19.

[119] Der Wind trieb die Wolken wie ein scheltender Herr sein Gesinde am Himmel umher. Sie flogen scheu unter dem Monde und den Sternen hinweg. Valerius glaubte aber auch ohne dies, Sterne und Himmel bewegten sich im Tanze, als[119] er aus dem Palaste trat. Die Bewegung des Herzens macht alles beweglich, und es gibt keinen schöneren Sturm im Menschen, als wenn eine Liebschaft ihre Knospe schwellt, und wenn diese das Geheimnis ihrer Blume zu heben beginnt. Das sind die Momente der Himmelsahnung, welche uns die Gottheit gelassen hat für dürre unerquickliche Steppen von freudlosen Jahren, es sind die Zisternen unserer Lebenswüste, die immer einige Tropfen frisches Wasser bewahren, mag es noch so heiß um uns drängen. Solche Momente sind's gewesen, welche den Menschen zum ersten Male den stolzen Glauben erzeugt haben, sie seien gottähnliche Wesen.

Valerius flüchtete wieder zu seinem geliebten Strome hinaus, heute mit seiner Lust. Heim konnte er nicht, das Zimmer war zu enge für sein Herz, denn es ist eine mehr als figürliche Redensart, daß das Herz sich ausdehnt von großen Gefühlen – man braucht wirklich mehr Raum, und in einer kleinen Stube kann man nicht soviel Glück ausströmen als in freier Luft.

»Kühles, unparteiisches Wasser, heut' beneide ich dich nicht!« rief er aus. Aber er gestand sich's eigentlich selbst nicht genau, was ihn beglücke, er hüllte es in das große himmelblaue Wort »Liebe«. Und der Liebe, jeder Liebe, meinte er, dürfe man sich immer freuen, sie sei der Herzensodem des Lebens. Der kleine vorlaute Gesell in seinem Busen, mit dem kritischen, verdrießlichen Angesichte kam heute nicht zur Audienz mit seinem Geflüster. Umsonst sprach er von der schönen Konstantie auf Grünschloß, wo dem Herrn Valerius die bloße freundliche Zuneigung derselben Dame störend, lästig gewesen sei. Er ward überhört. Liebe überwältigt wie die Sonne, ohne zu fragen und zu beachten, ob man sie gewollt.

Es war schon spät am andern Vormittage, als Thaddäus seinem Herrn einige Briefe aufs Bett legte. »Sie steckten in der Brusttasche des Rockes, Herr, und waren schon so zerknittert.«[120]

Valerius erkannte in der Aufschrift des einen Kamillas Hand, und sein Rausch verflog wie die Glätte des Wasserspiegels von einem Luftstoße. Langsam entsiegelte er den Brief und las und setzte ab, und las wieder, und die heißen Tränen liefen ihm über das Gesicht.

»Warum schreibst Du uns nicht, Lieber? Bist Du krank? Hast Du ein schlecht Gewissen? Nicht doch, es ist eine törichte Frage, diese zweite. Wir sind ja einig darüber geworden, daß die Treue etwas Bessres ist, als was man so nennt. Ihr Männer fahrt durch die Welt dahin wie der Sturmwind, und der muß mehr Dingen begegnen als wir mit unserer stillen häuslichen Atmosphäre. Aber der Offenheit, der Mitteilung mußt Du mich würdigen, wie Du's versprachst; meine Liebe ist Dir sicher wie der morgende Tag, nur der Tod endigt für mich beide auf dieser Erde.

Ich lebe still und gedankenreich mit Dir hin. Des Morgens bin ich früh auf und lese Deine englischen Bücher; sie sind mir sehr lieb mit ihrem schweren trüben Sinne, denn es kommt mir manchmal unrecht vor, daß ich noch soviel lachen kann, seit Du fort bist. Ich kann mir aber nicht helfen, daß die Welt soviel komische Dummheiten hat. Zuweilen bin ich mitten im Weinen, daß ich Dich verloren habe, da passiert irgend etwas Lächerliches, und ich lache samt meinen Tränen. Du mußt mich schon gewähren lassen, ich trage auch jetzt die Haare so, wie Du es gern mochtest. Du würdest Dich gewiß freuen, wenn Du einmal plötzlich einträtest; viel, viel artiger bin ich als sonst.

Der Graf hat einmal Deinetwegen an den Obersten Kicki geschrieben und entweder gar keine Nachricht erhalten oder eine traurige. Ich glaube, er und Alberta halten Dich für tot; es ist wunderlich, daß mich das gar nicht beunruhigt. Damals, nach Deinem Duell, hab' ich so sehr für Dich gezittert, jetzt fürcht' ich dergleichen nicht im mindesten. Ich könnte einen Eid darauf ablegen, daß Du noch lange, lange[121] leben wirst – es ist noch zuviel Zukunft in Dir. Sieh, wie besonders ich mich ausdrücke; es ist noch aus der alten Schule. Und dann – gewiß kündigte sich mir's irgendwie an, wenn Dir so etwas Schlimmes begegnete. Daran glaube ich nun einmal fest, ganz fest. Ich bin fast den ganzen Tag bei Dir, es müßte ein Ruck eintreten – nein, nein, laß mir den Aberglauben meiner Mutter, daß die herzlichsten Gedanken der Menschen durch die ganze Welt zusammenhängen, daß ein aparter Engel dazu angestellt ist vom lieben Gott, der das Gewebe ordnet und hält und wie der Himmelspostmeister die gegenseitigen Nachrichten besorgt. Ach, was mach' ich dem armen Engel zu tun!

Aber, aber, der Fürstin Konstantie, die meinen Brief besorgen will, trau' ich nicht über den Weg, was Dich schlimmen Gesellen anbetrifft. Du bist zwar fein ernsthaft und ehrbar, aber stille Wasser sind tief, und ich fürchte am meisten, daß Dein Herz Beschäftigung braucht. Wir Frauenzimmer sehen in solchen Dingen schärfer – ich denke mit Schrecken an die schönen Augen Konstantiens, wenn sie auf Dich fielen. Es war nicht jene Leidenschaft in ihnen, die wir an ihr scheuten, sie waren sanft und milde, aber es lagen Wünsche – bin ich nicht recht einfältig, Dich selbst aufmerksam zu machen. Ach, liebe, küsse, sei glücklich, mein Herz, mein Blut, o, mein Valerius, den ich liehe, liebe so ganz und gar. Aber ich bin ja Dein ›starkes Mädchen‹ nicht mehr, Du wirst mir alles erzählen, und mich immer mitlieben. Ja?«

Nach diesem Briefe war es um die Entzückungen vom vorigen Abende geschehen. Er glaubte, erröten zu müssen vor sich selbst, solch einer Liebe nicht allein, ungeteilt anzugehören. Mochten auch all seine Gedanken und Philosopheme über Liebessachen lächelnd ihre Stimme erheben, mochten sie ihn schelten, daß er einer alten eingelebten Gewohnheit seine Überzeugung opfere, daß es töricht sei, zu darben, um romantischen Grillen zu genügen – er ließ sich nicht besiegen und ging nicht mehr zur Fürstin.[122]

»Das Herz allein ist der Richter in solchen Dingen,« sprach er, »und mein Herz duldet es nicht.«

Aber es waren schmerzhafte Tage, welche trüb und langsam vorüberschlichen. Stanislaus besuchte öfters seinen Freund und machte ihm die lebhaftesten Vorwürfe, weil er das Haus seines Vaters nicht mehr besuche, der so herzliches Interesse an ihm nehme. »Hedwig fragte zehnmal des Tages nach Ihnen, und Konstantie hat sich zweimal ängstlich erkundigt, ob Sie krank seien. Es ist ein rechter Jammer mit euch empfindsamen Deutschen, und mein guter Vater leidet arg darunter: Konstantie kommt nun auch seit mehreren Tagen nicht mehr aus ihrem Zimmer, und der Salon ist ohne Mittelpunkt. Sie schützt Unwohlsein vor und Trauer um den Tod ihres Gemahls.« –

»Ist der Fürst gestorben?«

»Allerdings, aber das wußte sie schon an jenem Abende, als Sie das letztemal bei uns waren, und da hat man ihr kein Herzeleid angesehen. Der schwachköpfige Mann ist ihr immer sehr gleichgültig gewesen, und sie ist viel zu stolz, eine erheuchelte Trauer zu zeigen. Meine kleine harmlose Hedwig ist auch übel davon betroffen. Bei dem rauhen, wenig geliebten Vater und der schweigenden Großmutter den ganzen Tag zu sitzen wird ihr jetzt schwer, da sie die letzten Tage reger Geselligkeit verwöhnt haben. Neben Konstantie konnte sie den größten Teil des Tages bei uns sein, und jetzt hat die launische Frau plötzlich keine Zeit für sie. Kommen Sie, Freund, trösten Sie uns.«

Valerius entschuldigte sich auf das herzlichste. Er habe traurige Briefe bekommen, er tauge jetzt nichts für Gesellschaft. Aber der Freund kam alle Tage wieder, die Einsamkeit wurde auch dem deutschen Träumer lästig und langweilig, und da die Fürstin noch immer nicht aus ihrem Zimmer ging, er also ihre Begegnung nicht zu fürchten hatte, so gab er eines Abends dem Drängen des Freundes nach.[123]

Die schönen Säle und Zimmer kamen ihm öde vor, da die beiden Frauen fehlten, und wenn er im Gespräch bis an die Türen Konstantiens kam, so hielt er seinen Begleiter oft unwillkürlich einen Augenblick fest und lauschte mitten im eifrigen gedankenlosen Sprechen, ob er kein Lebenszeichen aus den Gemächern vernehme. Das Bild der schönen Frau, die in Trauer versunken Tag für Tag einsam in jenen hohen schweigsamen Zimmern saß, trat oft verstohlen vor seine Seele. Er glaubte sie in schwarzseidenem Gewande mit aufgelöstem Haare auf dem Fußteppich sitzen zu sehen, das blendende Weiß der Arme und des Busens sah verwundert auf die traurige Farbe des Kleides, und das Gesicht hatte den erschütternden Ausdruck einer verlassnen Königin, die über Nacht von allen denen verraten worden ist, welche noch am Abende ihren Winken gehorchten.

Er ging spät nach Hause, denn der Ort, wo er ihr näher war, dünkte ihm doch noch besser als sein fernes einsames Zimmer; eine finstere, schweigende Nacht hing wie ein schwarzer Mantel in den Straßen. Die Fensterreihe der Fürstin, nach welcher er ausblickte, war ohne Licht, nur in den letzten Zimmern dämmerte eine schwache Helle. Lange blieb er stehen, vielleicht hoffte er, die Gardinen würden sich bewegen, und jene hohe Gestalt würde sich zeigen, aber er wußte es selbst nicht, was er hoffte und ob er hoffte.

Es kamen mehr solche Abende, und sein Wesen wurde immer unruhiger und ungeduldiger. Nur zu deutlich erkannte er, daß es nicht an Umgebung und Gesellschaft liege, wenn er die Zeit nicht hinzubringen wisse, denn lesen und denken und denken und lesen kann man nur bei ruhigem Gemüte. Er gestand sich's langsam, es fehle ihm Liebe, und zwar Konstantie.

»Wohl denn,« rief er aus, als er eines Abends wieder mißvergnügt und unruhvoll aus dem Palais des Grafen schritt, »wohl denn: das Herz hat mich gehindert, das Herz treibt mich jetzt, ich werd' ihm ewig folgen.« – Gleich als[124] ob er einen großen Sieg errungen habe, als ob er von einer schweren Krankheit durch einen plötzlichen Himmelsstrahl genesen sei, schritt er über die Straße, um von der andern Seite nach jenen letzten Fenstern zu schauen, wie er alle Abende getan. Heut aber sah er mit leuchtenden Augen hinauf, und das Bild der trauernden Königin hatte sich verwandelt, und er glaubte das schöne Weib schon in den Armen zu halten. Alles drängte ihn, ihr zu sagen, was in seinem Herzen vorginge, sogleich, im Augenblicke, keine lange Nacht des Zweifels und Harrens sollte sich dazwischen legen. Und während er noch sann und dachte, wie das zu bewerkstelligen sei, da erhob sich seine Stimme, und er sang ein altes Lied. Sie mußte es kennen: in jener warmen Liebeszeit auf Grünschloß, wo alles mit Küssen in den Augen und auf den Lippen durcheinander lief, da hatte man es oft in stillen Abendstunden aus den Gebüschen des Gartens dringen hören.

Es regte sich nichts in der Straße, und sie mußte in ihrer Abgeschiedenheit seine Stimme klar und deutlich vernehmen.


Herz, mein Herz, was soll das geben?

Was bedränget dich so sehr?

Welch ein fremdes, neues Leben!

Ich erkenne dich nicht mehr.

Weg ist alles, was du liebtest,

Weg, warum du dich betrübtest,

Weg dein Fleiß und deine Ruh' –

Ach, wie kamst du nur dazu!


Fesselt dich die Jugendblüte,

Diese liebliche Gestalt,

Dieser Blick voll Treu' und Güte,

Mit unendlicher Gewalt?

Will ich rasch ihr mich entziehen,

Mich ermannen, ihr entfliehen,

Führet mich im Augenblick,

Ach! mein Weg zu ihr zurück.


Und an diesem Zauberfädchen,

Das sich nicht zerreißen läßt,[125]

Hält das liebe, lose Mädchen

Mich so wider Willen fest;

Muh in ihrem Zauberkreise

Leben nun auf ihre Weise –

Die Verändrung, ach, wie groß!

Liebe, Liebe, laß mich los.


Das Licht in Konstantiens letzten Zimmern verlosch bis auf einen matten, kaum sichtbaren Schein. Der Sänger glaubte die Gardine sich bewegen zu sehen, aber die Dunkelheit war zu groß, um etwas genau unterscheiden zu können. Darüber konnte er sich aber nicht füglich täuschen, daß in den noch erleuchteten Sälen ein Fenster geöffnet und der Vorhang in die Höhe gezogen wurde. Ein Lichtschimmer fiel auf die Straße, oben am Fenster sah Valerius den alten Grafen mit seinen weißen Locken erscheinen, und es war ihm, als mache der alte Mann eine abwehrende Bewegung mit der Hand. Der Sänger war aber im Übermute seiner erwachenden Leidenschaft und seines Liedes – es ist auch schwerer, als viele glauben, vom Singen zum plötzlichen Verstummen überzugehen – und er wiederholte, die Straße hinabschreitend, die Schlußverse:


Die Verändrung, ach, wie groß!

Liebe, Liebe, laß mich los.


Quelle:
Heinrich Laube: Das junge Europa, in: Heinrich Laubes gesammelte Werke in fünfzig Bänden, 3 Bände, Band 2, Leipzig 1908, S. 119-126.
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