[246] An Ihre Majestät, Charlotte, Königinn von Groß-Brittanien.
Verehrungswürdigste Königinn,
Seine Königliche Hohheit, der Prinz Eduard, äußerten bey Ihrer Durchreise durch Zürich einiges Verlangen nach einer Handschrift, die für Ihre Majestät, Seine Königliche Frau Mutter, einiges Interesse haben mögte.
Nähere Erkundigungen veranlaßten die Seines guten Herzens würdige, mir ganz willkommene Antwort: »Etwas über das menschliche Herz«.
Ich stand nicht lange an, das menschliche Herz nur von seiner guten Seite zum Gegenstande meiner Bearbeitung zu machen und eine dichtersche Einkleidung zu wählen. Was sollte, dacht' ich, die beßte Mutter mit einem bösen Herzen zu thun haben? Und welcher nicht böse Mensch beschäfftigt sich gern lange nur mit Betrachtung, ich will nicht sagen: mit ausführlicher Zergliederung, eines schlechten Herzens?
Freylich, das menschliche Herz ist ein aus unzähligen Widersprüchen zusammengesetztes, unermeßliches Ganzes, und das beßte Herz hat Seiten, hat Regungen, hat Momente, die es gern vor Gott, vor allen guten Geistern und vor sich selber verbürge; und es bleibt bey dem uralten[246] Ausspruche, der mit sehr Wenigem sehr Vieles sagt: »Das menschliche Herz ist ein trutzig und verzagtes Ding; wer will es ergründen.« Und wir können kaum an das menschliche Herz denken, daß uns nicht ein großes Wort des größten oder vielmehr des Alleinweisen, des einzigen Herzenkenners zu Sinne komme: »Aus dem Herzen kommen alle bösen Gedanken«; »Der gute Mensch bringt aus dem guten Schatze seines Herzens Gutes hervor, der böse Mensch aus dem bösen Schatze seines Herzens das Böse«.
Deß ungeachtet glaubt' ich mir erlauben zu dürfen, das Herz auch nur von seiner guten Seite gezeigt das menschliche Herz zu nennen und darinn den Sprachgebrauch völlig für mich zu haben, indem tausendmal das Wort »Herz« für »gutes Herz, Empfindsamkeit, Theilnehmung, Liebe« gebraucht wird. Man sagt: »Ein Mensch ohne Herz, ein Mensch voll Herz, ein Mann von Kopf und Herz.«
Auch mußt' ich deßwegen die allgemeine Benennung beybehalten, weil ich von der Vortrefflichkeit und Größe des menschlichen Herzens Manches überhaupt zu sagen hatte, was sich nicht geradezu nur vom guten Herzen als solchem sagen läßt, und hauptsächlich mit deßwegen, weil ich dennoch hin und wieder, wie wohl sparsam und um des Contrastes willen, etwas, das nicht zu seiner Ehre gereicht, sagen mußte.
Daß ich die Sache dichtersch behandelt, wird bey Ihrer Majestät, das heißt: bey einer solchen Kennerinn und Ehrerinn der Deutschen Poesie keiner Entschuldigung oder Rechtfertigung bedürfen, so wenig als die Schmucklosigkeit, welche sich das Lehrgedicht besonders bey sentenziosen Stellen bisweilen erlauben muß. Das Lehrgedicht[247] muß sich sehr oft, wenn es nicht schwülstig werden soll, damit begnügen, wichtige Wahrheiten so klar, so kurz und so leicht einleuchtend und behaltbar wie möglich zu sagen. Ich bin übrigens weit davon entfernt, irgend eine matte Stelle dieses äußerst unvollständigen Versuches damit entschuldigen zu wollen.
Ich bin glücklich genug, wenn diese Fragmente – denn was anders läßt sich über das menschliche Herz schreiben – Ihrer Majestät und Seiner Königlichen Hohheit einige frohe Augenblicke verursachen, wenn hie und da Beyde Sich als in einem Spiegel schnell finden und leicht anerkennen können, wenn die eine oder andere Stelle vermögend seyn sollte, irgend ein Gewölke, das über Ihren Häuptern schweben mögte, zu zerstreuen.
Der Zweck des Dichters kann immer nur einer seyn: angenehme Reminiszenzen und Ahnungen aus der Tiefe unserer geistigen Natur gleichsam herauf zu zaubern und uns das Wort des Vaters aller Sterblichen, da er die Mutter aller Lebendigen erblickte, sanft abzunöthigen: »Fleisch von meinem Fleisch' und Gebein von meinem Gebeine«!
Mehr, vortreffliche Königinn, darf ich nicht sagen als: Ich ersterbe Ihrer Majestät unterthänigst ergebner Verehrer
Johann Caspar Lavater.
Zürich, den 2. Februars 1789.
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»Gott hat die Welt in des Menschen Herz gelegt«.
Salomo.