6. Szene.

[80] Rudolf. Clara.


CLARA rasch aufstehend. Endlich ist er fort. Nun schnell, ehe uns wieder Jemand stört.

RUDOLF. Nicht so aufgeregt. Setze dich ruhig hierher und höre mir zu. Führt Clara zu einem Stuhl rechts.[80]

CLARA setzt sich.

RUDOLF. Es sind jetzt fünf Jahre her, daß dein Bruder plötzlich verschwunden ist.

CLARA aufspringend. Leopold?!

RUDOLF. Ruhe! Drückt sie sanft wieder auf den Stuhl. Niemand hatte etwas von ihm gehört, und er war so gut wie verschollen. Da, vor ungefähr einem Jahre, kriege ich einen Brief von einem früheren Bekannten, der vor längerer Zeit übers Meer geschwommen war, um sein Glück in der neuen Welt zu versuchen. Mein Bekannter hatte drüben die Bekanntschaft eines anderen Bekannten gemacht und glaubte, es würde mich interessieren, wenn er mir über ihn Mitteilung machte.

CLARA aufstehend, sehr erregt. Du hast Nachrichten von Leopold?

RUDOLF drückt sie wieder auf den Stuhl nieder. Ich war allerdings neugierig genug, diese Korrespondenz fortzusetzen, und so erfuhr ich denn nach und nach, daß der junge Taugenichts allerdings hart vom Schicksal zwischen die Scheeren genommen worden ist, aber doch, wie es scheint, eine sehr heilsame Kur durchgemacht hat. Er hat gelernt, zu arbeiten, sich nützlich zu machen. Nach allerlei abenteuerlichen Unternehmungen ist er schließlich auf den Handel gekommen. Na, dachte ich mir, ein Handelsmann, mag er es noch so ehrlich meinen, wenn er kein Geld hat, ist ein Lump. Da habe ich denn meine paar Kröten genommen – viel habe ich ja nicht – und habe sie rübergeschickt.

CLARA sitzen bleibend und bittend ihre Hände nach Rudolf ausstreckend. Rudolf, ich bitte dich, martere mich nicht. Was ist aus Leopold geworden?

RUDOLF. Ich hoffe, ein braver Kerl. Und wenn ich dir raten soll – du weißt, ich habe deine dreißig Tausend Mark nie angerührt –, dann gib ihm das Geld; ich glaube, es würde gute Zinsen tragen.

CLARA. Und wenn du zehnmal Ruhe sagst, ich kann mich nicht mehr halten. Springt auf. Du lieber, guter, einziger Mann! Fällt ihm um den Hals.

RUDOLF. Na, na, Cläre, erwürge mich nur nicht. Die Geschichte ist noch gar nicht zu Ende.

CLARA sich die Augen trocknend. Wie?

RUDOLF. Der Junge hat noch alte Liebschaften im Kopf.

CLARA. Liebschaften? Doch nicht etwa die Marie?[81]

RUDOLF. Warum nicht? Und das gefällt mir eigentlich an ihm. Zieht den Brief aus der Tasche und gibt ihn Clara. Da, lies mal den Brief.

CLARA. Mein Gott, ich bin ganz wirr vor Freuden. Was soll denn nun geschehen? Du hast gewiß etwas mit ihm vor? O, sage mir alles.

RUDOLF abwehrend. Ruhe – später. Zuerst geh' in dein Zimmer – lies in Ruhe deinen Brief – dann können wir uns ja aussprechen. Jetzt habe ich auch einen kleinen Gang.

CLARA streckt Rudolf die Hand entgegen. Rudolf, wenn ich manchmal auch ein bischen brummig bin, nicht immer so, wie du's gerne möchtest, sei mir nicht böse – ich habe dich doch so lieb, so lieb, ich kann's gar nicht sagen.

RUDOLF sie sanft von sich drängend. Geh' Alte, geh', ich weiß schon, wie ich mit dir d'ran bin.

CLARA geht nach der Tür rechts, als sie dieselbe öffnet, tritt ihr Emma entgegen, legt den Finger auf den Mund und deutet in das Zimmer. Clara stößt einen halb unterdrückten Schrei aus. Ha!

RUDOLF erschrocken. Was gibt's? Was ist dir?

CLARA. O, nichts, nichts, ich bin so aufgeregt, ich will schnell den Brief lesen. Eilig ab nach rechts. Man hört die Tür schließen.


Quelle:
Adolph L’Arronge: Gesamt-Ausgabe der dramatischen Werke. Berlin 1908, S. 80-82.
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