[523] »Paß auf, Beck!« sagte der obere Müller, mit seinem Knecht eintretend, im Hausgang zu dem Bäcker,[523] der mit einem großen Kruge Weins gelaufen kam: »Paß auf, heut kriegst das Haus voll Leut! Der halb Fleck ist auf'm Marsch zu dir und will's probieren, ob dein Kesselfleisch so gut ist, wie's dein Weib selig hat machen können. Wir sind die ersten und wollen gleich ein gut's Plätzle besetzen.«
Der Bäcker lachte und stieß statt der Antwort die Türe auf, durch die man die Stube bereits überfüllt von Gästen sah. »Der Müller meint, er sei der erst zur Metzelsupp!« rief er diesen zu. Ein allgemeines Gelächter empfing den verspäteten Gast. »Mach nur, daß du hersitzst!« riefen einige, indem sie zusammenrückten und ihm und dem Knechte Platz machten: »'s ist eine Staatssau gewesen, aber kannst froh sein, wenn du nur noch das Schwänzle von ihr triffst!«
Ungeachtet dieser Drohung, die nicht so ernstlich gemeint war, ließen sich's der Müller und sein Knecht trefflich schmecken, während die Gäste den Bäcker lobten, der seit dem schon lange erfolgten Tode seiner Frau keine Metzelsuppe gegeben hatte, und sich zugleich darüber freuten, daß man bei den guten Aussichten auf das heurige Jahr auch einmal wieder einen billigen Wein trinken könne.
Nachdem der Müller seinen Magen gefüllt, sah er sich im Kreise der Gäste um. »Was, der Profos ist auch da?« rief er. »Ich hab gemeint, Ihr lieget am Gliederweh darnieder und könnet kein' Fuß und nächstens kein' Zahn mehr regen.«
»Die alten Knochen sind's Leben gewohnt«, erwiderte der Invalide. »Ich hab auch glaubt, ich[524] werd der Beckin Quartier machen, und jetzt ist sie mir lang vorangegangen. Ich hab eigentlich kein Gliederweh, 's sind eben Flüß, die mir im Leib rumziehen, bald da, bald dort, ich mein manchmal, sie fahren mir bis in die Krücken hinein, und oft werfen sie mich so bösartig ins Bett, daß ich schier nimmer aufstehen kann.«
»Lasset nur den Wein tapfer durch die Gurgel laufen, alter Kriegsknecht, der wird Euch die Flüß schon 'naustreiben. Daß dich! aber jetzt muß ich mich verwundern, daß der Fischerhanne auch so viel Courage hat und ins Wirtshaus geht! Nun, du darfst dir heut schon was gönnen: hast gewiß bei dem gestrigen Fang etwas Schön's verdient, gelt?«
Der Fischer schmunzelte. »Wenn man sich für den Flecken in Gefahr begibt«, sagte er, »so könnt man, denk ich, mehr ansprechen, als die paar Gulden, aber doch ist's immer besser als gar nichts.«
»Die Gefahr muß nicht so groß gewesen sein«, bemerkte der Müller: »wie ich hör, habt Ihr ihn mit der Schling gefangen?«
»Ja!« rief ein anderer. »Die Schling ist ein Einfall vom Fischerhanne gewesen. Das ist das sicherste Mittel: wenn einer nicht weich geben will, so zieht man eben zu, dann vergeht ihm die Kraft, und er wird zahm wie ein Lamm.«
»Ich hätt zugezogen, bis er hingewesen wär«, versicherte der Fischer, »denn wenn der loskommen wär, so möcht ich doch auch sehen, wer mir behaupten könnt, es hab kein Gefahr gehabt.«
»Gottlob«, sagte der Müller, »daß der Kerl aufgehoben[525] ist. Jetzt kann man doch wieder ruhig schlafen und ungeängstigt leben. Ich hoff, dasmal werden sie ihn fester verwahren, daß man endlich sicher vor ihm ist. Warum schüttelt Ihr den Kopf, Profos? Meint Ihr, er werd doch wieder auskommen, oder wär's Euch lieb?«
»Nein«, erwiderte dieser, »für ihn selber wär's das best, er blieb gefangen, wie er ist. Was kann ihm die Freiheit wert sein, wenn die ganz Welt immer mit Stecken und Stangen auf ihn aus ist, um ihn zu fangen? Ich mein nur, 's ist halt doch kurios, daß ein ganzer Flecken mit so viel starken Männern vor dem einzigen Menschen zittert. Und was hat er eigentlich getan?«
»Was er getan hat?« schrie alles zusammen. »Ist er nicht von Hohentwiel ausbrochen?«
»Nun ja«, sagte der Invalide, »das tät jeder von uns auch, wenn ihm das Gefängnis entleidet wär, und er wär so geschickt wie er, um eine halbe Unmöglichkeit zu vollbringen.«
»Und zweimal aus dem Zuchthaus!« sagte der Müller.
»Und hat sich beidemal freiwillig wieder gestellt«, entgegnete der Invalide. »Dazu gehört doch ein gutes Gewissen.«
Ein unwilliges, höhnisches Gelächter war die Antwort auf diese Bemerkung.
»Der Profos hat immer ein wenig zu ihm gehalten«, bemerkte der Fischer.
»Er hat auch immer eine gute Seit gehabt«, versetzte der Invalide. »Wenn man übrigens kein' anderen[526] Grund hat, ihn zu fürchten, so müßt man eigentlich jeden, der stark und verschlagen ist, umbringen, damit er einem nicht schaden kann, wenn's ihm etwa einfallen sollt.«
»Hat er denn sonst nichts getan?« schrie der Müller. »Ich will die Diebstähl, die er bei seinem Vater begangen hat, nicht so hoch anschlagen: aber ist er nicht erst kurz verwichen dem Lammwirt in Metzig und Keller einbrachen und hat ihm Fleisch, Brot und Wein genommen?«
»Requiriert«, sagte der Invalide.
»Was?« schrien die andern.
»Requirieren heißt man das bei den Soldaten«, erläuterte der Invalide ruhig. »In der Kampagne, wenn's nichts zu beißen und zu brechen gibt, kommt man zum Bauern in die Visit und holt sich Fleisch, Brot, Wein, Hühner, Gäns, Eier, kurz, was man finden kann, und wenn das ein Verbrechen wär, so müßt vom General bis zum Gemeinen runter alles gehenkt werden. Der fürnehmst Offizier schämt sich nicht dran. Und da geht's oft zu, daß mir's in der bloßen Erinnerung weh tut. Der Frieder ist noch bescheiden, nimmt nicht mehr, als er für den Hunger und Durst braucht, und hat dem Lammwirt doch nicht das übrig Fleisch zu Fetzen verhauen und den Wein in Keller laufen lassen, wie's der Soldat oft und viel tut. Es ist jetzt ohnehin Krieg in der Welt; denket euch, der Feind komm in den Flecken, oder auch der Freund, denn 's macht's einer wie der ander, dann tätet ihr die Hundert oder Tausend gern gegen den einzigen Marodeur[527] eintauschen und tätet sagen: der hat's doch noch gnädig gemacht.«
»Das ist was anders«, sagte der Müller. »Der Krieg verlangt's eben einmal so, er muß die Leut ernähren.«
»Wenn man mich lebenslang auf die Festung setzt und mich nach meinem Entkommen überall verfolgt und mein Weib einsperrt, das ist auch eine Art Krieg. Sag jeder von euch, was er tät, wenn er so 'nausgestoßen wär wie ein wild's Tier. Man kann doch nicht immer Rüben fressen, und im Winter wachsen nicht einmal Rüben. Und wenn er auch gar nichts nähm als eure Rüben, so tätet ihr doch auch sagen, es sei gestohlen.«
Seine Worte hatten, wenigstens vorübergehend, einen unverkennbaren Eindruck gemacht. Der Invalide fuhr, auf denselben bauend, fort: »Es ist, wie wenn die Leut ein bös Gewissen hätten, das sie an dem Menschen auslassen müßten. Er raubt nicht, er mordet nicht, und doch hat der Fleck eine Angst vor ihm, daß es eine wahre Schand ist. Noch eh er jemand außer seinem Vater ein Stückle Brot genommen hat, ist ein Schreck von ihm ausgangen, und wenn's geheißen hat: der Sonnenwirtle kommt, oder er ist da, so ist alles auf und davon, wie man sich vor einem wütenden Tier salviert. Und der Nam ist vor ihm hergangen wie ein schwarzer Schatten, und mich sollt's nicht wundern, wenn er dem Schatten endlich folgt und in seine Fußstapfen tritt.«
»In was für Fußstapfen«, fragte der Fischer, »ist er denn gangen, wie er beim Pfarrer einbrechen[528] ist und hat ihm den Kelch samt den Hostien gestohlen?«
»Für selbiges Stückle hätt ich ihm das Fell recht brav vergerben mögen«, sagte der Invalide, »und dennoch hat sich's anders damit verhalten als man's nennt. Ich frag jeden, der das Ding mit seinen fünf Sinnen ansieht, ob etwas Abgefeimt's dran ist, wie man's dafür ausgeben hat. Der Pfarrer verweigert ihm die Kopulation, weil er sie nicht zahlen kann. Darüber kann jeder andächtige, in Jesu Christo geliebte Zuhörer, wie man uns von der Kanzel anredet, denken, wie er will; ich find in der Bibel nichts davon, daß das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit bloß gegen Bezahlung zu haben sei und anders nicht; aber, wie gesagt, das geht mich nichts an, das kann jeder mit sich selbst ausmachen. Der Bub drauf – denn ein Bub ist er gewesen, wie mancher sonst, der im dreiundzwanzigsten Jahr heiratet, ebenmäßig ein Bub ist und erst von seinem Weib gezogen wird – der Bub, sag ich, bricht in der nächsten Nacht dem Pfarrer ein, ohne allen Schlachtplan, rafft zusammen, was er erwischt, natürlich Kleinigkeiten, läßt auch noch den Kelch samt Hostien mitlaufen und steckt die Sachen in seines Vaters Stroh, damit sie gleich am andern Morgen dem Knecht ganz gewiß in die Hand fallen müssen. Daß er Grütz im Kopf hat, das leugnet ihm sein ärgster Feind nicht ab. Heißt aber das Grütz, wenn man eine Tat tut, von der am andern Tag jedes Kind sagen muß: das hat niemand anders getan, als des Sonnenwirts Frieder! Heißt das Grütz, wenn man[529] den Raub so versteckt, daß in der nächsten Stund alles rauskommen muß? Entweder hat er's absichtlich getan, weil er lieber wieder im Zuchthaus gewesen wär als in der Welt haußen, oder er ist ganz rappelköpfisch gewesen und hat gar nimmer gewußt, was er tut. Ein wüster Streich ist's gewesen, ja, das streit ich nicht, aber noch viel dümmer als wüst. Wo wird ein Dieb von Profession so wüst und dumm und bubenmäßig sein' Mutwillen ausüben? Und doch hat man ihn zu einem Dieb und Räuber von Profession gestempelt und hat ihn lebenslänglich auf die Festung geschickt. Hätt man ihn mir geben, ich hätt ein paar Stecken an ihm verschlagen, und dann noch ein' drüber, weil ich immer auf den Bursch was gehalten hab.«
»Auf die Art«, bemerkte der Fischer mürrisch, »kann man alles Lumpenpack in Schutz nehmen, bis man zuletzt selber ihresgleichen wird. Grad so hat der Sonnenwirtle auch angefangen: der hat zuerst sein'm Vater 'n Zigeuner ins Haus schleifen wollen, und nachher hat er sich mit dem Hirschbauren und seiner Tochter gemein gemacht, und so ist er von einem bösen Trappen auf den andern kommen.«
»Mir wird's ganz übel«, rief der Invalide, »wenn ich's mit anhören muß, wie einer, der selber arm ist, arme Leut verwirft. Wenn ein paar Arme beieinander sind, so klagen sie, man laß die Armut nicht gelten, und in der Kirch singen Arm und Reich miteinander, die Menschen seien alle gleich; sowie einer aber einmal darnach leben will, so fallen[530] arm und reich über ihn her. Die Liebschaft hätt er unangefangen lassen können, ich hab's ihm mehr als einmal gesagt, wiewohl das Mensch auch nicht so übel gewesen wär; aber daß er sich zur Armut gehalten hat, grad das muß ihm einmal 'n Stuhl im Himmel erwerben, mag's in der schnöden Welt noch mit ihm gehen wie's will.«
Während der Invalide so die einzelnen Einwendungen, die ihm gemacht wurden, niederschlug, hörte er nicht, wie das Murmeln und Murren um ihn her immer stärker wurde. »Von was für einem Ausbund ist denn da die Red?« rief der Müllerknecht erbittert, »man sollt meinen, das wär ein Muster, nach dem sich ein jedes richten müßt, und wenn man nach dem Namen fragt, so ist's ein Mörder, der seinem Nebenmenschen ohne weiteres das Messer in Arm sticht!«
»Das ist auch ein wüster Streich gewesen«, sagte der Invalide, der sich nicht irre machen ließ: »aber mit'm Zuchthaus ist er doch, mein ich, hart genug abbüßt worden. Zum Messer greifen freilich nicht alle, denn da gehört schon ein wenig mehr Mut dazu, aber mit'm Prügel oder mit'm Stuhlfuß ist jeder gleich bei der Hand, wenn der Wortwechsel hitzig wird, und es fällt ihm nichts Gescheit's mehr ein, und da schlagen sie einander so über die Köpf, daß man sich nicht wundern darf, daß es so viel dumme Leut gibt. Streit und Certat muß sein in der Welt, sonst ist's langweilig, aber wohl wär's besser, die Menschen täten witzig miteinander fertig werden statt spitzig, einander tupfen statt stechen,[531] striegeln statt prügeln, mit dem Kamm lausen statt mit dem Kolben. Wenn aber einer tut, was alle tun, und tut's meinthalb ein wenig ärger, so sollt man ihn doch nicht um 'n ganzen Stock höher henken, wie wenn er was ganz Besonders getan hätt.«
»Es scheint, da muß sich die Obrigkeit verantworten!« warf der Fischer bissig dazwischen.
»Ich hab mein jährlichs Gratial vom Haus Östreich«, sagte der Invalide stolz: »die Obrigkeit kann mir nichts geben und nichts nehmen. Ich sag nichts wider sie, aber ich red, wie mir der Schnabel gewachsen ist.«
»Ja, für'n wild's Tier, das dem Flecken täglich mit Mord und Brand droht hat!« schrie der Müller, der den Wein zu spüren begann.
»Um dieser Reden willen hätt ich auch wieder 'n Stecken für ihn in Bereitschaft«, sagte der Invalide, der nach langer Krankheit wieder einmal ausgegangen war und sich hinter dem Glase so behaglich fühlte, daß er aufgelegt war, seine Meinung standhaft gegen Feind und Freund durchzufechten. »Und zwar tät ich ihn darum züchtigen, weil er mit solchen Reden sich selber am meisten schad't. Aber er hat sich nicht schlecht dagegen verantwortet schon vor sechs Jahr, wie der Schütz einmal aus'm Verhör erzählt hat. ›Reden denn die andern französisch?‹ hat er gesagt. Und das ist die Wahrheit. Wo man hinhört, wie die Leut voneinander reden, so hört man: ›Den Kerl mach ich kalt, ich hau ihm 'n Flügel vom Leib, hin muß er sein, nicht lebendig soll er mir vom Platz kommen‹, oder: ›die ganz[532] Familie muß mir ausgerottet sein, es soll keiner übrigbleiben, der an die Wand pißt, mit Respekt zu melden, wie's in der Bibel heißt. Ist's denn viel ärger, wenn einer droht, er zünd den Flecken an, daß den Leuten die Häuser über'm Kopf abbrennen, und das Kind im Mutterleib dürf ihm nicht davonkommen? Ist nicht ein Geschwätz so dumm wie das ander, und ist aus'm einen mehr worden als aus'm andern? Was hat er denn getan, frag ich.‹«
Das Murren war allmählich zum Geschrei gestiegen, und einige Stimmen riefen bereits: »Schmeißet ihn 'naus!«
»Redet ihr feiner?« fuhr der Invalide mit erhobener Stimme fort. »Ihr seid auch grob wie ungespalten Holz, aber ihr wisset's nicht, weil ihr euch selber vor eurem eigenen Schreien nicht höret. Ihn aber höret ihr, weil er mit seiner Bärenstimm Manns genug ist, euch alle ins Stroh zu schreien, und weil er noch trotziger und wilder und wüster als ihr reden kann, wenn er verzürnt ist. Das nehmet ihr dann als bare Münz, wiewohl er euch den Flecken noch lang nicht anzünd't hat, aber was Guts an ihm ist, das wollet ihr nicht für bar gelten lassen.«
Der Invalide blickte ruhig in den jetzt ausbrechenden Sturm, auf nichts als seine Gebrechlichkeit vertrauend, obgleich wenig darauf zu wetten war, ob er mit heiler Haut davonkommen würde: denn nicht nur war das Geschrei gegen ihn zum tobenden Gebrüll geworden, sondern es hatten sich auch Fäuste gegen ihn erhoben, und darunter die beiden[533] derben Schlagwerkzeuge des Müllerknechts, der es durchaus nicht in seinen Kopf bringen konnte, daß man einen Menschen in Schutz nehme, der ihm, seinem Freund und Guttäter, das Messer in den Arm gestoßen hatte.
»Mir scheint's, man muß den Flecken noch besser säubern«, schrie der Fischer, dessen Stimme nur noch in der nächsten Umgebung zu verstehen war. »Wenn ein Fleckenräuber so Freund im Ort selber hat, so ist's kein Wunder, daß er sich bei Tag und Nacht ohne Gefahr hier aufhalten kann.«
»Er ist in der ganzen Zeit nicht ein einigsmal bei mir gewesen«, entgegnete der Invalide, der sich gleichfalls nur noch seinem Gegner und den Zunächstsitzenden vernehmlich machen konnte. »Er weiß wohl, daß ich ein alter hilfloser Mann bin und daß er mich nicht in Verlegenheit bringen will, wiewohl er weiß, daß ich ihm nicht feind bin, das ist auch noch nobel von ihm.«
»Nobel!« schrie der Fischer giftig. »B'hüt uns Gott vor Gabelstich, dreimal gibt neun Löcher!«
Der Aufruhr in der Gesellschaft hatte den höchsten Gipfel erreicht, als der Schütz eintrat und durch sein Erscheinen wie ein Wetterableiter wirkte. Nicht der Anblick des Stückes Obrigkeit, sondern sein Aussehen war es, was den Sturm beschwor. Die listig zusammengekniffenen Augen, die blinzelnd auf der rotglühenden Nase hafteten, und die schalkhaft herausgepreßten Lippen verrieten es, daß ihn ein Geheimnis drückte, das neben einem Teil Verlegenheit viel Spaßhaftes enthalten mußte. Die Blicke der[534] Anwesenden richteten sich erwartungsvoll auf ihn, während er, zufällig neben dem Invaliden noch ein wenig Platz findend, sich einen Stuhl zu diesem rückte und ihm ein paar Worte ins Ohr sagte. Der Invalide schlug mit der Faust auf den Tisch und stieß ein herzliches Gelächter aus, das er zwei-, dreimal rasch nacheinander die Tonleiter herabrollen ließ.
»Was ist's? Was gibt's?« schrien die andern.
»Im Amthaus hat man's seit heut vormittag schon gewußt«, fuhr der Schütz halblaut, doch so, daß die andern es hören konnten, gegen den Invaliden fort. »Dort ist ein Jubeln und Lachen drüber, daß dem gestrengen Herren so eine Eul aufgesessen ist. Wer Nasen wachsen sehen will, der muß jetzt nach Göppingen gehen, da ist eine ganze Kultur davon, wie ein junger Wald, alle so lang. Dasmal hat man's durch kein' Expressen runter vermelden lassen, sondern durch eine stille Gelegenheit.«
»Was ist denn geschehen?« fragte der Müller, dem Schützen sein Glas anbietend, da er dies für das geeignetste Mittel hielt, ihn zum Reden zu bringen.
Der Schütz trank es vergnüglich aus und antwortete dann: »Man darf's eigentlich noch gar nicht sagen, das Oberamt hat's bei Kopfabhauen verboten, denn dort schämen sie sich schwarz.«
Andere folgten dem Beispiel des Müllers, da der Schütz entschlossen schien, seine Neuigkeit so gut als möglich zu verwerten.
»Was ist denn los?« fragte endlich der Fischer den Invaliden.[535]
»Ein Vogel«, antwortete dieser lachend.
Der Schütz sah den Fischer, der seinen Wein an ihm gespart hatte, eine Weile stillschweigend an, gleichsam um die Wirkung seiner Worte vorzubereiten. »Er ist durch!« sagte er dann geheimnisvoll.
Das blasse Gesicht des Fischers, der die Wahrheit bereits geahnt haben mochte, wurde einen Augenblick kreideweiß. Die andern begriffen noch nicht recht, um was es sich handelte, und starrten den Schützen mit aufgerissenen Augen an. »Wer ist durch?« fragte der Müllerknecht.
»Wer?« rief der Schütz. »Gibt's denn zwei so? Der von Hohentwiel über alle Mauern und Felsen fortgeflogen ist, hat dem Göppinger Käfig die Ehr auch nicht lassen wollen. Wie er gestern eingeliefert worden ist, schon spät in der Nacht, hat man ihn auf die Hauptwacht gesetzt, hat ihm ein eisern Halsband und den Hosenträger angelegt und hat ihn mit einer Kette an die Wand angefesselt, so daß er drei, vier Schritt hat in der Stub rumgehen können. Auch hat man ihm zween Mann beigegeben, die ihn die ganz Nacht hätten verwachen sollen. In der Nachmittnacht ist der ein Wächter fort und hat eins geschrien; wie er aber zurückkommt, find't er sein Kameraden eingeschlafen – der behauptet, es müß ihm angetan worden sein – und kein Sonnenwirtle ist nimmer dagewesen. Er hat den Göppingern ihren Geschmuck mit fort, Halsband und Hosenträger, wahrscheinlich hat er's zum Andenken behalten wollen. Und sein Christine wird jetzt auch[536] wieder bei ihm sein. Ich glaub, er hat sich extra deswegen fangen und nach Göppingen liefern lassen, um sie dort abzuholen, aber er ist zu spät kommen, denn gestern abend, noch vor seiner Ankunft, hat man sie losgelassen, weil man nicht gewußt hat, was man eigentlich mit ihr tun soll; und da wird er wohl denkt haben, er sei jetzt überflüssig, und ist also auch gleich wieder fort.«
»Wie's Teufels ist er denn aber von der Kette kommen?« fragte der Müller.
»Du hast schon den rechten Namen genannt«, schrien ihm mehrere zu. »Kannst dir wohl denken, wer ihm allemal forthilft.«
»Jetzt muß wieder der Teufel im Spiel sein!« sagte der Invalide lachend.
»Wisset ihr nicht mehr«, rief einer der Gäste, »wie er in der Stub da – an dem Platz, wo jetzt der Peter sitzt, ist er gesessen« – der Knecht rückte bei diesen Worten etwas betreten den Stuhl – »wie er da gesagt hat, er glaub an gar nichts? Ich hab gleich bei mir denkt, es werd sein' guten Grund han, daß er nichts zugeben will. Denn sich aus Ketten und Banden nur so rausschälen und über Mauern und Felsen runterkommen – Mannen! das sind Ding, die nicht natürlich zugehen.«
Der Redner sah sich unwillkürlich um, ob nichts Unheimliches hinter ihm sei. Die andern murmelten: »Gott sei bei uns!«
Der Invalide hatte inzwischen dem Schützen zugehört, der ihm erzählte: »Man hat auf seiner Britsch 'n Nagel gefunden, den er draus rausgezogen[537] haben muß, und an der Kette ein schadhaftes Glaich, das er wahrscheinlich mit dem Nagel vollends aufdruckt hat; denn dem ist ein Nagel mehr als einem andern ein ganzes Handwerkszeug. So gibt's bloß ein'.«
»Wer hätt' sich's auch träumen lassen«, begann einer, »daß die Metzelsupp so ausging! Sie hat so lustig angefangen.«
»Es kann noch Blutwurst regnen«, fiel ein anderer ein. »Jetzt kann's der Fleck büßen müssen, daß man ihm so nachgestellt hat und erst noch vergeblich.«
»Es ist auch nicht recht«, sagte ein dritter, »daß man einen Menschen zu seinen Kindern lockt und bei ihnen überfällt. So was sollt man ja dem unvernünftigen Tier nicht zuleid tun.«
»Ja, 's ist wider die Natur«, sagte ein vierter. »Ich will nichts davon, und wenn ich auch drunter mitleiden muß, so weiß ich doch wenigstens, daß mich's unschuldig trifft.«
Er sagte dies so laut, daß man es in jeder Ecke der Stube hören konnte. »Nun, wenn er etwa unsichtbar zugegen ist«, bemerkte der Invalide lachend, »so hat er's sicherlich gehört und wird sich darnach richten.«
Der Fischer, der bei der veränderten Lage der Dinge die öffentliche Meinung von sich abfallen sah, sagte ingrimmig: »Die Göppinger können warten, bis ich ihnen wieder einen fang und mir für sie die Finger verbrenn.«
»Ja«, versetzte der Müller, »und meinen sie denn,[538] ihr Unschick sei dadurch ungeschehen gemacht, daß man nicht davon reden soll?«
»Auf die Länge läßt's sich natürlich nicht verbieten«, sagte der Schütz. »Der Befehl ist aber, man solle vorderhand kein unzeitig Geschrei machen, wenn er aber so verwegen sei, daß er sich abermals in die hiesige Gegend ziehe, so solle man unverweilt und mit der größten Öffentlichkeit einen Preis von hundert Gulden auf seinen Kopf setzen.«
»Hundert Gulden?« rief der Fischer. »Auf sein' Kopf?« rief der Müller.
»Hundert Gulden, wer ihn bringt, lebendig oder tot«, antwortete der Schütz.
Der Fischer schlug die flachen Hände auf den Tisch. »Den Preis will ich verdienen«, sagte er.
»Ich auch!« rief der Müller.
»Und ich!« rief der Knecht, dem die Gespensterfurcht zu vergehen schien, seinem Meister nach.
Die anderen Gäste tranken schweigend aus, und ihre langen Gesichter verrieten, daß das Gelübde der drei sie nicht sonderlich im Glauben an die Sicherheit des Fleckens befestigt habe. Bei dem allgemeinen Aufbruch waren der Invalide und der Schütz die letzten. »Gelt, Beck, hast auf eine größere Zech abgehoben?« sagte dieser zum Bäcker, »und jetzt ist auf einmal ein Haar in dein' Wein gefallen. Ich will dich wenigstens einigermaßen schadlos halten. Gib mir ein paar Schoppen mit, das Amt soll's zahlen. Es muß heut nacht etliche Mannschaft auf'm Rathaus wachen, für alle Fäll. Der Herr will ruhig schlafen können, denn 's ist ihm doch nicht ganz[539] wohl bei der Sach. Aber trotzdem bricht er einmal über's ander in ein Lachen aus, daß ihm der Bauch wackelt, und sagt vor sich hin: ›Ich vernemme, daß die Anstalten des Herrn Vogts nicht die besten sind.‹«
Er empfing den verlangten Wein und ging mit dem Invaliden fort. Der Bäcker, der jetzt allein war, zündete eine Küchenampel an, löschte die Lichter aus und setzte sich in den hinterlassenen Lehnstuhl seiner verstorbenen Frau, um hier die nahe Backstunde abzuwarten, vielleicht auch in der Hoffnung, an die Wachmannschaft auf dem Rathause noch etwas von seinem Wein abzusetzen. Er schlief ein, glaubte aber noch nicht lange geschlafen zu haben, als er, durch ein Geräusch oder eine innere Beunruhigung erweckt, die Augen aufschlug. Mit offenen Augen glaubte er zu träumen, denn am Wirtstische saß in dieser späten Stunde eine Gestalt, die den großen Krug vor sich aufgepflanzt, eine Flasche daraus gespeist hatte und den Wein aus dem gefüllten Glase bedächtig kostete. Der Bäcker schloß die Augen und öffnete sie wieder, aber die Erscheinung war noch immer da und schien greifbare Wirklichkeit zu sein. Durch den Wald von Kopf- und Barthaaren, die das trotzige Gesicht beinahe ganz bedeckten und ihm für einen unter lauter glatten Gesichtern aufgewachsenen Menschen ein fürchterliches Aussehen gaben, erkannte er ihn bei dem armseligen Schein der Ampel, den Gefürchteten, den Schrecken der Gemeinde, des Amtmanns und des Vogts. Sein Blick ruhte mit spöttischem Ausdruck[540] auf dem Wirt. »Hast wieder einmal geduselt, Beck?« begann er. »Dein Wein ist nicht besonders. Wie dein Weib noch gelebt hat, hast du einen besseren geführt. Gott hab sie selig, sie war ein braves Weib, schlecht und recht, betete wenig Sprüche, hatte aber Christentum im Herzen und hätte es für eine Sünde gehalten, einen guten Wein zu verderben. Ich will nicht hoffen, daß du ihn schmierst.«
»Er steht schon den ganzen Abend im Krug«, sagte der Bäcker schüchtern. »Ich will frischen holen.«
»Tu das und komm bald wieder, denn ich hab eine Erquickung nötig.«
Der Bäcker ging. Sowie die Türe sich hinter ihm geschlossen hatte, eilte der seltsame Gast hinzu und horchte. Bald hörte er, wie die Haustüre ging und der Schlüssel langsam und leise darin umgedreht wurde. »Ich hab's von dem Schubjack nicht anders erwartet, als daß er mich verraten werde«, sagte er und sah sich in der Stube um. Der große tiefe Wandschrank schien ihm zu gefallen: er schloß ihn auf, leuchtete einen Augenblick hinein und stellte dann die Ampel wieder genau dahin, wo sie gestanden war. »Schlechte Maus, die nur ein Loch weiß, aber es wird genügen«, sagte er, schlüpfte in den Schrank und zog die Türe desselben hinter sich zu. Er war noch nicht lange darin, als die Haustüre mit dem Geräusch aufgeschlossen wurde und die Wachmannschaft, den Bäcker an der Spitze, in die Stube stürzte. Sie sahen sich um. »Wo ist er denn?« schrien alle wie aus einem Munde. »Da ist[541] er gesessen«, sagte der Bäcker bestürzt. »Geschwind, das Haus durchsucht!« schrien sie und verteilten sich nach allen Richtungen. Die Stube, die angrenzende Kammer und Küche wurden sorgfältig durchgesucht, aber an den Schrank dachte niemand. Nachdem sie hier und in den anderen Räumen des Hauses mit den wieder angezündeten Lichtern in jeden Winkel geleuchtet und nichts gefunden hatten, kamen sie zurück. Die einen schalten, die anderen höhnten den Bäcker, daß er sie um eines leeren Traumes willen in Alarm gebracht habe. Derselbe schwur hoch und teuer, der Sonnenwirtle sei in seinem Haus gewesen, auf diesem Stuhle sei er gesessen und aus dieser Flasche habe er getrunken. »Jetzt glaub ich's auch«, sagte er, »daß er mit dem Teufel im Bund ist, denn sonst könnt ich nicht begreifen, wie er 'nauskommen ist, denn ich hab die Haustür zugeschlossen, wie ihr selber wisset, und einen anderen Ausgang gibt's nicht. Daß er reinkommen ist, wundert mich weniger, denn es wär möglich, daß ich vorher nicht zugemacht hätt', weil ich mir fürgestellt hab, ihr werdet doch noch mehr Wein wollen.«
»Das ist noch das Vernünftigst, was dir den ganzen Abend durch den Schädel gangen ist«, sagte der Schütz. »Und da wir einmal da sind, so wollen wir eben so frei sein und des Sonnenwirtles sein Wein versuchen. Sein Wohl! Ich wünsch ihm, daß er weit von hier sein guts Brot finden und uns nichts mehr zu schaffen machen möcht.«
Er trank und ließ die Flasche weitergehen. »Du[542] bist gut laden, wie langs Heu«, sagte ein anderer zu ihm.
»Ja, du hast deine beste Züg im Hals«, bemerkte ein dritter.
Nachdem die Flasche geleert war, sprachen sie auch noch dem Kruge zu, scherzten über die Geisterseherei des Bäckers und begaben sich endlich wieder auf ihren Posten zurück. Der Bäcker begleitete sie, schloß die Haustüre hinter ihnen sorgfältiger als jemals ab und ging wieder in seine Stube. Aber wer vermag sein Entsetzen zu beschreiben, als er seinen furchtbaren Gast an derselben Stelle und in der gleichen Haltung wie vorhin am Tische sitzen sah. Langsam und ruhig, aber mit dem strengen Blicke eines Richters, wendete dieser sein Gesicht nach ihm hin. »Elender Hund«, sagte er, »hab ich dir je in meinem Leben etwas zuleid getan? Kannst du's vor deinem Weib verantworten, daß du den Verräter an mir gemacht hast? Sie würde dich nicht mehr ansehen, wenn sie noch lebte. Geh, du bist nicht wert, in dem Stuhl zu sitzen, der so oft ihr Schmerzenslager gewesen ist.«
Der Bäcker zitterte und hatte alle Fassung verloren.
Der Gast schlug ein Gelächter auf, das dem Wirt durch Mark und Bein ging. »Was seid ihr doch für erbärmliche Dummköpfe!« rief er. »Ihr habt mich gesehen, angerührt und in der Hand gehalten und habt mich doch mit allen euren Lichtern nicht gefunden.«
Der Bäcker starrte ihn mit irren Blicken an. Der[543] Schreckliche erzählte ihm haarklein alles, was vorgegangen, und wiederholte ihm jedes Wort, das gesprochen worden war. Dem Bäcker wirbelte der Kopf.
»Dummer Tropf! da, in der Bouteille bin ich gesteckt!« rief jener endlich höhnisch.
Der Bäcker fiel auf die Knie, streckte die Hände, wie um Gnade flehend, nach ihm aus und war feig genug, zur Verminderung seines eigenen Kerbholzes, ihm zu verraten, welches Gelübde der Fischer, der Müller und dessen Knecht getan.
»Jetzt hol mir frischen Wein, hast mich lang genug warten lassen. Ich will dich noch einmal auf die Probe stellen, aber ich folge dir unsichtbar. Wenn du mir einen falschen Tritt tust, so sitz ich dir im Nacken und will dich reiten, daß du nach Gott schreien sollst. Und misch mir den Wein nicht, Schuft, oder du sollst mir keines natürlichen Todes sterben.«
Diesmal brauchte er nicht an der Türe zu lauschen, denn der Bäcker hatte sie weit offengelassen. Er hörte ihn den richtigen Weg nach dem Keller einschlagen, aus welchem er bald wieder zurückkam, fast wahnsinnig vor Angst, die sich erst etwas legte, als er das Gespenst nicht mehr hinter sich vermuten mußte, sondern leibhaftig vor sich am Tische sitzen sah. Der Unhold stellte ihm die mißliche Aufgabe, sich zu besinnen, welche Strafe er durch seinen Verrat verdient habe, und trank, während der Bäcker alle Qualen der Todesangst ausstand, seinen Wein langsam und behaglich aus. Dann erhob er sich mit[544] den Worten: »Wenn ich wiederkomme, so laß dir keinen solchen Spaß mehr einfallen, ich könnt ein andermal ernsthafter aufgelegt sein. Was schaust denn so nach meinem Fuß?« fuhr er ihn an, »ja so, du bist neugierig, ob kein Pferdefuß zum Vorschein komme. Nein, dummer Kerl, das Ding sitzt nicht im Fuß. Sieh, da sitzt's!« Er klopfte ihm mit dem Knöchel des Fingers an den Kopf, wie man an ein Faß klopft, aber so stark, daß der Bäcker beinahe zu Boden fiel. Dann verließ er das Haus, und der Bäcker schloß abermals die Türe, aber ohne den beruhigenden Glauben, daß diese Maßregel ihm irgendeine Sicherheit zu gewähren vermöge. Er dachte nicht mehr an das Backen, sondern löschte schnell die Lichter und schlüpfte angekleidet, von Angst und Fieber geschüttelt, in sein Witwersbett.
Der Geächtete ging nach der einzigen Heimat, die er noch in seinem Vaterorte hatte, obwohl auch diese für ihn unzuverlässig geworden war. Er drückte den Riegel der Hintertüre, den Finger durch die Türspalte drängend, leise zurück, und nach wenigen Augenblicken stand er vor dem Bette seiner Schwiegermutter. Auch dieser drang ein eisiger Schreck durch die Gebeine, als sie, plötzlich erwachend, in ungewissem Sternenlichte eine geisterhafte Gestalt mit aufgehobenem Finger vor sich stehen sah und alsbald ihren verratenen Schwiegersohn erkannte.
»Welchen Judaslohn habt Ihr für die Auslieferung gekriegt?« fragte er.
Sie vermaß sich mit den höchsten Schwüren, daß sie weder etwas bekommen noch etwas verdient[545] habe und daß der Überfall ihr selbst ganz unversehens gekommen sei. Er ließ den Verdacht, der mehr in seinem Gemüt als an bestimmten Beweisen haftete, auf sich beruhen und weckte seinen Knaben. Der Kleine lächelte ihn mit halboffenen Augen wie im Traume an.
»Da siehst, Friederle, daß dein Vater frei ist. Brauchst dich nicht zu grämen. Willst mit?«
»Er wird doch nicht das Kind durch die Wälder rumschleifen wollen!« rief die Alte lebhaft. »Ein Vater kann sein' Buben in dem Alter noch nicht pflegen.«
»Er hat ja seine Mutter«, antwortete er. »Sie ist frei und wohl aufgehoben.«
»Gott sei Lob und Dank!« rief die Alte, sei es, daß eine menschliche Regung sie erfaßt hatte oder daß sie ihn in guter Laune zu erhalten trachtete. »Aber wenn auch!« fuhr sie fort, »das ist kein Leben für ein Kind, und mein Hühneraug sagt mir, daß noch einmal Schnee fällt. Laß Er mir nur den Buben da, ich geb ihn nicht her.«
Sie kannte ihn wohl und hatte die rechte Saite getroffen. »Wenn Ihr eine gute Ahne seid«, sagte er, »so will ich fünfe grad sein lassen. Aber fahret mir säuberlich mit den Kindern, das sag ich Euch. Wo ich auch bin, mein Aug zielt immer daher, und ich weiß immer, wie's bei Euch steht, so gut als wenn ich gegenwärtig wär.«
Er küßte die Kinder, von welchen das kleinere ruhig fortschlief, und wandte sich zum Gehen.
»Ich will noch einmal mit dem Sonnenwirt wegen[546] der Auswanderung reden«, rief ihm die Alte nach. »Wo Er sich mit der Christine aufhält, will ich nicht fragen, damit Er nicht wieder mißtrauisch wird. Er kann sich ja von Zeit zu Zeit erkundigen oder durch vertraute Leut anfragen lassen. Und halt Er sich nicht hier auf, das Klima ist nicht gesund für Ihn.«
»Schon recht, aber erst tu ich noch einen Tuck«, antwortete er und war verschwunden. Die Alte fuhr unter die Decke und murmelte ein langes Dankgebet für ihr glückliches Entrinnen.
Am anderen Tage geriet der Flecken in eine unaussprechliche Aufregung, als man die Begebenheiten der verflossenen Nacht erfuhr. Außer dem Besuche bei dem Bäcker, der infolge der erlittenen Schrecknisse krank darniederlag, hatte der Sonnenwirtle noch ein weit tolleres Stück verübt. Er war auf unerklärliche Weise in das Haus seines Todfeindes, des Fischers, eingedrungen, hatte diesen nebst dessen Frau aus ihrem zweischläfrigen Bette aufgescheucht, sich's auf demselben bequem gemacht und das Ehepaar mit vorgehaltenem Gewehr gezwungen, ihm die ganze Nacht Gesellschaft zu leisten. Kochend vor Wut, hatte der Fischer es gleichwohl nicht wagen dürfen, einen Fuß zu rühren oder einen Laut von sich zu geben, und war der Gewehrmündung des schwergereizten Feindes, so wie einem bitter höhnenden Witze eine endlose Nacht hindurch preisgegeben gewesen, während nicht weit davon auf dem Rathause für die allgemeine Sicherheit gewacht wurde. Vor Tagesanbruch hatte der[547] Eindringling das Haus unter den gräßlichsten Drohungen und mit feierlicher Wiederholung des Schwures, daß er den nächsten Angriff unnachsichtlich mit einer Kugel bestrafen werde, verlassen, ohne jedoch dem Fischer ein Haar gekrümmt zu haben, und zufrieden mit der Angst, die er ihn hatte ausstehen lassen. Im Fortgehen aus dem Flecken hatte er sich sodann noch dem oberen Müller ins Andenken geschrieben, indem er ihn mit einem Schuß durch das Fenster begrüßte, der aber, da er von unten nach oben ging und in die Decke schlug, nicht in gefährlicher Absicht versendet sein konnte.
Von diesem Tage an wurde der ausgestoßene Sohn des Sonnenwirts von dem im Banne des tiefsten Aberglaubens befangenen Volk zum Helden einer Sage erhoben, welche sein wunderbares Entkommen aus Mauern und Banden dem Bunde mit der Hölle zuschrieb. Der Amtmann war in Verzweiflung, da dieser Hexenglaube vollends alle Tatkraft lähmte und den zur Rache entflammten Flüchtling, dessen hellem Geiste sich hier ein neues Schreckmittel darbot, zum unumschränkten Herrn des Fleckens zu machen drohte. Der Fischer und der Müller, dem sein Knecht blindlings folgte, erholten sich zuerst von den Schrecken jener Nacht, indem bei ihnen die Wut über den Aberglauben siegte. Besonders wurde der Fischer durch die Spöttereien des von ihm herausgeforderten Invaliden aufgestachelt, welcher keine Gelegenheit vorüberließ, auf die heimlichen Gastfreunde, die der Sonnenwirtle im Flecken habe, anzuspielen; und er beteuerte[548] sich zu wiederholten Malen, daß er einen Schuß an die ausgesetzten hundert Gulden rücken wolle, verschwor sich auch förmlich mit den beiden anderen Teilhabern seiner Rache, dem Verhaßten aufzupassen und ihn lieber tot als lebendig dem Amte zu überliefern. Die übrigen Bürger aber fühlten wenig Lust, es mit einem Zauberer aufzunehmen, der vor seinen Verfolgern sich in eine Halbmaßflasche verkriechen oder in Pudelgestalt davonrennen konnte. So geschah es einst, daß zehn mit Schaufeln bewaffnete Männer, die ihm nahe bei dem Flecken begegneten, ungeachtet des auf seinen Kopf gesetzten Preises ihn nicht anzugreifen wagten. Sogar im Schlaf erweckte er Furcht, da man glaubte, daß er mit geschlossenen Augen zu sehen vermöge. Zwei Postknechte fanden ihn neben der Landstraße an einem Raine sorglos eingeschlafen; einer hatte nicht das Herz, sich ihm zu nähern, und ritt davon; der andere aber wagte, ihn zu wecken und ihm bemerklich zu machen, daß er hier nicht sicher sei. Ob jedoch bei solchen Vorgängen nur die Furcht und nicht auch eine menschliche Teilnahme an dem Lose des Unglücklichen mitgewirkt habe, das ist eine Frage, über welche das menschliche Herz wohl kaum einen Zweifel haben wird.
Aber auch dem Geächteten konnten selbst seine erbittertsten Feinde mildere Herzensregungen nicht absprechen. Es war eben um jene Zeit, daß ein Eßlinger Metzgerbursche, der auf den Einkauf von Schlachtvieh in die Dörfer der Umgegend ausgesandt war, abends spät noch halb tot vor Schrecken nach[549] Ebersbach kam und ein im Walde erlebtes Abenteuer erzählte. Er hatte in einer Dorfschenke einen Unbekannten getroffen, dessen offenes Gesicht ihm gefiel und dem er beim Wein vertraute, daß es ihm nicht wohl zumute sei, mit seinem vielen Gelde abends allein durch die Wälder gehen zu müssen, wo der Sonnenwirtle hause. Sogleich erbot sich der Unbekannte, ihm das Geleite zu geben. Sie tranken noch ein Glas und machten sich auf den Weg. Als sie im dichtesten Walde ganz allein gingen und traulich miteinander redeten, blieb der Führer auf einem öden Platze am Saume eines finstern Dickichts plötzlich stehen und hob an: »So, jetzt will ich auch sagen, wer ich bin – ich bin der Sonnenwirtle.« Der Wanderer fuhr zusammen, wie vom Donner gerührt. Nachdem sich der Geächtete eine Weile an seiner Furcht geweidet hatte, sagte er: »Ich bin nicht so schlimm, wie die Leut sagen, ich hab Euch mein Wort gegeben, und das halt ich Euch als Mann von Ehre, ob ich auch noch so reich werden könnt durch Euer Geld; damit Ihr Euch aber nicht unnötig ängstiget, so will ich den ganzen Weg vollends vor Euch hergehen; folgt mir nur, Ihr kommt mit einer ganzen Streifmannschaft nicht sicherer durch den Wald.« Er ging voraus, und der Metzger folgte ihm heimlich zagend; aber nach einer Stunde sah er sich wohlbehalten an der Filsbrücke bei Ebersbach. Dort kehrten beide in einem einsamen Wirtshause noch einmal miteinander ein; der Metzger wollte seinem redlichen Führer ein Trinkgeld aufdrängen, dieser aber wies es mit Stolz zurück.[550]
Neben dieser verbürgten Tatsache erzählt die Volkssage aus der gleichen Zeit einen minder sanften Zug von ihm. Auf der Landstraße, die er ungescheut zu betreten wagte, begegnete ihm einst eine arme Frau – die Sage behauptet, es sei seine eigene Schwiegermutter gewesen – und klagte ihm ihre Not, daß sie nicht einmal imstande sei, für ihre Kinder ein Spruchbuch zu kaufen. Er gab ihr sogleich das nötige Geld, und sie entfernte sich unter tausend Danksagungen. Als sie aber später den Weg zurückkam, sah sie ihn, als ob er der Wächter der Gegend wäre, an der alten Stelle ihrer warten und erschrak nicht wenig, als er nach ihrem Korbe griff, in welchem er statt des Spruchbuchs Eier fand, die sie um das Geld gekauft hatte. Ergrimmt über den Mißbrauch seines Geschenkes, schalt er sie eine Fresserin und machte sie zur Zielscheibe für die Eier, indem er mit sicherem Wurfe eines um das andere an ihr zerschellte, so daß sie über und über triefend nach Hause kam.
Wie ein böser Geist schweifte er um seinen heimatlichen Flecken umher, und wenn er Leute traf, so verhörte er sie, was man in Ebersbach von ihm sage, wobei er niemals unterließ, die grausamsten Drohungen auszustoßen, so daß ihm die Sage bereits eine Menge Greueltaten andichtete, ehe er eine einzige begangen hatte. Sein von Groll und Rache umhergetriebenes Gemüt sann die wildesten Taten aus; aber das angeborene bessere Gefühl hielt seine Hand zurück.[551]
Auch der Vogt ermüdete in seiner Verfolgung und schrieb an den Amtmann, da mit Streifen auf dieses carcinoma doch nichts getan sei, so solle man nur noch in der Stille Posten ausstellen und die Eingänge der Häuser, denen etwa sein Besuch bevorstehe, hinlänglich besetzen.
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