18.

[111] Graf Stanislaus besaß nur noch einen Vater. Das war ein hochbejahrter, liebenswürdiger Greis von den feinsten französischen Manieren, der in großer Achtung stand und allgemein gepriesen wurde wegen seiner anspruchslosen bürgerlichen Tugenden, seiner in Polen nicht eben gewöhnlichen[111] Sanftmut und Freundlichkeit gegen alle Stände, und endlich auch wegen seiner ebenso ungewöhnlichen Bildung in Literatur, Kunst und Staatsinteressen. Der Besuch der Fürstin Konstantie, mit welcher er verwandt war, erfreute ihn auch wegen der geselligen Formen: sie repräsentierte die Dame des Hauses, und der alte reiche Graf ging in großer Glückseligkeit trippelnd umher, daß sein Salon jetzt wieder glänzend geworden sei wie Anno 94. Als Valerius eintrat, fand er schon eine zahlreiche Gesellschaft; Konstantie war umringt von Herren und Damen und gewahrte ihn nicht. Der alte Graf, eine schlanke, vertrocknete Figur mit schneeweißem, lockigem Haar, stand neben einer hohen Militärperson und war im eifrigen Gespräche. Stanislaus eilte herbei, um ihm seinen neuen Freund vorzustellen; sie warteten indes beide ein wenig, um das dem Anschein nach wichtige Gespräch nicht zu stören, und während der Sohn dem Freunde mit sanfter herzlicher Stimme alle die Liebenswürdigkeiten des Vaters leise schilderte, hatte dieser Zeit, den Alten zu betrachten.

Er war ganz schwarz gekleidet bis auf das Halstuch, welches, wie die Leibwäsche, von blendender Weiße war, und einen heitern Schein auf das schmale, gefurchte, aber noch immer von einer leichten Röte überflogene Gesicht warf. In den großen, tiefliegenden Augen ruhte eine freundliche Sanftmut, und nur hie und da sah man aus einem schnellen Blicke, daß sie nicht auf Schwäche, sondern auf eine große, geistige Überlegenheit gegründet sei. Im Knopfloche trug er das Band der Ehrenlegion.

Stanislaus hatte seinen Freund schon angekündigt, und der alte Graf nahm ihn mit der zuvorkommendsten Liebenswürdigkeit auf.

Es war eine lange Reihe von Zimmern geöffnet und erleuchtet. Der Militär hatte sich zu einem andern Teile der Gesellschaft gewendet, die drei Männer traten in das[112] zweite Zimmer, und während der alte Graf seinen Gast mit einigen Gemälden bekannt machte, entfernten sie sich weiter von der Gesellschaft.

»Sie müssen sich nicht abschrecken lassen,« sagte der alte Herr mit seinem liebenswürdigen Lächeln, »wenn Ihnen nicht alles bei uns die romantische Probe gehalten hat, wenn Sie sogar durch manches arg verletzt werden; wir sind zu oft im Wachstum gestört. Von Hause aus waren wir verzogene Kinder, unsere Freiheit erstickte im eigenen überflüssigen Blute, weil wir alles im Herzen haben wollten, und es nicht recht zu verteilen wußten. Verzogene Kinder bleiben auch im Unglück eigensinnig und werden übermütig bei jedem Schimmer von Glück. Aber Sie sind ja aus dem Lande, das alles Fremde so gern gewähren läßt, überwinden Sie nationale Antipathien, welche bei so verschiedenen Völkern nie ausbleiben und stürmender und trennender sind als große Gegensätze, weil sie uns bei jedem Schritte hindernd zwischen die Beine geraten. Ertragen Sie uns eine Zeitlang, und Sie werden am Ende doch manches zu lieben finden. Jedes Volk hat seine Liebenswürdigkeiten. Und Sie sind ja auch auf der Höhe von Humanität, welche das Edle tut ohne Ansehen der Person – versprechen Sie mir, mich zu besuchen, wenn Sie mürrisch werden, ich bin ein alter Apotheker und habe Rezepte aus manchem Jahrzehnt, versprechen sie mir's.«

Valerius schlug freudig in die dargebotene Hand. »Nehmen Sie sich in acht,« fuhr der Greis fort, »vor den Verbindungen mit unsern jungen Demokraten – verkennen Sie mich in diesen Worten nicht: ich liebe diese brausende Jugend mit ihrem menschenrechtlichen Fanatismus, o, ich liebe sie so sehr gerade wegen dieser Poesie der Tugend, sie sind das ursprüngliche Fundament der Gesellschaft, diese Jünglinge mit dem heißen Herzen. Aber sie kennen die Welt nicht mit den tausend Beschränkungen, ohne welche sich[113] kein Staat konstituieren läßt, solange wir uns nicht isolieren können von Gewohnheit, Herkommen, geschichtlicher Erinnerung, und besonders solange wir Nachbarn haben, denen wir uns akkommodieren müssen. Ein Staat in Europa kann nicht nach Begriffen, nach bloßen Begriffen errichtet werden, welche der abgesondert spekulierende Geist ersinnt, so wenig als das Individuum nach eigenen geselligen Regeln sich bewegen darf, solange es in der übrigen Gesellschaft seinen Raum einnehmen will. Eben weil es nichts Einzelnes gibt, weil nichts ohne Verhältnisse existiert, können Wechsel und Änderungen nur mit der größten Umsicht vorgenommen werden. Und Umsicht ist nicht Sache des poetischen Herzens, sondern der Erfahrung; darum dürfen wir unsern Jünglingen den Staat nicht überlassen.

Machen Sie mir nicht so klägliche Gesichter. Freilich ist es für das feurige Blut niederschlagend, daß die Weltgeschichte in so kleinen Schritten geht, daß sie nicht eher weiterrückt, als bis ein großer Staatenraum auf gleicher Höhe angekommen ist; aber auf diesem lückenhaften Planeten, wo uns lauter unerklärte Anfänge umgeben, müssen wir uns drein fügen.

Verzeihen Sie meine Breite, ich komme zum Thema zurück. Ich hoffe, daß mein Sohn einen ganzen Freund in Ihnen gewinnt, Ihre Nation ist die Nation der Freundschaft, weil sie am wenigsten ausschließlich in Sitte, Formen und Gedanken ist, weil sie am meisten annimmt und verzeiht, ja, erlauben Sie mir den Ausdruck, weil sie am wenigsten Nation ist. Dieses Kapitel der Demokratie betrifft aber meinen Sohn und seine Neigungen ebenso dringend als Sie, Herr von Valerius. Es drängt mich, offen, ganz offen zu sprechen, und ich verspreche mir sogar in Ihnen eine Hilfe, einen Sekundanten gegen Stanislaus zu erwerben. Ich habe meines Sohnes Bildung selbst zu lebhafter Teilnahme an demokratischen Formen geleitet, ich bin ihm vor allen Rechenschaft[114] schuldig, wenn ich ihn jetzt vom patriotischen Klub und dem, was dazu gehört, abziehen will.

Meine Herren, es ist das Wahrscheinlichste, daß diese Interessen in kurzem die eigentliche Lebensfrage Polens werden, ich halte sogar den mächtigen Feind für unwichtiger. Wenn wir vereinigt blieben, besiegt er uns nicht, aber die Trennung wird nur zu bald klaffen wie eine breite Wunde. Die Jugend ist unternehmend, sie ist der Kern des Heeres, sie wirbt den gemeinen Mann, oder hat ihn schon geworben, sie will keine Vermittlung, sie haßt das Halbe, das Vorbereitende; denn ihre Kraft ist eben die gewaltige Einseitigkeit, bald wird man uns mit dem Geschrei aus dem Schlafe wecken: Demokratie oder Tod!

Du schüttelst den Kopf, Stanislaus, du hoffst wohl gar auf Krukowiecki – Unglücklicher, dieser Mann ist die schrecklichste Garantie, er ist voll unlauteren Ehrgeizes, der das Land in die Luft sprengt für seinen Ruhm – gut, es mag sein, ich will übertrieben haben. Ein Kampf dieser Parteien bleibt gewiß nicht aus, und er verdirbt uns, er lähmt und verwirrt die Kräfte. Ein voreiliger Sieg der Demokratie tötet uns. Was ist Polen ohne seine Aristokratie? Ein rauschender Baum, der über Nacht mit all seinem Blätterreichtum verdorrt ist. Die Aristokratie ist noch in diesem Augenblicke das Mark des Landes, das Land gehört ihr noch, sie erzeugt die Mittel des Krieges, im ihrem Stolze wurzelt noch die Kraft dieser fortreißenden Vaterlandsliebe. Dabei gedenk' ich unserer Nachbarn gar nicht; die fremden Heere würden bald erscheinen, wenn ein Konvent in Warschau geböte.

Indes wollen wir das Kind nicht mit dem Bade ausschütten, wie sie in Deutschland sagen; ich sehe mit Entzücken diesen Sporn zur Energie, der unseren Edelleuten keine Zeit läßt für ihren persönlichen Ehrgeiz; aber der Strom soll nicht aus dem Bett treten – und nun zum Schluß: man wird genötigt sein, in kurzem strenge Maßregeln gegen den[115] Klub zu unternehmen, halten Sie sich fern davon, meine Herren, sprechen Sie, wo Sie können, zur Mäßigung.«

Der alte Herr wurde zur Gesellschaft gerufen, und Stanislaus sagte beruhigend zu seinem Freunde: »Lassen Sie sich nicht einschüchtern, das Alter und tausend Hoffnungen, die fehlgeschlagen sind, haben ihn mißtrauisch gemacht. General Krukowiecki ist der wackerste Pole. Niemand kann es wagen, strenge Maßregeln gegen die demokratische Jugend zu nehmen; wir haben die Revolution begonnen, wir halten sie aufrecht, Volk und Armee sind für uns.«

Valerius war nicht recht bei der Sache, der alte Graf und manches andere beschäftigte ihn. Der junge entzündete Pole bemerkte es indessen nicht, er disputierte noch eifrig weiter, und sie schritten in der langen Zimmerreihe auf und ab. Es fiel Valerius auf, in den vom Gesellschaftssalon entferntesten Zimmern größere Pracht, behaglichere Einrichtung zu finden. Im letztens Gemache, das ohne eigenes Licht und nur von dem daranstoßenden beleuchtet war, stand ein prächtiges Bett, geheimnisvoll versteckt von rotseidenen Vorhängen. Es stieg eine flüsternde, behagliche Ahnung auf in ihm, er lüftete die Gardine im Vorübergehen ein wenig und erblickte an der Wand ein kleines Gemälde. Die Dämmerung ließ es nicht genau sehen, aber Valerius glaubte es zu erkennen. Auf Grünschloß hatte er einst ein kleines Bild gemalt; es stellte eine Gebirgslandschaft dar, an dem Bach im Vordergrunde sitzt ein Bauernmädchen und sieht mit sehnsüchtigem Blicke in die Bergschluchten hinein, wo sie sich öffnen und das Bild sich in eine dämmernde Ferne verliert. Er wußte nicht mehr, wo das Bild hingekommen war, in diesem Augenblicke glaubte er, es gesehen zu haben. Aber er konnte nicht rasten, da sein Begleiter umkehrte und nach dem vorletzten Zimmer zurückschritt. Eine schmeichelnde Unruhe bemächtigte sich seiner, es hielt ihn fest in diesen Zimmern, und er zog Stanislaus auf ein Sofa. Auf einem[116] Tische vor demselben lag eine große Mappe, und während der junge Pole allmählich in seine sinnende Schweigsamkeit versank, blätterte Valerius unter den Gemälden und Kupferstichen, welche er in der Mappe fand. Eine versteckte Seitentasche fiel ihm auf, und er zog ein kleines Blatt Papier heraus, das mit Versen beschrieben war. – Er hatte sie selbst geschrieben, diese Goetheschen Verse:


Geh den Weibern zart entgegen,

Du gewinnst sie auf mein Wort;

Und wer rasch ist und verwegen,

Kommt vielleicht noch besser fort;

Doch wem wenig dran gelegen

Scheinet, ob er reizt und rührt,

Der beleidigt, der verführt.


Die beiden letzten Verse waren unterstrichen. Aber diese Striche rührten nicht von ihm her. Es ward jetzt ganz klar in seiner Erinnerung: er hatte diese Worte eines Nachmittags im Grünschloß gesprochen, als die Rede auf Liebe und Liebesbewerbungen gekommen war, und die Fürstin hatte ihn gebeten, sie aufzuschreiben.

Nachdenkend hielt er das Blatt in der Hand; damals hegte er sogar einen Widerwillen gegen das kecke Wesen der Fürstin, sein Herz war damals erfüllt mit Kamillas Reiz, alles übrige berührte ihn nicht.

Da rauschte ein Gewand, Konstantie trat ins Zimmer. Es hatte sich im Salon ein Streit erhoben über ein französisches Buch; ihn zu enden, war sie nach ihren Gemächern geeilt, um das Buch zu holen.

Valerius sah sie mit großen Augen an, ein träumerisches Nachsinnen lag in ihnen, das Blatt hielt er noch in der Hand. Eine flüchtige Röte stieg in Konstantiens Gesicht, sie griff nach dem Blatte und berührte dabei seine Hand. Ein süßes Gefühl weckte ihn aus dem Nachdenken.[117]

»Pfui doch, wie unartig, meine Mappe durchzustöbern! Wie kommen Sie denn überhaupt in meine Zimmer? Und wer hat denn jene Türen geöffnet?«

Sie warf hastig die Flügeltüre ihres Schlafzimmers herum. Unterdes kam auch Hedwig herbeigesprungen, schalt Stanislaus, daß er sich von ihr und der Gesellschaft entferne, und zog ihn fort. Die beiden Deutschen waren allein. Koustantie ging nach einem Winkel des Zimmers. »Unartiger Mensch, helfen sie mir ein Buch finden.«

Er sprang hinzu – sie nannte aber keinen Titel und sah zerstreut unter die Bücher. Der leichte Schatten von Verlegenheit, welcher sich über ihr Wesen verbreitete, gab diesem glänzenden Wesen einen um so höheren Reiz, je seltener er an ihr wahrzunehmen war, je mehr er gegen das Herrschende und Imponierende ihrer Erscheinung zu kontrastieren schien. Ihre rechte Hand tastete wie suchend auf den Büchern umher, die linke strich leise an den Falten des Gewandes entlang. Diese weiße Hand schien alle ihre außergewöhnliche Unsicherheit auszudrücken. Valerius ergriff sie leise, die weichen, warmen Finger setzten noch einen Augenblick die Bewegung fort und schienen ebenfalls unschlüssig zu sein, ob sie sich dem Fremden ergeben sollten. Aber sie wurden still, und kaum merklich wuchs ihre leichte Schwere von Sekunde zu Sekunde. Nur als sie der Mann zu seinen Lippen aufhob, glaubte er ein leises Beben in ihnen zu verspüren.

Valerius führte die Hand von den Lippen auf seine Wange, die warme Hand an die heiße Wange – er schwieg, sie schwieg, ihr Kopf wendete sich nicht zu ihm, aber er sah ihr Herz stürmisch klopfen.

Aus den vorderen Zimmern her kam Geräusch; da wendete sie sich plötzlich zu ihm; ein unbeschreiblicher Ausdruck von Wehmut, Glück und Innigkeit lag darauf, feucht glänzten ihre Augen, jene vermittelnde Hand legte sich eng und fest in Hand und Wange des Mannes, er fühlte ihr[118] heißes Antlitz an dem seinen, ihren Mund auf seinem Auge, und fort war sie, dahin flog sie durch die Zimmer.

»Hat sie nicht ›Liebster‹ gesagt, leise, ganz leise, als sollte ich es selbst nicht hören?« sprach er ebenso leise.

Er konnte sich lange von der Stelle, von dem Zimmer nicht trennen, und »Liebster«, »Liebster« flüsterte er vor sich hin.

Als er in den Salon kam, lachte und scherzte man noch darüber, daß die Fürstin ein falsches Buch gebracht und dann eiligst ein Recht aufgegeben habe, was sie kurz vorher so hartnäckig verteidigt.

Sie saß in einer holden Verwirrung da, und die Nachbarn des Deutschen flüsterten einander zu: »Sie wird alle Stunden schöner.«

Valerius war so munter und ausgelassen, wie man ihn noch nicht gesehen hatte; er scherzte und tändelte ohne Aufhören mit Hedwig, die mehr als einmal zur Fürstin sagte: »So liebenswürdig ist Ihr Landsmann noch niemals, niemals gewesen.« Konstantie lächelte wie das verborgene Glück und sah einen Augenblick auf Valerius. Es hing dann vor ihren Augen ein dünner Flor, durch welchen eine unendliche Seligkeit drängen zu wollen schien. – Als der Salon leer geworden, fiel es ihr ein, daß sie ihm Briefe aus Deutschland mitgebracht habe; sie ging fort, und als sie wieder kam, trat ihr Valerius einige Schritte entgegen. Sie gab ihm die Briefe und sagte mit jener leisen, die Seele bewegenden Stimme: »Ich liebe dich unsäglich.«

Quelle:
Heinrich Laube: Das junge Europa, in: Heinrich Laubes gesammelte Werke in fünfzig Bänden, 3 Bände, Band 2, Leipzig 1908, S. 111-119.
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