Die fünfte Szene

[148] In der Nähe des Kupferhammers. Landstraße. Bäume. Sonntag abend. Aufgehender Mond.


GENDARM, Dienstgewehr, kommt. Pfeift. Steht wartend. Wendet sich die Landstraße, nach links, zurück und verbirgt sich, wie er einen Wagen kommen hört. Der Wagen kommt näher. Doch, noch ehe er auf die Szene kommt, Halt.

JAKOBS STIMME zum Gaul. Brrr ... Was ist denn das? Der sakramentse Kerl. Hat in seiner Besoffenheit ... Wieder zum Gaul, der nicht stehen bleiben will. Brrrr ... Lehmann, steig ab. Nein, Lehmann, nimm die Zügel. Man hört jemand von einem Wagen abspringen. Gleich darauf Gerassel von Ketten.

JAKOBS STIMME. Wie der den Gaul eingespannt hat.

ANNAS STIMME. O, und die Kisten. Jakob, die Kisten.

JAKOBS STIMME zornig verweisend. Was, Kisten? Da ist alles in Ordnung. Die hab ich Gott sei Dank selber ...


Einen Augenblick Stille.


LEHMANNS STIMME. Das da drüben ist der Kupferhammer?

ANNAS STIMME gleichsam aufschreckend. Ja. Alle guten Geister ...

HEINRICHS STIMME. Ich furcht mich, Vater.


Wieder einen Augenblick Stille.

Dann steigt jemand wieder auf den Wagen.

Es ächzt.


JAKOBS STIMME zum Gaul. Brrr ... Zungenlaut; dann. Vorwärts ...


Der Wagen fährt vorüber.


LEHMANNS STIMME. Der alte Zirngibl ...


Alle ab.

[149] – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Gendarm taucht wieder auf. Sieht den Davonfahrenden nach. Innocentia kommt langsam über die Wiese her. Sie ist ohne Kopftuch und Körbchen, sonst aber wie im ersten Aufzug. Gendarm läßt sie, ohne ein Wort zu reden, näherkommen. Innocentia bleibt einige Schritte vor ihm stehen.


GENDARM kalt, fast drohend. Ja nur gut, daß Du kommst.

INNOCENTIA. Zum letzten ... zum allerletzten Mal. Ja. Der alte Zirngibl ... zwischen uns muß aus sein ... der alte Zirngibl steht zwischen uns ... ich tat mich Sund fürchten.

GENDARM höhnisch. Warum bist denn gekommen?

INNOCENTIA antwortet nicht.


Schweigen.


GENDARM. Übrigens ... möchtest Du dem alten Zirngibl nicht eine anständige Votivtafel aufrichten ... an demselben Platz, wo er gestorben ist?

INNOCENTIA. Könnt schon sein.

GENDARM. Nämlich ... das müßt sich recht schön feierlich machen ... eine anständige Votivtafel für den alten Zirngibl ... an demselben Fleck, genau! wo er gestorben ist.

INNOCENTIA. Könnt sich wirklich schön feierlich machen.

GENDARM. Wirklich??

INNOCENTIA. Ja, warum denn nicht?

GENDARM. Na! Ich möcht grad nicht gern auf demselbigen Kanapee liegen oder in demselbigen Bett, wo mitten drauf, wo mitten drin, eine anständige Votivtafel aufgerichtet ist für den alten Zirngibl ... also genau! an demselbigen Fleck, wo der alte Zirngibl seinen letzten Schnaufer getan hat!

INNOCENTIA. Was soll denn jetzt das wieder sein? Kanapee? Bett? Letzter Schnaufer?

GENDARM. Das soll das sein, daß den alten Zirngibl nicht vorm Kupferhammer der Schlag getroffen hat –

INNOCENTIA. Sondern im Kupferhammer?[150]

GENDARM. Na! vielleicht nicht im Kupferhammer ... auf'm Kanapee ... Ja? Auf einmal hast Du laut aufgeschrien vor Angst ... weil sich der alte Zirngibl nimmer rührt und nimmer reibt ... und hast laut nach der Wabn gschrien ... »Wabn! Wabn! Wabn!« Und dann habts ihn mitanand aufgricht und nachher habts ihn aussitragn vors Haus ... und habts i'n neiglegt ins Gras ... ins »Sonntagsgras« ... was??

INNOCENTIA antwortet nicht.


Langes Schweigen.


GENDARM befehlend. Übrigens ... laß gefälligst diese Zettelschreiberei.

INNOCENTIA. Es war der erste. Und ist auch der letzte gwesen.

GENDARM noch höhnischer. Warum bist dann doch gkommen?

INNOCENTIA antwortet nicht.


Schweigen.


INNOCENTIA nun ihrerseits. Warum bist du gkommen? Was willst denn noch von mir?

GENDARM schweigt.

INNOCENTIA. Anfangen möchst wieder, gelt? Gelt?

GENDARM. Hab ... hab ich denn schon aufghört?

INNOCENTIA. Ich hab aufghört.

GENDARM. Geht das so ohne mich?

INNOCENTIA. Ja. Das geht ohne dich ... Langsam, schwerfällig. Und jetzt sag ich dir auch, warum ich dennoch herkommen bin ... Sie zögert. Dann etwas schneller. Warum hast dus denn immer noch nicht anzeigt? Du möchst ein feines Leben hier haben ... he? Bei mir ... so oft dus verlangst; und ... dem Kommandanten gegenüber immer mit der Anzeig?

GENDARM. So einer bin ich nicht.

INNOCENTIA. So einer bist du. Sie macht eine Pause. Aber ... mir sind die Augen aufgangen über dich.

GENDARM ohne viel Zurückhaltung. So? Hat dir der Apotheker vielleicht parfümiertes Augenwasser mitbracht aus seiner Apotheken, daß dir die Augen aufgangen sind über mich?[151]

INNOCENTIA. Du kannst mich nicht beleidigen. Aber ... du hast keine Gewalt mehr über mich. Denn ... mir sind die Augen aufgangen über dich. Ja. Eija. Und ... jetzt sag ich dir frei, warum ich herkommen bin. Der Apotheker ist vorhin zu mir kommen.

GENDARM. Glaubst du, ich hätts nicht gesehn? Er ist sogar noch bei dir, der Apotheker. Und der Apotheker nicht allein. Es ist sogar noch ein anderer bei dir.

INNOCENTIA. Is nur gut, daß du das weißt. Ja. Sogar noch einer. Der Apotheker und der Kommandant. Sie macht wieder eine Pause. Erzählend, aber immer mit einer gewissen Spitze gegen den Gendarmen. Er zeigts an, hat der Apotheker gsagt, er zeigts nicht an, hab ich gsagt. Das beste ist, hat der Apotheker gsagt, wir schaffen die Sach dadurch aus der Welt, daß du von hier fortgehst, Innozenz ... wenigstens für eine Zeit. Und ... hat mir auf der Stelle Geld geben, der Apotheker. Ich ... könnt dirs zeigen. Und ... morgen schon soll ich fort. Und ... das Geld liegt noch aufm Tisch. Und ... das hätt ich dir, hat mir der Apotheker aufgetragen, natürlich nicht sagen sollen. Überhaupt keinem Menschen ... und dir schon gar nicht. Und ... jetzt sag ich dirs doch ...

GENDARM schweigt.

INNOCENTIA langsam. Jetzt kann ich dirs auch sagen ... Ich hab dich gern ghabt Joseph. Und das haben die andern auch gwußt.

GENDARM schweigt, wiewohl er reden möcht und fühlt, daß er reden müßt.

INNOCENTIA fortfahrend. Aber, hat der Apotheker gsagt, so ist die Sach aus der Welt ... und so wird ers nicht anzeigen. Und so ist alles gut ... und hat schon wieder ein glücklich Gsicht gmacht, der Apotheker. Kleine Pause. Und dann ist ihm noch ein anders eingfallen. Du ziehst runter nach der Zell, hat er gsagt, nach der Löwmühl oder sonst wohin in der Näh ... und dann kann ich ab und zu ... und dann können wir alle miteinander ab und zu nachschauen kommen.

GENDARM ungeduldig werdend. Na?[152]

INNOCENTIA wiederholt nichtsdestoweniger die letzten Worte. ... und dann können wir alle miteinander ab und zu nachschauen kommen ... Kleine Pause. Aber da hab ich Angst gkriegt: Nein, nein, er könnts merken, er spürt nach, glaubts mir ... und dann hast du gepfiffen. Sie schweigt.


Er kann nicht reden. Er hat nichts, das er reden könnte.

Schweigen.


INNOCENTIA. Warum ... hast dus immer noch nicht anzeigt, sag?

GENDARM mit ganz veränderter Stimme. Warum ... warum hast dus mir dann jetzt doch gsagt, daß du weggehst ... morgen ... und hättsts doch net sagen sollen. Warum ... Es ist wie ein Auffahren seiner Stimme bei diesem letzten Warum.

INNOCENTIA ruhig. Weil ... weil ich nicht weggeh ... keinen Schritt von hier.

GENDARM ganz und gar heiser. Du bleibst morgen?

INNOCENTIA absolut ruhig. Morgen und alle Tag ... ja.

GENDARM. Und du meinst also ... ich zeigs doch net an?

INNOCENTIA. Ja.

GENDARM ausbrechend, soviel er sich auch zurückhalten wollte. Könnst dich aber irren.

INNOCENTIA unberührt. Nein.

GENDARM bezwingt sich wieder.

INNOCENTIA. Sieh mal an ... das weiß der Apotheker noch gar nicht, daß ich nicht weggeh. Daß weiß noch keiner. Aber ... das Geld kann liegen bleiben, so längs nur mag ... ich rührs net an ... und geh net weg. Und ich sags dem Apotheker und dem Kommandanten auch dann jetzt gleich ...

GENDARM. Weil ... weil ichs doch nicht anzeig?

INNOCENTIA. Ja.

GENDARM kämpft plötzlich. Wenn ... wenn aber die andern auf keinen Fall mehr wollen, daß du noch dableibst ...

INNOCENTIA daran hat sie noch gar nicht gedacht. Sie läßt sich aber nichts anmerken; schweigt nur.

GENDARM sieghaft den Satz wiederholend. Wenn ... wenn aber die andern auf keinen Fall mehr wollen, daß du noch dableibst.[153]

INNOCENTIA schweigt.

GENDARM lacht hämisch.

INNOCENTIA gefaßt. Wollen sies morgen nicht, wollen sies übermorgen gewiß.

GENDARM ratlos. Weil ... weil ichs doch nicht anzeig?

INNOCENTIA ruhig. Wegen was auch? Was ist da viel anzuzeigen? Machens andere anders wie ich? Wie falsch bist du mit der Kommandantin zu mir gewesen.

GENDARM fast schreiend. Das ist nicht wahr!

INNOCENTIA. Und ... zu was soll ich all meine Bequemlichkeit hier aufgeben? Vorgestern ... vorgestern noch hat mir der alte Zirngibl wieder einen japanischen Fächer gebracht.

GENDARM ätzend. Und vielleicht auch wieder eine farbige Papierlatern? Der alte Scheißer der. Paßt gut in deine Wohnung übrigens: Unterm heiligen Christusbild zwei japanische Fächer und davor eine brennende rote Papierlatern.

INNOCENTIA verletzt. Mir ... paßts. Und den andern auch. Und ... dir hats auch paßt. Sehr gut sogar. Und ... und ... je länger du so redst, daß dirs nicht paßt, desto mehr paßts mir. Und ... wenn ich jetzt nicht zu dir herkommen war, war ich vielleicht morgen doch von hier fort. Und ... je länger ich hier bei dir stehen bleib, desto gewisser wirds mir, daß ich morgen nicht fortgeh. Weil ... weil mir die Augen aufgangen sind über dich ... und über mich auch. Mir behagts nun erst recht in der lustigen Gesellschaft – vom Apotheker und vom Kommandanten, vom Braumeister und vom hungrigen Lehrer. Nur ... bloß nur dich net.

GENDARM. Bist du ... verdreht auf einmal?

INNOCENTIA. Sünd wärs mir nur mit dir. Mit den andern nicht. Und da soll ich einzig deinetwegen alles andere aufgeben ... du Schreckschuß, du blinder Alarm, du? Sie lacht; beinah frech. Sie wird eine andere; und ists schon geworden. Sie wächst. Tanzt beinahe. Ihre Arme, wie gehoben, verschränken sich im Nacken. Ich glaub, ich bin just im richtigen Alter, verstehst? Nur kein Kind mehr. Aber dafür sorgt der Apotheker ... du[154] weißt noch ... und du hasts obendrein zugeben. Wenn ... wenn ich das dem Apotheker sagen tat ...?

GENDARM keuchend. Du bist ja eine Sau. Du hast ja mit fünfen nicht genug.

INNOCENTIA selig. O doch. Ich könnt sogar in einem einzigen Fall wie eine Klosterfrau leben: Lieber mit gar keinem und nie einem mehr als noch ein einziges Mal mit dir. Sie will gehen. Gendarm fährt unwillkürlich, wie momentan angeekelt oder tief erschreckt, zurück. Dann stürzt er auf sie zu. Packt sie.

INNOCENTIA wehrt sich nicht, sondern sagt ganz ruhig. Geh doch zu deiner Kommandantin. Oder ... ist sie nicht so gut gwesen wie ich?

GENDARM läßt sie los. Ich geh zur Kommandantin. Aber ... du gehst mit zur Kommandantin. Das heißt ... auf die Wache. Ich ... ich ... verhafte dich ... im Namen des Ge ...

INNOCENTIA starr. Was?

GENDARM fast lallend. Ich verhafte dich ... im Namen des Ge ...

INNOCENTIA lacht laut auf. Du? Du mich verhaften? Gemütlich. Seien S' so gut, Herr Schandarm ... und sagen Sies noch einmal. Mir ist immer, als hätt ich, fälschlich, was von Verhaften ghört.

GENDARM packt sie von neuem.

INNOCENTIA wehrt sich und macht sich mit einem Ruck los. Du ... rühr mich mit keinem Finger mehr an ... das sag ich dir. Übrigens ... hast du mich derart angepackt, als ob du ganz was anderes hättest tun wollen als mich verhaften ...

GENDARM zwingt sie nieder. Wirft sich über sie. Erst das eine – dann das andere! Sinnlos. Du Luder ... Innozenz ... du Vieh ...

INNOCENTIA schreit ein paarmal laut auf.

GENDARM kriegt sie auf den Rücken zu liegen. Du ... du ... du ... du ... du ...


Man sieht ein Stück von einem roten Unterrock. Etwas von einer grauen Flanellhose.


APOTHEKER Stimme von fern. Los, sag ich – – los – los – oder – –[155]

GENDARM springt auf. Packt sein Gewehr. Legt an. Wechselt den Stand, indem er hinter einen Baum springt. Zurück sag ich.

APOTHEKER sichtbar. Er ist im Sonntagsanzug. Ohne Hut. Mit seinem Gewehr, das er anlegt. Betrunken wie heute nachmittag. Steh du, du Hund, steh ... net hinterm Baum, Herr Schandarm ... wie ich auf offenem Feld, Herr Schandarm ... Du oder ich.

GENDARM hinterm Baum, schießt.

APOTHEKER. Fehl, Herr Schandarm.

GENDARM schießt noch einmal.

APOTHEKER. Nochmal gefehlt, Herr Schandarm. Aber jetzt komm ich ... Er wankt näher.

GENDARM will noch ein drittes, noch ein viertes Mal abdrücken. Vergebens. Man hört nur etwas wie Rasseln. Da schreit er auf. Au – au – au – au – au –

APOTHEKER. Alles verschossen? Das war ... unvorschriftsmäßig geladen ... Drei Tag Mittel- ... Haha ...

GENDARM läuft vom Baum weg. Wirft das Gewehr von sich. Steht einen Augenblick aufrecht, in größter Angst. Im Mondlicht. Ich ... zeigs ja net ... an ...

APOTHEKER schießt ihn, kurz gezielt, übern Haufen.

KOMMANDANT läuft im nächsten Augenblick herbei. Apotheker, du hast mein Gewehr ... wie kommst du ... du hast ihn ... Er eilt auf den Gendarm zu. Kniet bei ihm nieder.


Langes Schweigen.


APOTHEKER. Mörder? Nein, nein. Nein, nicht als Angeklagter ... Anklägerisch, ja, geh ich zu Gericht ... Anklägerisch, nicht angeklagt, o nein ...

KOMMANDANT. O ... durch die Stirn ... grad ... mitten durch die Stirn ... Pause. Zum Apotheker. Hättst es doch nicht tun sollen ...

APOTHEKER furchtbar. Wer redt mir da? Er steht ein paar Augenblicke gestreckt, dann knickt er ein. Zum Kommandanten. Verhafte mich, Herr Kommandant ...[156]

KOMMANDANT starr.

APOTHEKER. Na ... wirds?

KOMMANDANT verharrt regungslos.


Stille.


– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

APOTHEKER. Wie is mir denn? Was läuft da in mir ab, als wärs ne Uhr? Ja, mitten durch die Stirn, hast du gesagt ... Wenn ich den Zettel hier so neben ihn leg ... da ... den Zettel ... da ... den Zettel ... von der Innozenz ... den ... wo ... Und er doch mitten durch die Stirn, als ob ... wie wenn er sich aus »unglücklicher Liebe« selber erschossen hätt. Mitm Dienstgewehr ... Er denkt die eigenen Sätze zurück, dann, ganz langsam. Wer gab mir den Gedanken? Überwältigt. Guter Gott, und allen Heiligen, wie dank ichs euch? Und alle Heiligen, wie dank ichs nur? Wie dank ichs – – – – Er weint vor Freude. Erlöst.

INNOCENTIA stammelnd. Gib ihm ... die ewige Ruh ... und das ewige Licht ... leuchte ihm ... Amen ...

APOTHEKER es kommt wie Jauchzen in sein Weinen.


Quelle:
Heinrich Lautensack: Das verstörte Fest. Gesammelte Werke. München 1966, S. 148-157.
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