkommen, damit sie's abverdienen könne, und wenn ich vernünftig sein und versprechen wolle, dem Sonnenwirt nicht mit ungeschickten Heiratsbegehren für sie zur Last zu fallen, so wolle er sehen, daß die Strafe, weil es das erstemal sei, glimpflich ausfalle. Nach dem, was er mir zu verstehen geben hat, soll's auf das hinauskommen: der Schütz und sein Weib sind, scheint's, faul, und da soll meine Tochter bei Amt alles tun, was sie nicht verrichten mögen, Botengänge, Ausputzen, den Gefangenen ihr Sach besorgen –«

»Das sind appetitliche Geschäfte zum Teil«, bemerkte Friedrich.

»Und außerdem soll sie dem Amtmann oder vielmehr der Amtmännin im Feld und Garten schaffen.«

»Hat er das gesagt?« rief Friedrich ganz erfreut.

»Wenn's nicht anders sein kann«, fuhr der Hirschbauer fort, »so wär das freilich nicht das Schlimmst, wiewohl michs hart ankommt, das Mädle gleich von jetzt an, sechs Wochen lang, denn so lang will's der Amtmann, in meinem bißle Feld entbehren zu sollen, so daß ich mit meinen Buben nicht so viel wie sonst im Taglohn verdienen könnt.«

»Jetzt hab ich ihn!« rief Friedrich voll Freude.

»Dem will ich's vertreiben, aus meiner Christine einen Fleckensträfling zu machen, der den Gefangenen ausmisten soll. Habt nur ein wenig Geduld, die Trübsal soll schnell vorübergehen!«

Er stürmte fort, ohne der erstaunten Familie zu erklären,[305] was er vorhabe. Hierauf begab er sich zu seinem Vormund, um das Geld zur Bezahlung seiner Strafe von ihm zu fordern. »Es ist Notsach, ich kann's dir nicht verweigern«, sagte das Gerichtsund Kirchenkonventsmitglied, »aber nimm dich in acht, ich schick hinter dir drein, ob du's auch gewiß aufs Rathaus trägst und nicht anderswo vertust.«

»Ich hab Ihm noch nichts unterschlagen, Herr Vetter«, bemerkte Friedrich.

»Sollst's auch wohl bleiben lassen«, erwiderte der Richter.

Friedrich blieb einen Augenblick stehen und besann sich. Zwar sagte er sich voraus, daß ein Versuch, auch das Geld zur Bezahlung von Christinens Strafe zu erlangen, ein ganz vergeblicher sein würde, aber doch meinte er ihn machen zu müssen. Der Unglaube, mit dem er seine Bitte vorbrachte, wurde jedoch vollkommen gerechtfertigt, denn der Vormund hielt ihm eine derbe Strafrede und meinte, es werde für sie ganz gesund sein, wenn sie auf einige Zeit nach Ludwigsburg komme, um sich alldorten alle dummen Gedanken vergehen zu lassen. Friedrich wünschte ihm einige tausend Teufel auf den Hals und empfahl sich.

Mit dem Gelde versehen, ging er in das Amthaus, wo er den Amtmann allein in seinem Zimmer traf. »Hier«, sagte er, indem er das Geld auf den Tisch legte, »will ich dem Herrn Amtmann das Strafgeld für mein' Schatz überbringen.«

Der Amtmann lachte. »Und wo ist denn das Seinige?« fragte er.[306]

»Dazu hat's nicht gereicht, ich will's abverdienen.«

»Er ist ein Querkopf«, sagte der Amtmann, die Stirne schnell wieder in Falten legend. »Das sind Flausen, man kennt Seine Vermögensumstände und die ihrigen. Das ist ja«, fuhr er sehr verdrießlich fort, das Geld auseinanderlegend, »das sind ja dieselben Sorten, die ich Seinem Pfleger heut geschickt habe. Es scheint, dem ist mein Geld nicht gut genug, daß er die erste Gelegenheit benutzt, es mir wieder zurückzuschicken; mit ein wenig Geduld und Umsicht hätt er's wohl loswerden können. Nun ja, das ist also die Strafe für Ihn, die Er ritterlicherweise für Seine Amaryllis hat einsetzen wollen. Für diese hätte es nicht soviel ausgemacht, ich taxiere sie nicht so hoch.« Er zählte das Geld und sagte: »Sein hochwohlweiser Herr Vormund muß den Beutel noch einmal auftun, er hat im Rechnen manquiert. Das ist nur die Strafe; dazu gehört aber noch das Surplus, von jedem Gulden drei Kreuzer für das Zuchthaus in Ludwigsburg, ferner drei Kreuzer Tax vom Gulden und endlich von zehn Kreuzern ein Kreuzer Schreibgebühr.«

Friedrich erbot sich, das Fehlende gleich zu holen. »Das sind Blutigel!« sagte er unterwegs zu sich. Aber es ergötzte ihn, obgleich der Spaß auf seine eigenen Kosten ging, das lange Gesicht seines Vormundes zu sehen, als derselbe sich eines Irrtums in der Rechnung überführt sah und noch einmal in die Kasse greifen mußte, was ihm sogar bei fremdem Gelde schwerzufallen schien.

Als Friedrich den Nachtrag gebracht und der Amtmann[307] das Geld gezählt hatte, nahm jener das Wort: »Und jetzt, mit des Herrn Amtmanns Wohlnehmen, möcht ich fragen, wie es mit der Christine werden soll.«

»Was geht das Ihn an?« sagte der Amtmann.

»Wir gehen einander nun doch einmal näher an«, erwiderte Friedrich, »und da wird man's nicht anders als billig und christlich finden, wenn ich mich um sie bekümmere. Ich hab gehört, der Herr Amtmann wolle sie ihre Strafe hier bei Amt und mit Feld- und Gartenarbeit abverdienen lassen.«

»Und wenn dem so wäre?« sagte der Amtmann, nach und nach aufmerksam werdend.

»Es wär mir nicht lieb, wenn sie vor dem ganzen Flecken Strafarbeit verrichten müßt –«

»Wer fragt denn darnach, ob's Ihm lieb ist oder nicht?«

»Und zudem, Herr Amtmann, sind das keine herrschaftlichen Geschäfte.«

Der Amtmann richtete sich hoch auf, und sein sonst gutmütiges Gesicht nahm einen bösartigen Ausdruck an. »Ich glaub, Er will den Advokaten machen!« sagte er.

»In dem Punkt wär ich nicht ganz untauglich dazu«, antwortete Friedrich. »Es gibt nichts in der Welt, Herr Amtmann, das nicht seine gute Seite hätte. So auch das Zuchthaus. Dort bin ich mit einem zusammengewesen, der hat mir erzählt, ein Amtmann habe ihn, wie er einmal zum Schellenwerken verurteilt gewesen sei, statt dessen in seinen eigenen Privatgeschäften arbeiten lassen; es sei jedoch[308] herausgekommen, und man habe ihn, was ihm übrigens nicht willkommen gewesen sei, zu öffentlichen Arbeiten abgeführt, der Amtmann aber« – hierbei sah er dem Amtmann scharf in die Augen – »sei um zwanzig Reichstaler gestraft worden.«

Der Amtmann wurde blaurot im Gesicht, so daß man bei seiner nicht eben magern Gestalt einen Augenblick einen gefährlichen Anfall befürchten konnte. Es ging aber vorüber, und er sagte verächtlich: »Ihm, einem Züchtling, einem vielfältigen Facinoroso, wird man viel Glauben schenken, wenn Er etwas wider mich vorbringen will.«

»Der Herr Amtmann«, erwiderte Friedrich, »vergißt, daß ich nicht allein darum weiß.«

»Es ist wahr«, versetzte der Amtmann, »ich habe aus gutem Herzen dem alten Müller angeboten, seine Tochter die Strafe auf eine leichte und gelinde Art abbüßen zu lassen. Dabei war es nicht sowohl mein als meiner Frau Gedanke, sie in unserer Privatökonomie nebenher zu beschäftigen; es ist aber nicht mit einem Wort die Rede davon gewesen, daß sie das im Strafwege tun solle, sondern sie hätte Geld dabei von uns verdient, das wir jetzt Würdigeren zukommen lassen werden. Die Amtsgeschäfte aber, die ich ihr zur Abverdienung ihrer Strafe habe auferlegen wollen, sind allerdings herrschaftliche Geschäfte. Doch darüber brauche ich mit Ihm nicht zu streiten. Das Gesindel ist nicht wert, daß man humane Absichten mit ihm hat. Sein Weibsbild kommt jetzt nach Ludwigsburg in den Herrschaftsgarten, muß dort sechs Wochen lang arbeiten, wird[309] mit Wasser und Brot gespeist, was sie jedoch abermals abverdienen muß, nachts ins Blockhaus eingeschlossen, damit sie nicht dem Bettel und der Liederlichkeit nachziehen kann, und außerdem muß sie den von neuem wieder eingeführten ** karren ziehen. Das hat Er mit Seiner ritterlichen Protektion für sie herausgeschlagen.«

»Es ist mir immer noch lieber, als wenn sie vor dem ganzen Flecken Strafarbeit verrichten soll«, erwiderte Friedrich trotzig. »Was in Ludwigsburg vorgeht, sieht man in Ebersbach nicht. Übrigens hat ihr Vater doch noch Freund, daß er vielleicht die Straf in Geld aufbringen kann. Und auch in dem Punkt bin ich wieder ein Advokat: Ich weiß, daß der Herr Amtmann das Geld nicht zurückweisen darf, weil er für das fürstliche Interesse besorgt sein muß.«

»Es steht aber bei mir, wie lange ich zusehen will«, entgegnete der Amtmann. »Meine Nachsicht wird nicht lange dauern. Und nun sorg Er, daß Er mir aus den Augen kommt. Es geht mir wie meiner Frau mit Ihm. Laß Er sich nicht wieder im Amthaus betreten, ohne daß ich Ihn verlangt habe.«

Den andern Abend spät erschien Friedrich beinahe atemlos in der Stube des Hirschbauern. »Hier ist das Geld für die Straf«, sagte er, die blanken Münzen auf den Tisch legend.

»Wie kommt Er zu dem Geld?« fragte der Hirschbauer, »sein Vater hat's Ihm gewiß nicht gegeben.«

»Nein«, antwortete Friedrich, »aber ich hab's auf eine Art erworben, daß ich's verantworten kann, das[310] heißt, zwischen mir und dem, von dem ich's hab, ist offene, ehrliche Sach.«

Er war nicht zum Geständnis zu bewegen, wie er zu dem Gelde gekommen sei, sondern wiederholte beharrlich seine vorige Versicherung, schärfte jedoch dem Hirschbauer ein, er solle, wenn der Amtmann frage, nicht angeben, von wem er das Geld habe, weil das nur neue Weitläufigkeiten zur Folge haben würde; er solle sagen, es sei ein für den äußersten Notfall gespartes Schatzgeld oder was ihm sonst Gescheites einfalle.

Als der Hirschbauer aus dem Amthause zurückkam, erzählte er mit bedenklicher Miene, der Amtmann habe das Geld zwar genommen, dabei aber bemerkt, das sei ein bedenklicher Reichtum, nach dessen Quelle er bei Gelegenheit forschen wolle.

Quelle:
Hermann Kurz: Der Sonnenwirt. Kirchheim / Teck 1980, S. 302-311.
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