Siebzehnter Brief

[312] An ebendenselben


Ich fühle mich heute zum Briefschreiben so wenig aufgelegt, daß Sie ganz gewiß, mein Herr, diesesmal keinen bekommen würden; wenn ich mich nicht zu allem Glücke besänne, daß ich ja nur abschreiben dürfte, um einen Brief fertig zu haben. Wenn es weiter nichts ist, so wollen wir wohl sehen. – –


Zweite Fortsetzung

Singe unsterbliche Seele der sündigen Menschen Erlösung.


»Über die Anrede habe ich mich schon erklärt. Man betrachte sie als eine bloße Anzeige dessen, was der Dichter tun will, oder als eine Aufmunterung an sich selbst, so muß ich beidemal[312] fragen, warum er hier seine Seele, auf der Seite eines unsterblichen Wesens betrachtet? Ich weiß es, die Erlösung ist nichtig, wann unsere Seelen nicht unsterblich sind; der Stoff, den er sich gewählt, ist ein Stoff der ihm in die Ewigkeit nachfolgt; und aus diesen Gründen würde man das unsterblich vielleicht rechtfertigen können. Allein man sage mir, hat der Dichter hier nicht die Gelegenheit zu einer weit gemäßern, zu einer weit zärtlichern Vorstellung aus den Händen gelassen? Würde es nicht noch schöner gewesen sein, wenn er seine Seele, als diejenige angeredet hätte, welche selbst an der Erlösung der sündigen Menschen Teil hat? Hieraus würde eine Verbindlichkeit zu singen entstanden sein, die seinem Eingange eine durchaus neue und von keinem Dichter gebrauchte Wendung gegeben hätte. Ich weiß es, dieser Zug müßte mit einer Feinheit angebracht werden, deren nur eine Meisterhand fähig ist. Allein, wäre er der einzige gewesen, der von dieser Art in dem ewigen Gedichte glänzet? Wie viel der feinsten Anspielungen, welche durch ein einziges Wort ein Meer von Gedanken in der Seele zurücklassen, findet man nicht darinne? Man betrachte die Zeile wie sie ist, und überlege wie sie sein könnte. Sich selbst, oder seine Seele, schildert der Dichter auf ihrer prächtigsten Seite, auf der Seite der Unsterblichkeit; alle andere Menschen auf der allerelendesten, auf der Seite sündiger und verlorner Geschöpfe. Scheint sich der Dichter also nicht von ihnen auszuschließen? Hätte er einen gleichgültigern Eingang finden können, wenn er die Befreiung eines Volks, das bisher in dem Joche der Knechtschaft geseufzet, besungen hätte; eines Volks, wovon er kein Glied wäre? Ich bin ein Feind von Parodien, weil ich weiß, daß man das vortrefflichste dadurch lächerlich machen kann. Sonst wollte ich versuchen, ob man nicht einen untadelhaften Eingang zu einem Heldengedicht auf die Befreiung, zum Exempel der Holländer, daraus machen könne. Beinahe hätte ich lieber Lust zu zeigen wie diese erste Zeile sein könne, wenn sie meine Kritik nicht treffen sollte. Doch auch dieses will ich unterlassen. Ein unglückliches Beispiel machet oft eine gegründete Anmerkung verdächtig.[313]


Die der Messias auf Erden in seiner Menschheit vollendet,


Diese Zeile ist leer. Ein einziger Begriff ist unter verschiednen Ausdrücken dreimal darinne wiederholt. Liegen auf Erden und in seiner Menschheit nicht schon hinlänglich in dem Worte Messias? Wann anstatt Messias der Dichter ewiger Sohn, oder etwas gleichgeltendes, gesagt hätte, so würde das folgende notwendig sein. Es würde Umstände ausdrücken, die hier stehen müßten, und welche in dem Worte ewiger Sohn nicht liegen. Dieses, sollte ich meinen, ist klar. An dem folgenden Einwurfe wird vielleicht mein Katechismus Schuld haben. Er betrifft das Wort vollendet. Man hat mich gelehrt, zu der Erlösung der Menschen gehörten auch das Hinabsteigen zur Hölle und die Himmelfahrt Christi. Ist es aber auf Erden geschehen, daß er sich den Teufeln triumphierend gezeigt hat? Ist er in seiner Menschheit gen Himmel gefahren, oder in seiner verklärten Menschheit? Ich weiß also nicht, wie man sagen kann, Christus habe die Erlösung auf Erden in seiner Menschheit vollendet? Dieses ist die Stelle, aus welcher man am zuverlässigsten schließen könnte, wo die Handlung des Gedichts aufhören werde.


Und durch die er Adams Geschlechte die Liebe der Gottheit,

Mit dem Blute des heiligen Bundes von neuen geschenkt hat.


Im vorbeigehen will ich erinnern, daß der Ausdruck das Blut des heiligen Bundes zweideutig ist. Das Blut der Beschneidung war auch Blut eines heiligen Bundes. Was mir aber hier am besondersten vorkommt, ist die Liebe der Gottheit, welche der Messias durch das Blut des heiligen Bundes dem Geschlechte Adams von neuen geschenkt hat. Die Menschen hatten also die Liebe der Gottheit verloren? Gott haßte also die Menschen; und gleichwohl hatte er von Ewigkeit beschlossen, sie erlösen zu lassen? Ich will nicht hoffen, daß mein Einwurf die Sache selbst trifft; ich glaube vielmehr, der Dichter hätte einen behutsamern Ausdruck wählen sollen. Der gewählte, er mag symbolisch sein oder nicht, bringt auch den kurzsichtigsten Leser auf den unverdaulichsten Widerspruch. Das hieße das unveränderliche Wesen Gottes zu dem[314] veränderlichsten machen, wenn man sagen dürfte: Gott könne einem Geschöpfe, das seine Liebe verloren, (man überlege den ganzen Umfang dieses Worts) das sie, sage ich, verloren habe, diese verlorne Liebe von neuen schenken. Was für niedrige Begriffe von Abwechselung Hasses und Liebe dichtete man dem sich selber ewig Gleichen an? Doch wie können die Menschen seine Liebe verloren haben, wann gleichwohl, wie der Dichter in der folgenden Zeile sagt, durch die Erlösung des Ewigen Wille geschehen ist? Kann der in des Königs Ungnade sein, den der König glücklich zu machen beschließt? Ich sehe ein Labyrinth hier vor mir, in das ich den Fuß lieber nicht setzen, als mich mit Mühe und Not heraus bringen lassen will.


Vergebens erhub sich

Satan wider den göttlichen Sohn; umsonst stand Judäa

Wider ihn auf: er tats, und vollbrachte die große Versöhnung.


Der Dichter sagt an einem andern Orte von Jerusalem, daß sie die Krone der hohen Erwählung unwissend hinweggeworfen. Hat das jüdische Volk also Jesum nicht für den, der er war, erkannt, wie es ihn denn würklich nicht erkannt hat, wie kann es wider ihn aufgestanden sein? Wie kann es ihn das große Werk auszuführen gehindert haben, von dem es nichts wußte? Alle Verfolgungen der Juden sind der Absicht Christi eher behülflich, als entgegen gewesen. Satan ist im gleichen Falle. Er kannte den Messias nicht; er hielt ihn für nichts als einen sterblichen Seher. Er wandte alles an, ihn zu töten, und Christus sollte uns zu erlösen getötet werden. Was für einen mächtigen Feind hat also der Messias an ihm zu überwinden gehabt? Wenn sich Satan der Kreuzigung Christi widersetzt hätte, so hätte der Dichter sagen können: Umsonst; er tats und vollbrachte die große Versöhnung.

Man übersehe nunmehr diesen ersten Teil des Einganges im Ganzen, und sage ob Hr. Klopstock seinen großen Plan glücklich ins Kurze zu ziehen gewußt hat.« – –

O wie froh bin ich, daß ich einen Absatz sehe! Wenn ich nunmehr den Bogen zusammen lege, ihn versiegle und die Aufschrift darauf setze, so ist ja der Brief fertig. Nicht? Doch[315] noch eines würde fehlen, und da ist es: Leben Sie wohl! Ich bin etc. B**, den 20. Dezember 1751.

Quelle:
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 3, München 1970 ff., S. 312-316.
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