Jacques

[839] Wer weilt auf stiller Walstatt noch allein

Und lugt herum bei hellem Mondenschein

Und bückt zu diesem sich, zu jenem nieder,

Seltsam hantierend um die toten Glieder

Und zwischendurch sich wischend eine Zähre?

Ein Schneider ists mit Ellenstab und Schere.


Der arme Jacques! ein Wahnwitz ist sein Leiden,

Nie toller war ein Schneiderhirn verdreht,

Er meint: der Antichrist kann nicht verscheiden,

Bis er den Sterbekittel ihm genäht.


Er sucht nach Stoff und schneidet dort und hier

Vom Körper eines Ritters, eines Pfaffen

Ein Stück Gewands mit emsiger Begier,

Um für den Riesenkittel Zeug zu schaffen.


Beladen trollt er heim dann manche Stunde,

Anspringen bellend ihn des Dorfes Hunde;

Doch wendt er sich, so weichen sie, geschreckt

Vom Fetzenturm, der ihm das Haupt bedeckt.


Im Stüblein sitzt nun Jacques beim Lampenlicht

Und sichtet seine Lappen, fügt und sticht;

In bunter Eintracht binden sich zum Kleide

Des Antichrist Tuch, Samt und Pelz und Seide,

Was übers Meer an Pracht der Osten sandte,

Und was im fernen Wald des Nordens rannte.

Stoff und Gewebe vielfach und verschieden,[839]

Wie Herz und Glaube derer, die sie trugen,

Und die darum sich haßten und sich schlugen,

Bis alle hüllt der gleiche Todesfrieden.


In Müh und Hast ist schon sein Leib geschwunden,

Doch kleckt die Arbeit nimmer für den Kunden;

Ein Teil nur ist vom Ärmel seiner Rechten,

Was Meister Jacques genäht in hundert Nächten.


Er sieht manchmal die Riesenhand des Recken

Weit übers ganze Land hinaus sich strecken

Und auf dem weiten Feld der Hand umfahren

Wie Mücken, ohne Zahl, bekreuzte Scharen.


Wie zittert Jacques, wenn Sturmwind heult und kreischt,

Und wenn die sommerlichen Donner rollen;

Dann hört er seinen Kunden seufzen, grollen,

Der dringend seinen Sterbemantel heischt.

Wenn ihm ans Fensterlein die Schloßen klopfen,

So ists der Todesschweiß in kalten Tropfen,

Den ihm der Antichrist ans Fenster schleudert,

Und Jacques fährt auf und schneidert fort und schneidert,

Daß glühend seine Nadel sich erhitzt

Und Schweiß und Blut aus Stirn und Fingern spritzt.

Umsonst! er kann den Riesenwuchs nicht kleiden,

Der arme Antichrist kann nicht verscheiden;

Doch kanns ein Schneiderlein behend und frisch,

Des Morgens lag er tot auf seinem Tisch.


Zur rechten Stund nahm Jacques die stille Flucht,

Denn Simon zieht durchs Dorf mit seinem Heere,

Er hört vom Jacques die wunderliche Märe

Und tritt ins Haus und forscht umher und sucht.[840]

Der Ärmel, drauf der Meister lag, der bleiche,

Wird ausgebreitet und genau durchspäht:

Da sind viel rote Kreuze drein genäht,

»Jacques war ein Ketzer, auf! verbrennt die Leiche!«


Man wirft ihn auf die angesteckte Scheuer,

Nachfliegen seine Lappen ihm ins Feuer;

Von dannen zieht das Heer, rückblickend sehen

Sie schon das Dorf in hellen Flammen stehen.

Quelle:
Nikolaus Lenau: Sämtliche Werke und Briefe. Band 1, Leipzig und Frankfurt a.M. 1970, S. 839-841.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Albigenser
Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe / Versepen 2. Savonarola, Die Albigenser, Don Juan, Helena

Buchempfehlung

Lohenstein, Daniel Casper von

Sophonisbe. Trauerspiel

Sophonisbe. Trauerspiel

Im zweiten Punischen Krieg gerät Syphax, der König von Numidien, in Gefangenschaft. Sophonisbe, seine Frau, ist bereit sein Leben für das Reich zu opfern und bietet den heidnischen Göttern sogar ihre Söhne als Blutopfer an.

178 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon