Achtes Kapitel

[117] Für die Zeiteintheilung der Erwachsenen, welche ihre Tage zu Wochen, Monaten und Jahren ansammeln, und nach diesen, wie der Kalender es lehrt, vor- und rückwärts zählen, hat das Kind lange Jahre hindurch weder die Fähigkeit noch den Sinn. Es rechnet nach den Jahreszeiten und nach seinen Festen, und wer ihm diese letzteren zu vermehren weiß, kommt seinem Gedächtniß ungemein zu Hilfe, während man dem Kinde dadurch zugleich den dunkeln Horizont seiner Erinnerungen und seiner Zukunft mit lichten Sternen erhellt. An Festen aber waren wir sehr reich.

Neben den Geburtstagen und dem Hochzeitstag der Eltern, an denen immer Gesellschaft im Hause war, und für die wir von früh auf Etwas lernen und thun mußten, hatten wir unsere eigenen Geburtstage zu feiern, und außer den allgemeinen Feiertagen noch den ersten Schnee und den ersten Adventssonntag, als Merksteine für unsere Kindheit.

Der erste Schnee fällt aber in Preußen oft schon in der ersten Hälfte des Oktobers, und wir konnten an nebligen und regnigen Tagen manchmal gar nicht von den Fenstern fortkommen, weil wir immer hofften, heute[117] werde und müsse der erste Schnee fallen und dann werde am Abende, wenn der Vater herauf käme, die »große Schachtel« gezeigt werden, die wir eben nur einmal im Jahre, nur beim ersten Schneefall zu sehen bekamen.

Ich glaube kein egyptischer Priester hat jemals sorgfältiger auf das Steigen des Nils geachtet, als wir Kinder auf den Fall des ersten Schnees. War das Jahr mild oder trocken, ließ der Schnee auf sich warten, so reichte das leiseste Flöckchen in der Luft dazu hin, uns alle mit dem Ausruf: es schneit! in die Wohnstube zu treiben. Aber das half uns gar Nichts, und mit der Weisung, daß solch ein Gekrümel in der Luft nicht zähle, und daß es ordentlich schneien müsse, ehe die Schachtel erscheinen könne, wurden wir zu neuem Warten, zu neuem Hoffen, und dadurch zu erhöhter Freude gesteigert, wenn dann wirklich die weißen dicken Flocken in reicher Fülle von dem dunklen Himmel niederfielen, wenn die schwarzen durchregneten Straßen, wenn die Dächer und die Wolme und die Bleche vor den Fenstern sich dick mit Schnee bedeckten, aus dessen weißem Glanze uns die Aussicht auf die ersehnten Herrlichkeiten entgegenblinkte.

Ist's bald sieben Uhr? fragten die Kinder dann den ganzen Nachmittag, während zum erstenmale in dem Jahre die Aepfel zum Braten in die Röhre gelegt wurden, und ihr Schmoren und ihr Duft die beginnende Feier verkündeten. Die Zeit wurde uns immer erschrecklich lang, aber nicht eine Minute davon wurde uns erlassen, und erst um sieben Uhr gingen wir hinunter, wo die Eltern dann schon die »Schachtel« herausgenommen und auf den Tisch vor dem Sopha hingestellt hatten.[118]

Und was war, was enthielt diese Schachtel, auf die wir uns durch ein ganzes Jahr hindurch freuten, die wiederzusehen mir Vergnügen machte, als ich schon zwölf, dreizehn Jahre alt und sehr verständig war, und aus welcher irgend ein Stück vor Augen zu bekommen, mir heute das Herz mit großer Rührung füllen würde?

Die Schachtel war nichts als eine kleine Seitenschieblade aus dem Sekretair meines Vaters, und sie enthielt Nichts als einige Angedenken, welche er darin aufbewahrte. Es lag darin ein rothes Maroquinbuch, in dem unsere Geburtstage, unsere Krankheiten, der Anfang unseres Schulbesuchs – mit einem Worte die Hauschronik verzeichnet war. Es lagen darin in goldenen Kapseln die Bilder meiner Eltern als Brautleute gemalt, ein Hochzeitscarmen meiner Eltern, ein grünseidener, mit einer Inschrift versehener Vorhang, der unser Bild verhüllt hatte, als die Mutter es dem Vater zum Geburtstag geschenkt. Es lagen darin einer jener silbernen Becher, die zum Andenken der Schlacht von Kunersdorf aus Rubeln gefertigt worden waren; es lagen darin Gedichte, welche August Lewald bei meinem ersten Geburtstage an die Eltern gerichtet, desgleichen Brieftaschen, Börsen, Uhrbänder, welche Schwestern und Bekannte meinem Vater gehäkelt und gestickt und die er nie getragen hatte, – kurz es lagen Kleinigkeiten darin, wie jede nur einigermaßen bemittelte Familie deren ähnliche besitzt, es lag ein Schatz darin, den jede Familie sich für ihre Kinder ansammeln kann, wenn sie den Sinn hat, ihren Kindern auf die leichteste Weise unvergeßliche Freuden zu bereiten.[119]

Unsere ganze kleine Vergangenheit wurde uns von den Eltern vor dieser Schieblade unwillkürlich rekapitulirt. Wir hörten es mit Entzücken, an welchem Tage und in welcher Stunde wir geboren worden waren. Wir amüsirten uns damit, wie schlecht wir noch im vorigen Jahre die Gratulationsgedichte zu der Eltern Geburtstagen geschrieben, wir lernten die Jugendfreunde und Bekannten der Eltern an den kleinen Angedenken kennen, und was mehr als dies Alles war: wenn wir die ersten Bratäpfel verzehrten, hatten wir das Bewußtsein, ein großes Fest gefeiert zu haben, und fingen in aller Stille an, uns schon wieder auf den ersten Schnee des nächsten Jahres zu getrösten.

Unsere Freude an dem ersten Adventssonntage hatte einen noch viel geringeren Anlaß. Sie beruhte auf einem kleinen Spielzeug, welches aus zwei, auf grobe Holzsplitter gesteckten vergoldeten Aepfeln bestand, die mit ein Paar Sträußchen von Buxbaum und einem oder zwei aus grobem Thon geformten Vögelchen verziert waren, welche aber nur die Phantasie von Kindern für Vögel zu halten im Stande war. Die ganze Pyramide kostete vielleicht sechs Pfennige, aber – und darauf beruht ein großer Theil der Freude in dem Kinde – wir liebten sie, weil sie nur in der Adventswoche zu kaufen war, weil wir sie alle Jahre zum ersten Advent geschenkt bekommen hatten, weil wir sicher waren, daß man sie uns immer wieder schenken würde, und weil sie uns auf solche Weise überhaupt zu einem Sinnbild der herannahenden Weihnachtszeit geworden war. Sie war uns eine wundervolle Verkündigung, und der Engel,[120] welcher mit seinem Lilienstengel vor der Jungfrau erschien, um ihr die Geburt des Erlösers zu verkünden, konnte sie nicht glücklicher machen, als uns der Anblick unserer Eltern, wenn sie Abends, vom Ausgehen heimkehrend, uns die ersten Pfeffernüsse und die Aepfelbäumchen in das Zimmer brachten. Es umfloß sie ein wahrer Goldglanz von Hoffnungen, Alles, was wir erwünschten und erwarteten, trat in unsern Gesichtskreis, und nun, von diesem ersten Adventssonntage ab, fingen wir zu zählen an, bis endlich mit dem Weihnachtsabende die helle Glückessonne für uns aufging, deren Strahlen uns durch das ganze Jahr nicht zu leuchten aufhören sollten.

Die Kinder haben einen ganz ausgesprochenen Hang für das Bestehende, für das ihnen Bekannte, und wer von ihnen sagt, daß sie am Wechsel Freude finden, hat ihr Wesen nicht tief beobachtet, nicht recht erfaßt. Denn wie jedes Alter die Neigung für das ihm Angemessene in sich trägt, so hat das Kind, welches nur durch häufige Wiederholung derselben Gegenstände Etwas lernen kann, auch Freude an der Wiederholung; und unverdorbene Kinder ziehen deshalb das Spiel, welches sie oft gespielt haben, dem neuen Spiele in der Regel vor. »Ach! das haben wir noch nie gespielt!« kann man von Kindern überall als Ablehnung eines neuen Vorschlags sagen hören.

Auch wir hatten eine große Beharrlichkeit in unsern winterlichen Spielen, bei denen mein Vater ein für allemal die Hauptrolle übernahm. Er hatte, wie er mit mir die Märchenlust theilen konnte, überhaupt trotz seines Ernstes die Gabe, ein Kind mit seinen Kindern zu sein. Müde, arbeitsbeladen, oft auch sorgenvoll, vermochte er[121] es, so lange unsere Spiele währten, so völlig in uns aufzugehen, daß wir nie zu der Empfindung kommen konnten, er lasse sich zu uns herab, er spiele nur mit uns. Wem diese Gabe einmal fehlt, der ersetzt sie durch keinen guten Willen, die Kinder haben zu feine Fühlfäden dafür.

Was wir aber spielten? Meist Nachahmungen dessen, was wir gesehen hatten. Wir spielten Brettschneider, wenn wir auf einem Holzplatz gewesen waren. Man hatte uns zu einer Vorstellung von Kunstreitern mitgenommen, und wir machten den ganzen Winter hindurch die Kunstreiter. Hunderte von Malen habe ich von der Schwelle, welche aus der Wohnstube in das Kabinet führte, als Mademoiselle Rosalie meinen Salto Mortale gewagt und das Bravo meines Vaters erhalten, hundertmal haben meine Brüder den Trampolin-Sprung über eine Fußbank gemacht. – Wir sahen eine Menagerie mit einem dressirten Elephanten, und mein Vater lag allabendlich als unser Elephant flach auf dem Boden, ließ uns auf sich herumklettern, und hob uns mit seinen lieben Armen über sich fort, wie wir es den Elephanten mit seinem Rüssel an Kindern hatten thun sehen. Wir besuchten eine Bude mit sogenannten Wilden, und stürzten auf das Kommando meines Vaters eine lange Zeit hindurch an jedem Abende, mit aufgelöstem Haar, aus der Hütte hervor, die wir uns aus Sophakissen unter dem Klavier erbauten, um mit wildem Geschrei unsern Kriegstanz zu beginnen. – Aber all dies Spiel währte nicht eben lange. Es verstummte auf das erste Wort meines Vaters, und gerade seine kurze Dauer erhöhte das Vergnügen,[122] denn daß für die Größe des Genusses nicht die Masse desselben bestimmend sei, ist ein Grundsatz, welchen man bei der Erziehung nicht fest genug im Auge behalten kann.

Das Erziehen ist überhaupt eine Kunst. So wenig man es nach Regeln erlernen kann, ein Maler oder ein Dichter zu werden, so wenig kann man es aus Büchern oder durch allgemeine Regeln erlernen, ein guter Erzieher zu werden, wenn schon gewisse Grundsätze als allgemein gültige angesehen werden dürfen. Man muß die Anlage zum Malen, zum Dichten haben, um sich die Erfahrungen Anderer für die eigene Technik zu Nutze machen zu können; man muß selbst erzogen sein, oder sich selbst erzogen haben, um nachhaltig auf Kinder zu wirken, um die allgemein gültigen Grundsätze für den besondern Fall zurechtlegen zu können. Wie es aber unter den Künstlern glückliche Naturen giebt, die in ihrem Schaffen, im Bedürfniß des Momentes, sich die Technik und mit ihr die Regel erfinden, so giebt es auch Menschen, die von selbst erziehend wirken, weil sie sich selbst völlig durchgebildet und vollkommen entwickelt haben. Sie lehren und erziehen durch ihr bloßes Beispiel; sie finden für den augenblicklichen Gebrauch immer das Richtige; sie handeln nicht, wie man das oft zu sagen liebt, nach einem glücklichen Instinkte, sondern mit jener schnellen Entscheidung, welche eine Folge eben so schneller Erkenntniß und einer richtigen Beurtheilung ist. Zu diesen erziehenden Menschen gehörte mein Vater.

Ich glaube nicht, daß mein Vater, außer der Jean Paul'schen Levana, von der ich weiß, daß er sie früh[123] gelesen hat, sich mit Büchern über die Erziehung beschäftigt, oder sich sonst dem Gedanken besonders hingegeben hätte: was mußt Du thun, um Deine Kinder gut zu erziehen? Die Kinder müssen sehen, hören und gehorchen lernen! Das stand bei ihm fest; aber daß wir dieses lernten, machte sich ganz von selbst.

Da meine Eltern beide sehr ordentlich, meine Mutter von der größten Genauigkeit in allem ihren Thun und Treiben war, so herrschte in unserm Hause eine glänzende Reinlichkeit, und die geringste Sache, die nicht an ihrem Orte stand, die geringste Kleinigkeit, die auf einem falschen Flecke lag, mußte auffallen und fortgeräumt werden.

Hast du das Tuch nicht liegen sehen? Gehört das Band hieher? Das waren ganz natürliche Fragen, und wurde dann einmal die Entschuldigung vorgebracht, man habe es nicht gesehen, so folgte unabweislich die Entgegnung: man muß aber sehen! warum sehe ich denn Alles?

Befanden wir uns auf der Straße, und es fuhr ein Wagen an uns vorüber, auf dem Fässer oder Kisten geladen waren, so fragte mein Vater ganz kurz: was ist in den Fässern, Kisten, Ballen verpackt? Wußten wir es nicht, so hieß es: du hast solche Kisten aber schon bei dem Gewürzkrämer gesehen. Das sind Rosinenkisten! Du hast solche Ballen schon im Vorbeigehen an der Waage gesehen, das sind Baumwollballen! Du hast solche verkalkte Fässer schon oft gesehen, das sind Oelfässer; und wenn Du es nicht weißt, warum fragst Du nicht? Man muß die Augen offen haben, und Nichts ansehen, ohne zu denken und zu fragen, was es ist![124]

Eben so wurden wir gewöhnt, keinen uns fremden Ausdruck an unserm Ohr vorübergehen zu lassen, ohne nach seiner Bedeutung zu fragen, und weil wir auf diese Weise eben zur Achtsamkeit angehalten wurden, lernten wir von frühe auf eine Masse von Dingen, erwarben wir eine Menge von Begriffen, welche andere Kinder mühsam erlernen mußten, ohne daß wir wußten, wie wir dazu gekommen waren. Wie übel es aber ist, wenn man die Kinder nicht zeitig daran gewöhnt, nichts Unverstandenes ohne Frage an sich vorübergehen zu lassen, das habe ich an einer den gebildeten Ständen angehörenden Familie erfahren, in welcher man genöthigt war, den ganz erwachsenen Kindern die unter uns eingebürgerten Fremdworte mühsam und ausdrücklich zu erklären, die sie theils gar nicht zu benutzen verstanden, theils völlig widersinnig gebrauchten.

Das Gehorchen lernen verstand sich für uns eben so von selbst, wie die Uebung unserer Sinne und unserer Achtsamkeit. Wir sahen und hörten im Vaterhause keinen Ungehorsam und überhaupt nicht leicht einen Unfrieden oder einen Streit. In den ein und dreißig Jahren, welche die Ehe meiner Eltern dauerte, hat keines von uns Geschwistern je ein unfreundliches oder gar ein heftiges Wort von unserm Vater gegen unsere Mutter, keines je andere Worte als die der verehrendsten Liebe von der Mutter zu unserm Vater gehört. Sie war voll unermüdlicher Sorgfalt für ihn, er von der rücksichtsvollsten Zärtlichkeit für sie. Wir lebten in einer Atmosphäre der Liebe und der Eintracht, es geschah uns nur Gutes, wir mußten also wohl die Unterordnung unter[125] die Eltern und die Eintracht unter einander als etwas Natürliches empfinden und üben.

Mit dieser Liebe aber gingen ein strenger Ernst und eine feste Beharrlichkeit Hand in Hand. Wir wußten wie gern die Eltern uns Freude machten, wir wußten es aber auch, daß gegen meines Vaters Befehl kein Widerspruch gestattet war, ja ich möchte sagen, wir hatten die Vorstellung nicht, daß wir nicht unbedingt und ohne alle Frage gehorchen müßten. Gehorchte doch Alles im Hause dem Vater auf das Wort: unsere Mutter, seine Mitarbeiter im Geschäfte, seine Untergebenen, und die Dienstboten. Die Mutter nannte den Vater, wenn sie von ihm zu der Dienerschaft sprach, immer nur »der Herr!« – Und »der Herr will es!« »der Vater hat es gesagt!« das waren Aussprüche, welche für das ganze Haus die Unumstößlichkeit eines Gottesurtheils hatten.

Meines Vaters Redeweise war im Ganzen knapp und sehr bestimmt, sein Verkehr mit den Handlungsgehilfen, die ganz in unserm Hause lebten, nur auf das Sachliche gestellt; und obschon das in Preußen nicht mehr die allgemeine Sitte war, redete er unsere männlichen und weiblichen Dienstboten mit Er und Sie an, wenn er zu ihnen sprach. Aber gerade die kurze Bestimmtheit seines Ausdruckes machte es, daß er nicht leicht mißverstanden werden konnte, daß er also meist gut bedient war, und daß er für sein Theil äußerst selten in die Lage gerieth, Verweise zu geben, oder zu heftigen Aeußerungen zu kommen. Heftig gegen Frau und Kinder habe ich ihn nie gesehen, und Allen denen, welche ihm dienten, galt er für einen strengen, aber gerechten und[126] guten Herrn. Es sind übrigens meist die Unkultur und die Würdelosigkeit der Befehlenden, welche die schlechten Diener hervorbringen.

Ein Mann, welcher es dahin gebracht hat, daß seine Frau und seine Diener ihm vertrauensvoll gehorchen, hat es im Allgemeinen gar nicht mehr nöthig, seine Kinder noch besonders zum Gehorsam zu erziehen. Der Gehorsam war uns eingeimpft mit der Luft, die wir athmeten. Weil aber alle Tugend Sache der Uebung ist, und weil der Mensch, und vor allem das Kind, einer stetigen Zügelung gegen seine Aufwallungen und Launen bedarf, so war es feststehendes Gesetz, daß wir die Eltern nie anreden durften, ohne dem Worte Vater oder Mutter das Beiwort »lieber« oder »liebe« hinzu zu fügen. Unbedeutend wie diese Maßregel scheinen kann, ist sie von großer Wichtigkeit, und ich selbst habe in spätern Jahren ihren erziehenden Einfluß auf Andre hinlänglich erprobt. Wen ich mit einem freundlichen Worte angesprochen habe, dem kann ich in solchem Augenblicke nichts Unehrerbietiges oder Trotziges sagen; und die Form der Rede wird so zu der Schranke, hinter welcher Heftigkeit und Uebereilung zurückbleiben müssen, abgesehen davon, daß an und für sich Gewöhnung an bestimmte Formen eine Wohlthat für das Zusammenleben in der Familie ist. So war uns z.B. die Sitte, den Eltern, bei der Begegnung am Morgen, nach den Mahlzeiten und bei dem Schlafengehen die Hand zu küssen, so sehr zum Bedürfniß gemacht worden, daß es eine unserer Strafen war, wenn man uns diese Gunst entzog. Und selbst als meine Brüder bereits erwachsene Männer waren,[127] und der Eine als Assessor, der Andere als Arzt außerhalb Königsberg lebten, brachte jede Heimkehr in das Vaterhaus ihnen das alte Herzensbedürfniß mit, den Eltern, wenn sie sich von des Vaters Tisch erhoben, die Hand zu küssen. Waren dann Fremde gegenwärtig, so wehrte der Vater den Söhnen wohl mit einem: schämt Euch doch Ihr großen Menschen! – aber er lächelte dazu, und es denkt wohl noch mancher unserer Gäste freundlich an den Familiensinn unseres Hauses.

Mitten in alle der Liebe und dem Frieden nahm aber die Entwicklung der einzelnen Kinder ihren eigenen und nicht überall guten Weg.

Ich war sehr glücklich in der Schule, lernte leicht, kam schnell vorwärts, wurde bei den öffentlichen Schulprüfungen sehr gelobt, und gehörte zu den Kindern, welche wir – denn auch die Mädchenschulen erzeugen sich einen Jargon – die Paradepferde nannten. Bei den Prüfungen vor den Eltern, welche etwa alle anderthalb Jahre einmal statt fanden, konnte dem Ehrgeiz des Einzelnen aber viel weniger ein Genüge gethan werden, als bei den Besuchen, welche der in der preußischen Schulgeschichte berühmte Konsistorialrath Dinter ab und zu unserer Anstalt machte.

Den Konsistorialrath Dinter kannte von Ansehn jedes Kind der Stadt. Jedes hatte ihn gesehen, den mittelgroßen, breitschultrigen Mann, mit dem runden offenen Gesicht, das, obschon Dinter das Haupt etwas gebückt trug, mit seinen hellen Augen so freundlich aus dem langen grauen Haar hervorsah. Jeder kannte Dinters breitschooßigen, quäkerhaften, schwarzen Frack und die[128] schwarze Kniehose, die niemals fest gegürtet war, und also von dem Träger in kleinen Intervallen immer wieder in die Höhe gezogen werden mußte, was sehr komisch aussah, weil diese Bewegung ihm zu einer Art mechanischer Gewohnheit geworden war. Ein kleiner ganz verdrückter Hut und hängende Strümpfe vollendeten für die Vorstellung das Bild eines altmodischen Gelehrten; aber wer dem alten Dinter nur in die Augen gesehen, zu wem er nur einmal mit seiner hellen, klugen Freundlichkeit gesprochen hatte, der vergaß seine sonderbare Erscheinung, oder vielmehr, der gewann sie lieb. Alles, was man außerdem von ihm hörte, war ganz dazu gemacht, die Neigung der Kinder und der Jugend für ihn zu erwecken. Dinter war unverheirathet, trotzdem hatte er sich einen großen Hausstand geschaffen, denn er hatte allmählig zwölf mittellose Knaben in sein Haus aufgenommen, die er als seine Kinder hielt und erzog, und von denen er den einen später förmlich adoptirte. Es ist dies der in Königsberg lebende, als Arzt und Mensch gleich hoch geschätzte Doktor Gustav Dinter. Ueber die Art der Dinterschen Häuslichkeit, über die Beschäftigung der Knaben, die bei der gemeinsamen Lektüre am Abende Federn schleißen und ähnliche Handarbeiten machen mußten, während der Consistorialrath strickte, hatten wir Alle unzählige Anekdoten gehört, die theils wahr, theils erfunden sein mochten; aber das empfand Jedes von uns, daß er die Kinder lieb hatte, und das zog uns zu ihm hin.

Seine Art zu fragen kam der unseres Lehrers nahe, aber sie war immer mit Heiterkeit gepaart, und wenn Dinter zu loben oder zu tadeln hatte, geschah es stets[129] mit einer gewissen guten Laune, mit einem Humor, der uns um so besser gefiel, je weniger wir ihn beim Unterrichte sonst gewohnt waren. Als er das erstemal in unsere Anstalt kam, mag ich etwa drei Jahre in derselben gewesen sein. Ich mußte ihm meine Rechenkünste vormachen, die vortrefflich gelangen, wurde viel in der Geographie befragt, in der ich grade meinen ganz dummen Tag hatte, und mir eigensinnig auch von Herrn Ulrich nicht einhelfen ließ, so daß ich schlecht bestand, und dann mich erst wieder durch Französisch und Geschichte einigermaßen vor den Augen Dinter's zurecht zu setzen hatte. Herr Ulrich war nicht zufrieden mit mir, Dinter aber klopfte mir auf den Kopf und sagte: Nu! Dein Kopf hätt' auch besser auf 'nem Jungen gesessen! – Dann aber fügte er freundlich hinzu: wenn Du aber nur 'n mal eine brave Frau wirst, so ist's auch gut! –

Mit heißen Wangen und höchst aufgeregt kam ich an dem Tage aus der Schule zurück. Ich erzählte Alles was geschehen war, ich klagte mich an, daß ich Nichts gewußt hätte, aber ich verweilte doch noch länger auf dem Lobe, das mir ertheilt worden war, denn ohne es zu wissen, was er gethan, hatte der treffliche Mann einen meiner geheimen Schmerzen berührt – ich beneidete es schon lange allen Knaben, daß sie Knaben waren und studiren konnten, und ich hatte eine Art von Geringschätzung gegen die Frauen. So thöricht das an einem Kinde von neun Jahren erscheinen mag, und so unberechtigt es in meinem besondern Falle war, lag doch der Ursprung zu diesen Gedanken nicht in mir selbst. Von jeher hatten Fremde, wenn sie meine Fähigkeiten lobten,[130] mit einer Art von Bedauern hinzugefügt: wie Schade, daß das kein Junge ist! – Ich hatte also die Idee gefaßt, daß die Knaben etwas Besseres wären als die Mädchen, und daß ich selbst mehr und besser sein müsse, als die andern Mädchen. Als Vorbild war mir immer auch ein Knabe, jener Eduard Simson, hingestellt worden, und meine Mutter, welche von dieser falschen Richtung meines Wesens später gelitten hat, hatte selbst in der besten Absicht den Gedanken, daß Wissen die Hauptsache und alles Andere dagegen gering sei, in mir genährt und gepflegt.

Voller Liebe für uns Alle, hatte sie große Freude an meiner Begabung und an meinen Fortschritten. Sie war stolz darauf, ein so kluges Kind zu haben, sie setzte mein Wissen vor meinen Onkeln und Tanten gern in ein großes Licht, und weil sie selber ohne alle Kenntnisse war, überschätzte sie das Wenige, was ich bis dahin gelernt hatte, über alles Maaß. Ich dagegen machte, nachdem ich etwa anderthalb Jahre regelmäßig unterrichtet worden, die Erfahrung, daß ich mir für mein Lernen bei der Mutter gar keinen Rath mehr erholen konnte, und noch ehe ich mein achtes Jahr vollendet hatte, wußte ich thatsächlich auch mehr als meine Mutter. Hätte ich damals den Verstand eines erwachsenen Menschen gehabt, so würde ich eingesehen haben, durch welche vortrefflichen Eigenschaften dieser Mangel an Kenntnissen in der Mutter überwogen wurde. Weil dieser Mangel sie selbst aber auf das Tiefste drückte, weil sie, um mir zuzuwenden was ihr fehlte, mir den Besitz von Kenntnissen immer als das Höchste und als das größte Glück[131] hinstellte, so konnte es geschehen, daß ich meine Mutter unterschätzte, wie ich von ihr überschätzt wurde.

Lieb hatte ich dabei die Mutter von ganzem Herzen, aber ich hatte den Vater noch lieber, bei dem ich immer Rath und Hilfe, wenn auch viel häufigern und strengern Tadel als bei der Mutter fand. Der Vater las mit mir, der Vater spielte mit uns, und, obschon die Mutter ihr Leben für uns hingegeben hätte, hatte sie nicht jene sich nach außen kundgebende Zärtlichkeit, welche mein Vater besaß, und die, obschon sie immer gemessen blieb, und er sich ihr nicht oft überließ, für mich etwas Bezauberndes hatte, weil sie mir als Entgegnung meiner eignen Zärtlichkeit ein Bedürfniß war.

Lobte meine Mutter meine Fortschritte, so dachte ich, sie verstehe es doch im Grunde gar nicht. Tadelte sie mich über einen Hang zur Unordnung, der sich bei mir einstellte, oder über meine Heftigkeit, so meinte ich, sie thue mir Unrecht, und das sei auch Alles ganz gleichgültig, wenn man nur recht viel lerne und wisse. Und da die Mehrzahl der Frauen, welche ich damals kannte, auch nicht viel unterrichteter waren, als meine Mutter, so setzte sich eben die Vorstellung in mir fest, die Frauen seien geringer als die Männer, und für sie sei es ganz gut, daß sie auf Ordnung sähen und Haus hielten. Ich aber wolle lernen wie ein Mann, und ordentlich zu sein hätte ich gar nicht nöthig. Eine unklare Erinnerung an eine Frau, die, wie ich hatte erzählen hören, damals Professor in Bologna gewesen war, schwebte mir dabei vor, und trug noch dazu bei, mich vollends zu verwirren.

Meinem Vater entging die Ursache dieser schiefen[132] Richtung keinesweges, und je mehr er Grund hatte, die Mutter zu lieben und zu verehren, um so entschiedener trat er jener Richtung entgegen. Ich besitze einen Brief, den er mir noch vor Beendigung meines achten Jahres aus Warschau schrieb, wohin seine Geschäfte ihn für einige Zeit gerufen hatten. Ich setze ihn hieher, weil er mit meinem damaligen Zustande zugleich die Art und Weise darthut, in welcher der Vater mit mir verkehrte.


Warschau den 11. Oktober 1818

Mittwoch.


»Meine liebe Fanny! Dein liebes Briefchen von heute vor acht Tagen hat mir viel Freude gemacht; es war recht nett geschrieben, und nicht so sehr kurz, als das früher empfangene.

Die gewünschten Karten werde ich Dir mitbringen, und daß Du abermals ein Zähnchen verloren hast, ist recht gut, da Du dieselben wechseln mußt. –

So wie sich aber Deine Zähne verändern oder wechseln, so wird noch Alles an Dir wechseln: Dein Urtheil über das, was um Dich her vorgeht, Deine Gesinnungen darüber, Deine Kenntnisse, genug Alles! –

Du mußt nun aber, wenn Du ein ordentliches Mädchen werden willst, sehr auf Dich aufpassen, daß dieses Wechseln immer zu Deinem Besserwerden beitrage. –

Bei Deinem Urtheil über das, was um Dich vorgeht, mußt Du nur immer berücksichtigen, wer die Handelnden sind, und es nie vergessen, daß ältere Personen als Du in der Regel jede Sache besser verstehen als Du. Siehst Du nun gleich selbst ein, daß Du einmal Etwas besser weißt, als eine ältere Person, so liegt[133] solches gewiß nur daran, daß Jene nicht Gelegenheit gehabt hat, es zu lernen; denn sonst würde sie es unbedingt besser wissen als Du, und Du mußt daher immer recht bescheiden sein.

Mit Demjenigen was Deine Eltern Dich jetzt und später lehren lassen, mußt Du nie prahlen. Du würdest schwerlich Etwas wissen, wenn Du keine Lehrer hättest, und überdem kannst Du alle Deine Zeit darauf verwenden Etwas zu lernen, während andere Kinder Deines Alters schon irgend Etwas thun müssen, um ihren Eltern nützlich zu sein, etwa mit kleinen Kindern spielen oder irgend Etwas der Art. Deine Lage ist also sehr glücklich; Du kannst alle Deine Zeit darauf verwenden, um ein gutes und liebes Kind zu werden. –

Ich liebe Dich, mein liebes Kind! wie alle meine Kinder recht sehr, und eben weil ich Euch liebe, wünsche ich, daß Ihr alle recht gute Kinder sein möget. Du bist die Aelteste, mache Du nur den Anfang, und die Uebrigen werden Deinem Beispiel folgen.

So oft Du kannst spiele mit den Kinderchen, und da Du auch noch ein Kind bist, so ist auch für Dich das Spielen noch sehr dienlich und für Dich passend. Wie wird es mich freuen, wenn ich bei meinem Zuhausekommen erfahren werde, daß Du immer artig gewesen!

Grüße Herrn Ulrich und Deinen Musiklehrer vielmal von mir, und gieb Klärchen und dem Heinrich einen herzlichen Kuß von ihrem und Deinem Vater. Den beiden andern Brüdern schreibe ich apart.«


Es war das die Weise freundlichen Ernstes, in welcher der Vater immer mit uns verkehrte, wenn er[134] nicht mit uns spielte, aber der Ton seiner Stimme, der Blick seines Auges und seine Miene waren dabei so gütig, und so voll Leben und Seele, daß wir wie im Sonnenscheine lebten. Lob, wirkliches Lob erhielten wir sehr selten von ihm. Bei den größten Anstrengungen, welche ich machte, bei den guten Zeugnissen, die ich immer nach Hause brachte, hörte ich selten etwas Andres, als »das ist ordentlich, so habe ich's gern!« und als einmal Fremde dem Vater zu unserm Fleiß und zu unseren Fähigkeiten gratulirten, sagte er gelassen: es sind ja auch meine Kinder! – Er legte sich also das ganze Verdienst unserer Begabung bei, und wir hatten im Grunde auch wirklich die Empfindung, uns bei ihm dafür zu bedanken, daß wir begabt und fleißig waren.

Mich in meinen Grillen für das Studiren und gegen die weiblichen Beschäftigungen zu bestärken, war mein Vater übrigens gar nicht der Mann, und das um so weniger, als meine Unordnung zu einer Art von Glaubenssache bei mir geworden war. Ich glaubte, es sei hübsch, sich um Kleinigkeiten nicht zu kümmern, und ich habe meiner Mutter in dieser Beziehung eine unendliche Mühe gemacht, und habe ihr in diesem Punkte meine ganze Erziehung zu danken. Durch Jahre und Jahre ist sie es nicht müde geworden, mich an jedem Abend selbst meinen Bücher- und Spielschrank aufräumen zu lassen, mich immer wieder zur körperlichen Achtsamkeit zu ermahnen, und mich im Hause, so gut es sich thun ließ, zu den Dienstleistungen anzuhalten, an denen meine Achtsamkeit und Pünktlichkeit sich üben sollten. – Die strenge Ordnung in der Schule kam ihr[135] dabei zu Hilfe, aber auch dort gab es plötzlich Klagen über schlechtes Schreiben, über fehlende Löschblätter, über Dintenflecken und ähnliche Nachlässigkeiten, und erst als irgend welche neue Gedanken mir die Erinnerung an den weiblichen Professor aus dem Sinne gebracht hatten, fand ich mich allmählig wieder zur Ordnung zurück. Ich war in der That mit Bewußtsein und mit Absicht, ja recht eigentlich aus Dünkel, unordentlich geworden.[136]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 1, Berlin 1871, S. 117-137.
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