Fünftes Capitel

[205] Der Gartensaal der Herzogin lag, wie bei all den Schlössern, welche dem Anfange des achtzehnten Jahrhunderts ihre Entstehung verdanken, an einer mächtigen Terrasse. Am Abende des Tages, an welchem sie Renatus bei sich aufgenommen hatte, waren die Thüren des Gartensaales weit geöffnet. Das helle Licht der Kerzen mischte sich mit dem sanften Glanze des Mondes und ließ innen wie außen alle Gegenstände klar erkennen.

Mitten im Saale saß die Herzogin mit ihrem Freunde, dem Prinzen, und noch zwei andern Personen beim Kartenspiele; draußen ging Renatus an der Gräfin Seite auf und nieder, während ein Mann von reifem Alter und ein junger, schlanker Geistlicher, die am andern Ende des Zimmers Platz genommen hatten, in eifriger Unterhaltung begriffen zu sein schienen, obschon keiner von beiden die auf der Terrasse Lustwandelnden aus dem Auge verlor.

Von Zeit zu Zeit warf auch die Gräfin ihre Blicke in den Saal, dann aber wendete sie sich gleich wieder dem Freiherrn zu, und obschon ihre Unterhaltung sich ausschließlich in jenen Fragen und Mittheilungen bewegte, mit denen man sich der äußerlichen Verhältnisse eines neuen Bekannten zu bemächtigen und ihn in der fremden Umgebung heimisch zu machen versucht, fühlte Renatus sich doch von einer Unruhe ergriffen, für welche er sich keine Ursache anzugeben wußte.

Ohne es zu wollen, mußte er den Blicken Eleonorens folgen,[205] ohne zu wissen, weßhalb, betrachtete er die Gesellschaft, die er in dem Zimmer vor sich sah, mit einer mißtrauischen Besorgniß. Er hörte achtsam auf alles, was Eleonore zu ihm sprach, und er fühlte sich trotzdem überzeugt, daß sie an etwas Anderes denke; ja, es kam ihm endlich vor, als sei sie mit ihm unzufrieden, als werde sie ungeduldig; aber er konnte es sich nicht erklären, wie er ihr Anlaß zu irgend einer Unzufriedenheit gegeben haben könne. Nie zuvor war ihm so sonderbar zu Sinne gewesen. Die Empfindung, daß die Gräfin ihn geflissentlich auf die Terrasse hinausgeführt habe, daß jetzt etwas geschehen, etwas gethan werden müsse, wurde immer lebhafter und unabweislicher in ihm. Das Herz klopfte ihm in der Brust, er hatte eine Art von Furcht vor seiner schönen Gefährtin, und wie das dämmernde Mondlicht sie mit seinem webenden Schimmer hell und heller umgoß, kam sie ihm zwar wie eine Armide verführerisch und schön, aber so oft der strenge Blick ihres großen Auges ihn berührte, auch wie eine solche unheimlich und dämonisch vor.

Sie hatte seit einer Weile zu sprechen aufgehört; das konnte er nicht ertragen, und um sich aus der Befangenheit und Verwirrung, deren er sich schämte, herauszureißen, sagte er plötzlich: Sie haben mir heute, gnädige Gräfin, im Andenken an Ihren und meinen Vater, Ihre Freundschaft angeboten, und ich glaube, daß es Ihnen Ernst damit gewesen ist. Darf ich diese Freundschaft heute schon zu einem Dienste für mich in Anspruch nehmen?

Eleonore blieb stehen; Renatus hörte, daß sie tief aufathmete, als werde eine Spannung von ihr genommen, und ohne sich zu besinnen, entgegnete sie ihm: Unbedenklich, wenn Sie mir vorher gestattet haben werden, Ihnen zu erklären, was mich bewogen hat, Ihnen diese Freundschaft so schnell und so gewaltsam aufzudrängen.

Renatus wollte ihr entgegnen, daß sie ihn mit ihrem Vertrauen[206] glücklich mache, aber sie ließ ihn dieses nicht vollenden. Keine Worte, Herr von Arten! rief sie mit ihrer stolzen, gebieterischen Weise. Sie müssen es heute schon gesehen haben, es fehlt mir nicht an Männern, die mir schmeicheln, weil sie glauben, daß auch ich nichts Höheres kenne, als mich durch die Schmeicheleien eines Mannes gefangen nehmen und der Freiheit berauben zu lassen, die man mir mißgönnt! Aber eben deßhalb bin ich in der Lage, meine Tante täglich daran zu erinnern, daß ich, Dank dem Testamente meiner Mutter, freier Herr über alle meine Entschließungen bin, und eben deßhalb bot ich Ihnen heute so unberufen meine Freundschaft an, um es meiner Tante darzuthun, daß ich's nicht liebe, wenn man selbst die heiligste aller Pflichten, die Dankbarkeit, nur zu einem Piedestal für sich, und zu einer Last für denjenigen zu machen sucht, dem man sie zu entrichten hat! Nun, die Herzogin hat ja lange Jahre in Ihres Vaters Hause gelebt – Sie werden sie also kennen, so gut wie ich!

Der Zorn, der aus jedem ihrer Worte sprach, gab ihrer tiefen Stimme nur einen höheren Reiz, und doch erschreckte ihr Wesen den jungen Freiherrn auch in diesem Augenblicke wieder, weil es völlig von allen den Vorstellungen abwich, unter denen er bisher das Bild eines jungen Mädchens zu denken gewohnt gewesen war. Selbst die rückhaltlose Härte, mit welcher Eleonore über ihre greise Tante gegen einen Fremden ihr Urtheil aussprach, beleidigte sein Schicklichkeitsgefühl, und immer geneigt, sich desjenigen anzunehmen, dem nach seiner Meinung ein Unrecht zugefügt wurde, sagte er, daß er von der Herzogin zwar ein lebhaftes Bild in seiner Erinnerung bewahrt habe, daß er aber zur Zeit ihres Aufenthaltes in Richten zu jung gewesen sei, irgend ein selbständiges Urtheil über sie zu besitzen.

Und abermals blieb Eleonore stehen, während sie, trotz des Halblichtes, in seinem Antlitze zu lesen versuchte. Sonderbar,[207] sprach sie; Ihnen fehlte also jener Instinkt, den das Kind doch mit dem Thiere gemein hat? Sie hatten also kein inneres Widerstreben gegen die Herzogin? Sie hatten kein Abmahnen gegen die selbstische, die tyrannische Feindseligkeit ihrer ganzen Natur?

Nein, versetzte Renatus nach einigem Besinnen. Ich glaubte nur, daß sie die Kinder nicht eben gern habe, und da meine theure Mutter ihr weniger als mein Vater nahe stand, so hatte ich damals, so viel ich mich entsinne, allerdings keine besondere Liebe für die Frau Herzogin; aber ich könnte eben so wenig sagen, daß ich sie gefürchtet hätte.

Ich habe sie gefürchtet, seit ich zu denken vermochte, fuhr Eleonore heraus, und jetzt – jetzt kenne ich sie! fügte sie mit schneidender Bitterkeit leise hinzu, als der Edelmann, welcher bis dahin mit dem Geistlichen gesprochen hatte, man nannte ihn, um ihn von seinem Vater, dem Fürsten von Chimay, zu unterscheiden, mit seinem Taufnamen den Prinzen Polydor, zu den Beiden heraustrat und der besonderen Unterhaltung des jungen Paares damit ein Ende machte.

Eleonore verließ die Terrasse, und Renatus, der dem Prinzen schon am Mittage bei der Fahrt im Gehölze vorgestellt worden war, blieb allein mit ihm zurück. Der Prinz mochte über fünfzig Jahre alt sein, aber sein hellblondes Haar, seine schlanke Gestalt und seine schöne Haltung machten ihn, bei der großen Sorgfalt, mit welcher er gekleidet war, noch vortrefflich aussehen. Renatus wußte, daß er des alten Fürsten einziger Sohn und Erbe sei und daß er mit seinem Vater während der ganzen Zeit der Verbannung am Hofe zu Petersburg gelebt habe. Bei der Herzogin stand er offenbar in großer Gunst. Sie hatte, nachdem man ihm am Morgen begegnet war, den jungen Freiherrn aufmerksam darauf gemacht, wie er in dem Prinzen Polydor das Muster eines französischen Edelmannes vor sich sehe, und dann,[208] gleichsam im Selbstgespräche, hinzugefügt: Und doch war seiner Mutter Blut dem seines Vaters nicht an Reinheit gleich.

Als Renatus sie darauf fragend angesehen, hatte sie sich in ihren Mittheilungen plötzlich unterbrochen und nur flüchtig die Bemerkung hingeworfen, daß es sich dabei um ein sehr romantisches Ereigniß handle, von welchem man nicht eben spreche, obschon es dem alten Fürsten eigentlich zur höchsten Ehre angerechnet werden müsse, wie der König dies denn auch durch sein Verhalten gegen den Vater und den Sohn gethan habe. Und es war danach der Einbildungskraft des jungen Freiherrn vorläufig noch überlassen geblieben, unter welcher Gestalt er sich die romantischen Erlebnisse des alten Fürsten vorstellen mochte und konnte.

Nach einigen Tagen aber kam die Herzogin, als sich am Abende ihre gewohnten Gäste bereits entfernt hatten, unter dem Vorgeben, daß sie Renatus recht bald und recht schnell unter ihren Umgangsgenossen bekannt zu machen wünsche, abermals auf den Fürsten und seinen Sohn zurück, und bei diesem Anlasse erfuhr Renatus, was die Herzogin ihm am ersten Morgen nur anzudeuten für gut befunden hatte.

Der alte Fürst von Chimay, so erzählte die Herzogin, war in seiner Jugend ohne alle Frage der schönste Mann, der vollendetste Cavalier des Hofes, und wir lebten damals noch in einer Zeit, in welcher man es einem Manne weit mehr als jetzt zum Verdienste anzurechnen verstand, wenn er der Welt in sich selbst ein vollkommenes Bild edelmännischer oder fürstlicher Würdigkeit darzubieten wußte. Er hatte in früher Jugend bedeutende Reisen gemacht, überall war ihm der ehrenvollste Empfang zu Theil geworden, der Ruf seines Geistes und seiner Liebenswürdigkeit stand über jeden Zweifel fest, die Gunst der Frauen kam ihm bereitwillig entgegen; aber der Fürst war nicht nur schön wie ein Adonis, er war auch spröde wie ein solcher, und das Gerücht,[209] das ihn unbesieglich nannte, steigerte nur das Verlangen der Frauen, ihn zu überwinden und zu fesseln.

Die Herzogin lehnte sich, in ihrer Erzählung innehaltend, in ihren Polsterstuhl zurück. Es ist die alte Eva-Natur, sagte sie lächelnd, alles, was ihnen versagt ist, was sich ihnen entzieht, das reizt die Frauen. Machen Sie sich daraus Ihren Schluß, mein junger Freund; und sich langsam mit einem der kleinen dunkelrothen Fächer, deren Renatus sich noch aus seiner Kindheit zu erinnern meinte, Kühlung zuwehend, fuhr sie nach einer kurzen Pause also in ihrer Erzählung fort: Ich lebte damals fern vom Hofe, an meines verehrten Gatten Seite, in unserem Schlosse. Wir sahen den Fürsten, der uns sehr befreundet war, immer nur für einzelne Wochen und in Zwischenräumen bei uns, da die Gesellschaft des Hofes ihn uns streitig machte. Es war oftmals von seiner Verheirathung die Rede gewesen, öfter noch von Herzensverhältnissen, in die er verstrickt sein sollte; aber alle diese Gerüchte erwiesen sich stets als unbegründet, und man gewöhnte sich bereits daran, den Fürsten als einen Weiberfeind zu betrachten, als sich ganz unerwartet und zum höchsten Erstaunen aller Welt die Nachricht verbreitete, der Fürst habe sich mit einem jungen, im Kloster erzogenen, einer geringen und armen Adelsfamilie angehörenden Mädchen verehelicht, das ihm einen Sohn geboren habe, und sei, da die junge Mutter von einem unheilbaren Brustleiden ergriffen worden, zu ihrer Erhaltung mit Frau und Sohn in's Ausland, in den Süden, ich meine, nach Sicilien, gegangen.

Die Kunde setzte den Hof, die Stadt, den ganzen Adel des Landes in Bewegung. Niemand wollte es glauben, Niemand hatte dem Fürsten eine so phantastische Leidenschaft zugetraut, Niemand es für möglich gehalten, daß eben der Fürst von Chimay es vergessen könne, was er sich selber schuldig sei. Man fragte sich: Wer ist die Zauberin, die den bisher Unbesiegten nicht[210] nur zu besiegen, sondern sich selber abwendig zu machen verstanden hat? Man forschte nach ihrem Namen, man war begierig, sie zu sehen, man glaubte an jedem Tage, irgend eine Lösung dieses Räthsels zu erhalten, die wo möglich noch geheimnißvoller und auffallender als das Ereigniß selber sein sollte; indeß man erfuhr nichts, gar nichts über den Gegenstand dieser unbegreiflichen Leidenschaft. Der Fürst kehrte denn auch nicht, wie man es doch erwartet hatte, mit der schönen Jahreszeit nach Frankreich und an den Hof zurück; er legte vielmehr das Amt eines Kammerherrn, das er bekleidet hatte, nieder, und alles, was man ermitteln konnte, war, daß die Trauung in der kleinen Kirche des Klosters vollzogen worden war, in welchem die Braut bis dahin gelebt hatte, und daß sie an ihrem Hochzeitstage eben so schön als krank ausgesehen habe.

Ich befand mich im Auslande, auf einer Badereise, als dieser Roman die Gesellschaft in Aufruhr setzte, und alle Briefe, welche ich erhielt, sprachen mir nur von unserem Freunde. Indeß er selber gab mir keine Kunde von sich, und nachdem man des Verwunderns von allen Seiten müde geworden war, fingen die Einen den Prinzen zu vergessen, die Andern auf ihn zu verzichten an. Man sagte sich, daß er wiederkehren und seine alte Stelle unter uns einnehmen werde, wenn er seiner romanhaften Grille genug gethan habe oder wenn die fabelhafte Prinzessin gestorben sein würde. Aber als handele es sich wirklich um ein Märchen, so geschahen auch hier jetzt Wunder, und zwar gerade diejenigen, welche man am wenigsten erwartet hatte.

Die Herzogin unterbrach sich abermals, und Renatus, den die Thatsachen dieser Erzählung eben so anzogen, als ihn die meisterhafte Weise fesselte, in welcher die Greisin sie berichtete, bemerkte, daß Eleonore das Buch, in welchem sie bis dahin gelesen hatte, zur Seite legte und, die Arme über die Brust gekreuzt, ebenfalls auf die Fortsetzung der Erzählung achten zu[211] wollen schien. Auch der Herzogin entging die plötzliche Aufmerksamkeit keineswegs. Sie fragte, ob Eleonore ihr Buch beendet habe.

Nein, versetzte diese; Ihre Erzählung ist mir aber weit wichtiger, als das Buch, und ich bin begierig, liebe Tante, den Ausgang derselben, über den ich sonst schon sprechen hörte, gerade aus Ihrem Munde zu vernehmen. Nicht wahr, die Fürstin bewies sich den schönen Frauen des Hofes nicht so gefällig, als sie es wünschten und erwartet hatten, die Fürstin blieb am Leben; und, was noch schlimmer war, der Fürst, weit davon entfernt, ihr dieses zu verargen, gewöhnte sich an sie und liebte sie, so daß er darüber des Hofes und seiner schönen Frauen ganz und gar vergaß?

Es schoß ein scharfer, schneidender Blick aus den eingesunkenen Augen der Herzogin zu ihrer Nichte herüber, als diese ihre Fragen im Tone der Unwiderleglichkeit spöttisch über ihre Lippen gleiten ließ, und Renatus wußte nicht, welche von den Beiden, ob die Greisin oder das junge Mädchen, ihm in diesem Augenblicke mehr mißfiel. Aber das Antlitz der Herzogin gewann gleich wieder seine Ruhe, und mit der freundlichen Gelassenheit, die sie äußerlich fast immer zu bewahren wußte, fragte sie: Und wer ist es, dem Du diese Mittheilungen dankst?

Dem Herrn Abbé von Montmerie! entgegnete die junge Gräfin mit einer so geflissentlichen Deutlichkeit und Langsamkeit, als wolle sie damit etwas Besonderes sagen oder errathen lassen. Die Herzogin ging jedoch, während ihr Gast sich von dem ihm unverständlichen Vorgange wie von der unverkennbaren Feindseligkeit, welche zwischen den beiden Frauen herrschte, unheimlich berührt fand, leicht darüber fort.

Da sehen Sie die Ungeduld und auch den Unbedacht der Jugend, mein lieber René, sagte sie. Wir alten Leute sind nicht schnell, wie sie. Wir müssen uns langsam in unsere Erinnerungen[212] versenken, wir spinnen sie mühsam zu einem Ganzen zusammen, und wenn wir unser kleines Kunstwerk zu vollenden denken, fährt irgend eine unvorsichtige junge Hand dazwischen und zerreißt und verwirrt uns unsern Faden, daß wir ihn nicht wiederfinden können.

Sie legte ihren Fächer aus der Hand, zog die kleine, mit Brillanten besetzte Tabacksdose aus der Tasche, nahm mit gespitztem Finger eine Prise und schellte, damit der Diener ihr zu ihrem Zimmer leuchte.

Es war vergebens, daß Renatus sie ersuchte, ihm den Schluß der Erzählung nicht zu entziehen. Sie vertröstete ihn auf einen anderen Tag, wiederholte, daß sie nicht mehr in der Fülle ihrer geistigen Mittel lebe, daß sie Rücksicht und Schonung nöthig habe, und forderte, obgleich sie sich noch immer mit voller Freiheit bewegte, den Arm Eleonorens, sich darauf zu stützen, als sie, ihrem jungen Gaste unter ihres Hauses Dach eine angenehme Ruhe und gute Träume wünschend, den Saal verließ.

Es währte jedoch lange, ehe der Freiherr die ihm gewünschte Ruhe finden konnte. Die Menge der Eindrücke, welche er heute in seiner nächsten Umgebung erhalten hatte, hielt ihn wach. Er konnte nicht aufhören, darüber nachzudenken, wie in einem Mädchen von Eleonorens Alter, bei einer so bevorzugten Lebenslage, sich eine solche Herbigkeit habe entwickeln können und wodurch in das Verhältniß zwischen ihr und ihrer Tante jene Bitterkeit gekommen sei, die Eleonore selbst vor dem fremden Manne entweder nicht verbergen wollte oder nicht zu verbergen vermochte. Aber der rechte Aufschluß bot sich ihm nicht dar, und in jener Aufregung, welche uns immer befällt, wenn wir nicht wissen, ob wir die Personen, die uns anziehen, lieben oder hassen sollen, schlief er endlich überreizt und sehr ermüdet ein, auch im Traume noch von wirren, unzusammenhängenden Vorstellungen und Gebilden hin und her geworfen.[213]

Am folgenden Morgen sah er die Frauen des Hauses nicht, da der Dienst ihn auswärts beschäftigt hielt. Später, als er sie aufzusuchen kam, vermied die Gräfin ihn eben so absichtlich, als sie ihm Anfangs entgegengekommen war. Nicht einmal die Möglichkeit vergönnte sie ihm, sie um die Gründe ihrer veränderten Haltung zu befragen. Sie schien überhaupt wenig Gefallen an der Geselligkeit zu haben, denn sie zog sich, wenn die Empfangsstunde der Herzogin gekommen war, häufig aus dem Saale in ihre eigenen Zimmer zurück, und ihre Tante versuchte es dann auch nicht, sie neben sich und in der Gesellschaft festzuhalten.

Renatus wußte nicht, was er thun sollte. Bisweilen fühlte er das Bedürfniß, der Gräfin zu schreiben und sich zu erkundigen, womit er ihre gute Meinung verscherzt habe, dann wieder schalt er sich eitel und thöricht, daß er Eleonorens Fortbleiben überhaupt in irgend eine Verbindung mit sich zu bringen wagte. Wenn er sich schuldig glaubte, dachte er mit Bewunderung, ja, mit Entzücken an die Gräfin; wenn er die Kälte, welche sie ihm bewies, auf Rechnung ihrer launenhaften Selbstwilligkeit stellte, zürnte und grollte er ihr, aber immer blieb sein Sinn mit ihr beschäftigt, wie das neue Leben, das er führte, seit er in das Haus der Herzogin gekommen war, ihn auch gefangen nahm und von allen seinen bisherigen Erinnerungen und Wünschen abzuziehen geeignet war.

Renatus hatte noch nie an einem Hofe gelebt und noch kein weibliches Wesen gekannt, das mit der Gräfin Haughton zu vergleichen gewesen wäre. Das Erfahren und Erleben wurde für ihn fast überwältigend, und doch sagte er sich an jedem Tage, daß er jetzt erst zu leben anfange, daß ihm jetzt erst eine Jugend aufgehe, wie sein Vater sie genossen habe, wie sie eines Mannes von seinem Stande würdig und wie sie ihm durch die Ungunst der Verhältnisse viel zu lange vorenthalten worden sei.[214]

Da er in den Stürmen der Revolutionszeit geboren und erwachsen war, hatte man ihn, mit dem Hinweise auf die Unbeständigkeit aller irdischen Macht und Güter, zu einer gewissen Selbstbeschränkung erzogen und es waren, ohne daß man es beabsichtigt oder er selbst es gemerkt hätte, doch viele der Anschauungen an ihn herangekommen, welche als ein neues Menschheits-Evangelium die Welt umzugestalten begonnen hatten. Nun befand er sich mit Einem Male auf einem Boden und inmitten einer Nation, in welchen die Lehren von der Freiheit und Gleichberechtigung aller Menschen tiefer als irgendwo sonst in das Volksbewußtsein eingedrungen, und von Wirkungen und Thaten so zerstörender und durchgreifender Art gefolgt gewesen waren, daß man die erneute Herrschaft der früheren Weltanschauung und die Wiederkehr der alten Staatsverhältnisse und Zustände für immer unmöglich hätte halten müssen. Trotzdem thronte der achtzehnte Ludwig wieder in den Tuilerieen, doch waren den vertriebenen und wieder heimgekehrten Adelsgeschlechtern, doch waren der katholischen Geistlichkeit ihre Titel und Würden und Besitzthümer zurückerstattet worden, und von den Beamten des Kaiserthums wie von den einstigen Republikanern drängten sich große Massen an die neue Gnadensonne heran, und gar viele von den Bekennern der Vernunft-Religion füllten jetzt wieder die Kirchen, in denen man die Dankes-Hymnen für die Niederwerfung der Revolution und für die Besiegung des Bonapartismus ertönen ließ.

Konnte es da befremden, wenn ein werdender, ein in sich noch in keiner Weise gefestigter Charakter sich der, seinen eigenen Anschauungen nahe verwandten Meinung der Gesellschaft anschloß, in der er sich bewegte? Und was hatte Renatus aus seinem eigenen Geiste oder seiner eigenen Erfahrung dagegen einzuwenden, wenn die Herzogin und ihre Freunde den Ausspruch des Kaisers Alexander auch zu dem ihrigen machten,[215] wenn sie die ganzen Ereignisse der letzten dreißig Jahre als einen wilden Strom betrachteten, dessen Wassern man nur die Zeit zum Verlaufen habe gönnen müssen, damit das Dauernde, das allein Würdige, die Herrschaft des Adels und der Kirche in ungetrübter Ruhe wieder zur Erscheinung und zu ihrer Geltung habe kommen können.

Der junge Freiherr hatte bisher mit Stolz daran gedacht, daß auch er, so viel an ihm gewesen sei, zum Sturze Napoleon's und der Napoleoniden, zur Wiederherstellung der alten, legitimen Herrscher beigetragen habe; aber der Ton, die Art und Weise, in welcher man in der französischen Hofgesellschaft von dem Ueberwundenen sprach, verleidete ihm allmählich seine Siegesfreude. Nicht die Niederwerfung des Eroberers war das Verdienst, das man hier schätzte, sondern die zuversichtliche Treue, mit welcher man auf den endlichen Untergang Bonaparte's und auf den Sieg des angestammten Königshauses wie auf eine Naturnothwendigkeit gerechnet und gewartet hatte. Nicht die That war es, die man hier ehrte, sondern der Glaube und das Erdulden, und für dieses Letztere sich zu entschädigen, war alles, worauf man jetzt noch dachte.

Feste folgten den Festen, die Verbindungen des jungen Freiherrn dehnten sich bei denselben immer weiter aus, und seine Bewunderung der französischen Gesellschaft, sein Geschmack an dem Hofleben wuchsen, je mehr er in demselben heimisch wurde. Weil er von frühester Kindheit an zu einer strengen Unterwürfigkeit unter den Willen der Kirche und unter den Willen seines Vaters und Erziehers angehalten worden war, hatte er sich gewöhnt, sich selbst und seinen Werth nach dem Maßstabe zu messen, der ihm von Andern, gleichsam von außen her, dargeboten wurde. Er fand sich also sehr leicht darein, ja, es dünkte ihn eigentlich nur natürlich, daß die Gesellschaft, in die er jetzt eingetreten war, einander nach der Bedeutung[216] schätzte, welche der König und die königliche Familie den einzelnen Personen zuerkannten, und er stand sich gar wohl bei dieser neuen Ansicht, denn man nahm ihn um seiner Beschützerin willen am königlichen Hofe günstig auf.

Er war ein schöner Mann geworden, er tanzte den Walzer, den die Fremden in Frankreich eingeführt hatten, mit Meisterschaft, seine jugendliche Genußfähigkeit, selbst seine Schüchternheit empfahlen ihn den Frauen. Dazu war er ein trefflicher Reiter, wußte die Waffen wohl zu brauchen, und weil er sich der ihn umgebenden Meinung gefügig zeigte, gewann er sich auch die Gunst der Männer. Es währte also gar nicht lange, bis man der Herzogin von vielen Seiten das Lob ihres jungen Schützlings wiederholte, und diese blieb nur sich selbst getreu, wenn sie Renatus, den sie in ganz eigensüchtiger Absicht bei sich aufgenommen hatte, werth zu halten und auszuzeichnen anfing, sobald er eine vortheilhafte Erwerbung für ihre besondere Hofhaltung zu werden versprach.

Kein Tag verstrich, an welchem sie sich nicht eine Weile in einsamem Zwiegespräche mit ihm beschäftigte. Sie machte sich eine Pflicht daraus, seine Ausdrucksweise in der fremden Sprache zu verbessern, sie wies ihn an, wie er sich gegen die verschiedenen Personen, mit welchen sie ihn in Berührung brachte, zu verhalten habe, und wenn er sich ihr dankbar und allen ihren Anordnungen gehorsam erwies, rief die Herzogin oft seufzend aus: Ach, warum hat der Himmel mir es versagt, in meiner Nichte ein so weiches Herz zu finden! Warum ist es mir auferlegt, kaltem Starrsinne zu begegnen, wo ich so viel Liebe säete und für die letzten Tage meines Lebens Liebe zu ernten hoffte!

Sie hielt ihrem neuen Schützlinge dann ihre Hände hin, sie drückte einmal sogar einen Kuß auf sein schönes, blondes[217] Haar, da er sich neigte, ihre Hand an seine Lippen zu ziehen, und gerade, daß er sich sagen mußte, wie hart und ungerecht er, von Eleonoren dazu verleitet, an dem ersten Tage die Herzogin zu beurtheilen geneigt gewesen war, gerade das befestigte seine Ergebenheit für die Greisin und wendete seine Empfindung von Eleonoren ab, so oft er die eisige Zurückweisung bemerkte, mit welcher die Gräfin die Freundlichkeit der Herzogin vergalt.[218]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 6, Berlin 1871, S. 205-219.
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