Zwölftes Kapitel

[203] In einem solchen Augenblicke dumpfer Betrübniß befand ich mich nach dem von mir nicht angenommenen Heirathsantrage. Meine Mutter war verstimmt und besorgt, aber sie und ich sprachen mit einander kein Wort von dem Vorgefallenen. Mein Vater war gleich wieder in das alte Gleis gekommen, ihn brachte Nichts leicht aus seiner Fassung. Er verkehrte mit mir ganz wie früher, nur ich konnte mich nicht wieder zurecht finden, weil ich mir immer sagen mußte, er hätte es doch lieber gesehen, wenn ich gegangen wäre, wenn er mich nicht mehr um sich gehabt hätte. Meinen ältern Geschwistern that ich leid. Anderseits aber sahen sie die Betrübniß der Mutter, ich selber erzählte ihnen, daß der Vater sich bis zu einer Bitte gegen mich herabgelassen und daß ich dennoch nicht nachgegeben hätte; das that ihnen für den Vater wehe. Es kam ihnen, ja es kam mir selber unbegreiflich vor, wie ich das zu thun vermocht hatte. Sie waren mit sich nicht im Klaren, aber sie waren, soweit sie schon eine Meinung haben konnten, doch mehr oder weniger auch der Ansicht, daß ich wohl hätte nachgeben und heirathen können, weil ja so viele meiner Bekannten sich in solcher Weise verheirathet hatten, und weil ich[203] doch, nach den üblichen Begriffen, in einer für ein Mädchen nicht vortheilhaften Stellung war.

Leopold, der mich geliebt hatte, war gestorben, und Niemand wußte eigentlich recht, weshalb wir uns die letzten Jahre vor seinem Tode nicht mehr gesehen, und ob er sich nicht vielleicht freiwillig von mir zurückgezogen hatte. Heinrich Simon, den ich liebte, hatte nur Freundschaft, oder wenigstens nicht die Art der Liebe für mich, die es ihm zur Nothwendigkeit gemacht hätte, mich zur Frau zu nehmen; und daß sich noch viele Bewerber um ein Mädchen von fünfundzwanzig Jahren finden würden, das so ausschließlich mit dem Gedanken an einen Andern beschäftigt war, dazu gab es keine sonderliche Aussicht. Man nahm also in der Familie an, ich würde eine alte Jungfer werden, und ich selbst war davon überzeugt. Mit sechszehn Jahren in die Gesellschaft eingetreten, kam ich mir und meinen Bekannten nicht mehr jung vor. Ich hatte neun Jahre auf den Bällen getanzt, es waren ein paar Generationen junger Mädchen und Männer an mir vorübergegangen, die ich als Kinder gekannt, während ich schon für erwachsen gegolten hatte. Meine Freundinnen hatten sich zum großen Theil verheirathet, sie waren die Einen reizender und vermögender, die Andern nur auf ihre Versorgung bedacht gewesen, ich war übrig geblieben. Mich dem neuen Nachwuchs zuzugesellen, war ich zu ernsthaft. Ich hatte immer nur mit Personen verkehrt, die älter gewesen waren als ich, und so schloß ich mich denn jetzt nur noch an ältere Frauen und Männer an, und entfernte mich dadurch nur noch weiter von der Jugend. Mit fünfundzwanzig Jahren galt ich für alt,[204] und hielt ich mich für alt! Es war der Mangel an einem Lebensberuf, der das verschuldete.

So gingen meine Tage hin. Die große Liebe, welche die Eltern und uns Kinder unter einander verband, half über das Unbehagen des Augenblickes fort, ich übernahm wieder meinen Wirthschaftsmonat, ich bemühte mich gut und dienstbar zu sein, um meine Anwesenheit im Hause wohlthuend zu machen; aber ich konnte das Gefühl nicht los werden, daß ich eben für diese Anwesenheit um Entschuldigung zu bitten habe, und die Traurigkeit, welche dies Gefühl in mir erweckte, mag mich gewiß nicht liebenswürdiger gemacht haben. Ob ich berechtigt war, so zu empfinden, ob Jede an meiner Stelle so empfunden hätte, will ich unerörtert lassen. Für mich stand die Thatsache fest und lastete auf mir, obschon die Männer in der Familie, der Vater und die Brüder, bald Mitleid mit mir fühlten, und mir noch mehr Liebe zuwendeten, als sie mir vorher bewiesen. Sie konnten ermessen, was mich drückte, der Mutter und den noch sehr jungen Schwestern mußte das Verständniß dafür fehlen.

Etwas thun, etwas Ersprießliches vornehmen und die Ueberzeugung gewinnen, daß ich Etwas für den Vater und für die Familie schaffe, wollte ich doch um jeden Preis, und so kam ich eines Tages auf den Einfall, mir ein kleines Buch zu machen, in welchem ich mit peinlicher Sorgfalt verzeichnete, wie viel Taschentücher ich an dem Tage gesäumt, wie viel Paar Strümpfe ich gestopft, was ich überhaupt für die Familie mit Nähen, Schneidern, Musikunterrichtgeben geleistet hatte, und mir dies nach seinem Geldwerthe am Ende des Monates zu[205] berechnen. Klein wie die Summen waren, verschafften sie mir doch eine gewisse Genugthuung, aber die Rathlosigkeit meiner damaligen Lage trat mir klar vor Augen, als ich einmal in viel späteren Jahren das unglückliche kleine Buch wieder zu Gesichte bekam, und das lange Register der genähten Küchenhandtücher und der gezeichneten Strümpfe, bei Groschen und Pfennigen berechnet, übersah.

Daß ich mich als Schriftstellerin versuchen, daß ich mir als Uebersetzerin eine Thätigkeit, einen Broderwerb, und damit die Möglichkeit freier und völliger Entwicklung schaffen könne, daran muß ich wohl nie gedacht haben, denn ich erinnere mich nicht, in jener Zeit den geringsten derartigen Versuch gewagt zu haben. Mein Sinn war dafür zu gelähmt, es lagen auch solche Gedanken nicht innerhalb des Kreises, in welchem ich mich bewegte, und ich war wieder ganz und gar in das Familienleben und in die Ansichten meines Vaters eingebannt.

Trotz alledem aber hegte ich in gewissen Stunden in mir einen unzerstörbaren Glauben an die Zukunft, und mit ihm an ein ideales Leben, das weit ablag von der Sphäre, in welcher ich mich bewegte. In der Regel verschwieg ich das, und man war dann mit mir auch wohl zufrieden. Nur bisweilen wenn einerseits die Sehnsucht nach dem Entfernten, und andererseits das Verlangen nach freierer Bethätigung meiner Kräfte, die meist Hand in Hand in mir gingen, mich einmal übermannten, und ich, von der Lebhaftigkeit dieser Empfindungen hingerissen, ihnen Worte lieh, dann klaffte plötzlich der Riß zwischen mir und meiner Umgebung, zwischen meiner[206] Gegenwart und meinen Wünschen für die Zukunft auf, und dann gab es immer schmerzliche Scenen und Auseinandersetzungen, die wieder für eine geraume Zeit trübe Schatten über meine Tage warfen.

Es war seit längerer Zeit eingeführt worden, daß wir, wenn wir in der Stadt waren, zweimal in jeder Woche spazieren fuhren, damit die Mutter frische Luft genießen konnte. Im Winter kam dann um drei Uhr Nachmittags eine geschlossene Kutsche, in welcher man eine Stunde umherfuhr, im Sommer um sechs oder sieben Uhr, je nachdem mein Vater sich frei machen konnte, ein Stuhlwagen, auf dem die ganze Familie Platz hatte, und man suchte womöglich eines der nahe gelegenen Dörfer zu erreichen, um dort im Freien ein mitgenommenes Abendbrod zu verzehren. Wir langten nach solchen Fahrten natürlich erst im Dunkeln wieder in der Stadt an, und namentlich im Herbste erschienen mir dann gegen die scharfe, frische Luft, welche draußen geweht, gegen den weit ausgespannten hell funkelnden Sternenhimmel, die Atmosphäre in den schmalen Straßen, und die hohen, engen Häuserreihen immer sehr drückend und befangend.

Nun hatte es sich zufällig gefügt, daß wir mehrmals hintereinander ein Dorf besucht hatten, zu welchem der Weg durch den Stadttheil führt, den man Löbenicht nennt, und in welchem die Brauer wohnen. Die ganze Hauptstraße des Löbenicht, die Löbenichtsche Langgasse, lag immer von beiden Seiten voll Bierfässer, die ganze Luft roch nach geschrotetem Malz und saurer Hefe, überall gab es Dampf und Qualm, und während mir dies an[207] sich unangenehm war, so hatte ich von dem Stuhlwagen aus im Vorüberfahren bequem in die Parterre-Wohnungen der schmalen, hohen Häuser hineinblicken können, und die Bemerkung gemacht, mit welcher Regelmäßigkeit überall die Familien Abends in ihren Stuben auf demselben Flecke saßen. Der Vater rauchte, die Mutter strickte, die Kinder arbeiteten. Das war einmal wie allemale, und dazu waren die Fenster geschlossen; und grade über in dem Hause saßen sie ebenso, und daneben auch ebenso – es überfiel mich eine wahre Angst. Ich dachte, aus dieser Stube gehen sie zu Bett und schlafen acht Stunden, und morgen kommen sie aus der Schlafstube wieder in diese Wohnstube, und wenn das Glück gut ist, dann ist über zwei und drei und fünf Jahre das Alles ganz ebenso wie heute, nur daß die Kinder größer sind und vielleicht ein paar Kinder mehr an dem Tische sitzen. Und über eine Weile dann sterben sie, und denken doch auch auf der Welt gewesen zu sein und gelebt zu haben!

Meine Empfindungen und meine Gedanken blieben sich bei dem Anblick immer gleich; aber sie müssen einmal besonders stark gewesen sein, denn ich konnte sie nicht verschweigen und brach plötzlich in den Ausruf aus: »Herr Gott! wenn ich lebenslang solch' ein Dasein haben sollte, ich müßte verzweifeln!« – »Was das wieder für eine Aeußerung ist!« tadelte mein Vater. Ich bereute es innerlich auch schon, sie gethan zu haben, und die Sache war damit für den Augenblick abgemacht. Indeß irgend ein unglücklicher Zufall erinnerte bei dem nächsten Abendbrode noch einmal daran und es kam zu sehr peinlichen Erörterungen darüber.[208]

Mein Vater machte mir den Vorwurf, daß ich unberechtigte Ansprüche an das Leben erhebe. Meine Mutter, die sich sonst in dergleichen Verhandlungen mit mir nicht mischte, fühlte sich hier auf ihrem Grund und Boden, und meinte, es sei traurig, daß mir der rechte Sinn für das Familienleben abgehe. Mein ältester Bruder nannte das Stillleben, auf das wir im Löbenicht hingesehen hatten, die eigentliche Poesie des Familienlebens, und fand es höchst »gemüthlich«. Man fragte mich, wonach ich denn eigentlich verlange, ob ich meine, daß in den Salons der großen Welt mehr Glück zu finden sei? ob ich Pracht und Glanz und Reichthum haben müsse, um zufrieden zu sein?

Ich war dem Weinen nahe, und schüttelte immer nur den Kopf, um Nein zu sagen, während ich nach Fassung rang, denn es war eigentlich gar nicht abzusehen, weßhalb Alle eben jetzt und eben bei diesem Anlaß so unerbittlich über mich herfielen. Es geschieht aber überall so, im Leben des Einzelnen wie in der Welt, daß sich, wo eine Unzufriedenheit herrscht, im Stillen allmählig ein Brennstoff anhäuft, den dann ein kaum sichtbarer Funke zum plötzlichen Auflodern bringt, so daß alle Theile überrascht dastehen und kaum begreifen können, woher das Feuer gekommen sei, und wie es solchen Umfang habe erreichen können.

Ich versicherte, daß ich mit meinem Ausruf in dem Augenblicke wirklich nicht an mein Loos und an unser Haus gedacht hätte. Mir sei nur, gegenüber dieser dumpfen Glückseligkeit, das Goethe'sche Wort eingefallen: »Der Menschheit ganzer Jammer faßt mich an!« Ich läugnete[209] es aber nicht, daß ich mir ein Leben schrecklich denke, in welchem nach der täglichen Arbeit jeder Abend die gleiche Erholung, den Strickstrumpf und die Zeitung bringe. Ich könnte, sagte ich, diese Art Menschen um ihre Selbstzufriedenheit, um ihr Gefühl von Wichtigkeit, von Unentbehrlichkeit, das man ihnen ansehe, von Herzen beneiden, wenn ich es nur eine Stunde im Leben empfunden hätte!

Damit hatte ich allerdings die Wahrheit ausgesprochen, aber in Bezug auf meine persönliche Lage etwas durchaus Ungehöriges und mir Nachtheiliges gethan. Ich wurde meiner Mutter unangenehm dadurch, mein Vater mußte, seinen Grundsätzen nach, solche Aeußerungen in Gegenwart der jüngern Töchter durchaus tadeln, und ich sollte nun, um die Sache abzuthun, auf seine festgestellte Frage antworten: was ich mir denn eigentlich denke, und was ich wolle?

Das war ich nicht im Stande. Ich fing mitten in der Familie wie ein Kind zu weinen an. Alles war gegen mich, ich selbst war mit mir unzufriedener als je, und ich eilte mit stürzenden Thränen auf mein Zimmer, um mir das Herz frei zu schreiben.

Heinrich Simon hatte mir nämlich ein Jahr nach unserer Trennung ein Buch zum Geburtstag geschenkt, mit dem Vorschlag, ein Tagebuch daraus zu machen, und es mit einem Goethe'schen Motto eingeweiht. Den Nachtheil der Tagebücher für mich hatte ich in meinen ersten Jugendjahren kennen lernen, und also auch nicht wieder daran gedacht, ein solches zu führen. Ich schrieb daher nur einzelne Notizen, schrieb die kleinen Verse hinein, die ich hier und da zu den Geburtstagen meiner[210] Freunde machte, oder eine Bemerkung über ein gelesenes Buch, und kam endlich dahin, in Momenten besonderer Aufregung mir in dem Buche das Herz frei zu schreiben, wenn es mir nicht thunlich schien, meine Klagen an den Geber des Buches selbst zu richten.

Im Laufe von sechs, sieben Jahren haben sich auf diese Weise kaum hundert Seiten des kleinen Octavbandes gefüllt, und von diesen nehmen die Gelegenheitsgedichte und die ersten Mährchen, die ich erfunden, wohl mehr als die Hälfte ein. Die übrigen Blätter, nach denen ich jetzt zum Theil die Erlebnisse meiner Leidensjahre aufzeichne, sind durchweg ernst und traurig, und haben mich seltsam angeschaut, als ich sie jetzt wieder einmal aus ihrem alten Schiebfache hervorgeholt habe.

Mein Lieben und Denken und Leiden, das war in mir Alles einen Tag wie den andern, und dabei hatte ich beständig ein Schuldbewußtsein, dabei fühlte ich mich immer ungerecht und undankbar gegen meine Eltern und Geschwister, die Nichts dafür konnten, daß ich mich nach Heinrich sehnen mußte, und daß ich nicht zufrieden war mit dem Loose, welches mir auf der Welt doch vor vielen Tausenden günstig gefallen. Ich war dann fest entschlossen, nicht weiter so hinzukränkeln, ich wollte meine Liebe besiegen und vergessen, und empfand doch eine instinktive Angst vor dem Augenblicke, in welchem mir dies gelungen sein würde. Ich hatte jetzt doch noch ein Ideal, dem ich zustrebte und nachstrebte. Wenn dies seine Bedeutung, seinen Zauber für mich verlor, was blieb mir dann?

Manchmal, wenn mein Zustand mir gar zu lähmend[211] wurde, kam mir der Einfall, ich möchte Erzieherin werden. Aber einer solchen Idee konnte ich mich nie lange überlassen, weil ich eigentlich nicht gern unterrichtete, und weil ich auch wußte, daß solch ein Plan unausführbar für mich war. Mein Vater hatte einen ausgesprochenen Widerwillen gegen jede Art von Dienstbarkeit. Er hatte sie nie gekannt, und eine seiner Töchter ohne zwingende äußere Nothwendigkeit Fremden dienstbar zu machen, würde er sich nie entschlossen haben. Dazu hätte es in Folge unserer Sitte, welche den Wohlstand einer Familie nach dem Müssiggange ihrer Töchter ermißt, die Verhältnisse meines Vaters in ein schlechtes Licht gestellt, wenn er mich hätte arbeiten und Geld erwerben lassen.

Bisweilen wieder meinte ich Zerstreuung zu finden, wenn ich mich an den Armenschulen, oder auch nur bei den Wohlthätigkeitslotterien und Suppenanstalten betheiligen könnte, die mehr und mehr in Aufnahme kamen, und über deren Zweckmäßigkeit oder Unzweckmäßigkeit nachzudenken, in der Verfassung, in welcher ich mich befand, nicht meine Sache war. Aber mein Vater war einmal überhaupt ein Gegner dieser Art von Wohlthätigkeit, und mehr noch ein Gegner davon, daß Frauenzimmer sich irgendwie außerhalb ihres Hauses und ihrer Familie bethätigten.

»Willst Du Kinder erziehen und unterrichten, so haben wir hier im Hause noch drei Mädchen von dreizehn bis neun Jahren, da ist Arbeit genug für Dich!« sagte er. »Willst Du Kranke pflegen, so ist Deine Mutter da, welche immer der Pflege und Bedienung bedarf, und was die Handarbeiten für Arme und für Wohlthätigkeitsvereine[212] betrifft, so kosten solche Luxusarbeiten Denjenigen, welche sie anfertigen, die Zeit ganz abgerechnet, mehr Geld, als sie den Armenvereinen abwerfen, sie sind also unpraktisch und unrationell. Thue im Hause, was Dir das Nächste ist, und im Uebrigen benutze Deine Zeit so gut Du kannst, für Deine eigene Ausbildung.«

Ich befand mich also mit meinem Streben, mir selbst zu helfen, vor einer unübersteiglichen Schranke, denn mir standen in jener Zeit noch die entschiedensten Vorurtheile meines Vaters entgegen. Der Satz, daß die Frau mit ihrem ganzen Sein und ihrem Thun unter allen Verhältnissen nur dem Hause und der Familie angehöre, war bei ihm so sehr Ueberzeugungssache, daß ich sogar auf eine Mißbilligung stieß, als ich, nach meiner Heimkehr, den mir in Breslau zur Gewohnheit und zum Bedürfniß gewordenen täglichen Spaziergang machen und meine Schwester dazu mit mir nehmen wollte. Der Vater fand es »häßlich«, wenn man junge Mädchen täglich auf der Straße sähe, und es währte wohl vierzehn Tage, ehe wir zu dieser unschuldigsten aller Vergnügungen und Lebensäußerungen seine Zustimmung und die Erlaubniß erhielten, am Nachmittage die Tour am Hafenbohlwerk entlang, und um den einsamen, melancholischen Philosophendamm zu machen.

Aber selbst das war mir schon eine Gunst und ein Gewinn. Ich konnte Luft schöpfen, die Wolken ziehen, die Vögel fliegen sehen. Wir kamen auf den Stadtwall, und ich konnte die Chaussee entlang blicken, welche dorthin führte, wohin alle meine Gedanken sich wendeten. Die Mauern des Hauses, die Straßen der Stadt engten mich[213] nicht mehr ein, es sah mich Niemand darauf an, was ich wohl denken möchte, es war eine verhältnißmäßige Freiheit, es war doch wenigstens eine körperliche Bewegung.

Hätte man mich in jener Epoche mit einer bestimmten, mich geistig hinnehmenden und körperlich ermüdenden Arbeit, in meines Vaters Comptoir an eines seiner Pulte gestellt; hätte man mich, da ich leidlich zeichnete, an einen Lithographir-Stein gesetzt und mich arbeiten lassen; hätte man mir die Aufsicht über eine Erwerbschule, oder sonst Etwas anvertraut, woran mein natürliches Talent zum Einrichten und Verwalten sich hätte geltend machen können, oder hätte mir ein wohlgeleitetes, auf einen absehbaren Zweck hinführendes Studium offen gestanden, ich würde mir wie begnadigt vorgekommen sein, und hätte daneben noch bequem all' dasjenige vollbringen können, was von meiner Seite für die Familie gefordert wurde.

Um doch aber Etwas zu thun, fing ich an, Englisch zu lernen; und wieder war es die Mutter, welche mir die Erlaubniß dazu erwirkte. Es lag darin etwas sehr Rührendes für mich. Während es mir unmöglich gewesen wäre, ihr zu sagen: »Ich leide«, und ihr eben so unmöglich, mich zu fragen: »Was fehlt Dir?« errieth ihre Mutterliebe und das zärtliche Auge, das sie für Jeden von uns hatte, es immer zuerst, wenn für Einen von uns eine Hülfe nöthig war. Und obschon grade in jenen Tagen mein Vater sich offenbar in Zweifel darüber befand, ob er mit der Erziehung, welche er mir gegeben, mein Wohl befördert, ob er nicht vielleicht besser daran gethan hätte, mich weniger Werth auf Geistiges legen zu machen, so daß er eben jetzt nicht geneigt war, mir[214] zu willfahren, so fühlte die Mutter, daß für mich an ein Zurückgehen nicht zu denken sei, und daß man mich auf dem Wege Befriedigung suchen lassen müsse, auf dem ich sie zu finden glaubte und hoffte. Ich bekam also englischen Unterricht gemeinsam mit meinem ältesten Bruder, und die Kenntniß dieser Sprache ist mir später trefflich zu Statten gekommen.[215]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 2, Berlin 1871, S. 203-216.
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