Alfred Lichtenstein

Ideen, Bilder und Situationen

(Notizen)

»Ich bin ein Nihilist, wie er im Buch steht«, sagte er, erstaunt über das furchtbare Wort.


Ich gieße meine Augen in meiner Hände Grab.


Der Kopf sitzt, eine Geschwulst, auf einem ausgestopften Anzug. In einer Tasche eine prachtvolle Miniaturausgabe des Konkursrechtes, in der anderen ein wertvolles kleines Strafgesetzbuch.


Lampen, die Blumen der Nacht, glimmen.


Nackte Finger schleichen, spielende weiße Schlangen, hin zu einem Revolver. Und alle Männer blicken. Der Himmel fließt um die Nackte wie ein Tanzkleid. Sie schießt den Spiegel tot. – – Schreit auf, hebt Hände. Aus zitronenfarbenem Himmel fällt ein Weiß in die grüne Erde.


Er spielte an einem Pickel über dem Halskragen, drückte wiederholt, so daß die Stelle rot wurde und aufschwoll, bis der Pickel platzte. Er besah den Eiter auf der Hand, zog ein Tuch aus einer Tasche, wischte die Hand ab, hielt das Tuch an die wunde Stelle, saß verloren traurig. »Der Mensch ist hochinteressant«, sagte eine hysterische Dame in dem Vorbeigehen.


Die Erde flackert irgendwo.
[94]

Mir passiert häufig beim Lesen einer kitschigen rosanen Geschichte, daß mir trotz des inneren Lachens ein Schauer durch den Körper geht.


Die Erde, das Vieh.


Ich bin in meinem schmerzenden Kopf.


Die Luft fliegt schmierig umher. Sie bleibt an den Häusern kleben und an den Händen der Menschen.


Sammlung: Berühmte Luetiker.


Ich will aufhören, langsam zugrunde zu gehen.


Daß geistige Leute sich nicht unterhalten können.


Weib ist nur ein Vorwand für namenlose Sehnsucht.


Ich liebe die Menschen, nicht Einzelne. Ich leide mit den Elenden um des Elends wegen.


Er fraß den Schlaf.


Gespräch: »Sie will sich töten.« Er: »Am sichersten wäre es.«


Ihre Augen lagen, leuchtender Schmuck, in ihrer Haut.


Ich bin ja nur ein armes, altes, dickes, schwaches Weib.


Ein Reiter ging, sich auf einen Regenschirm stützend, nachdenklich durch die sonnigen Straßen.
[95]

Ich bin mir überlegen.


Die Vielheit der Frauenzärtlichkeiten läßt erst das Ideal »Mein Weib« konstruieren. Man muß sich bewußt sein, daß tatsächlich – Gottseidank – ein ständiger Wechsel notwendig ist. Und eine ist am Strand – und eine liest am Abend – und eine – – –


Ein Pferd machte Laufschritt.


»Ich finde das unreif und schlecht beobachtet«, spricht Backfisch von erotischer Skizze.


»Der strengste Objektivismus ist die höchste Moral«, sagte mein Bruder, als er mich schlug. Das ist eine sehr edle Anschauung.


Idee zu einem Drama: Befriedigung ist auch das Letzte nicht.


Er sank hinunter. Tief, tief in einen Schlaf hinein wie in einen Sarg aus sanften Frauen.


Ein Vogel knarrte im Baum.


Auf einem hohen Berg lag ein bärtiger Kopf, neben ihm ein Bauch. Auf dem Bauch spielten fleischige Finger melancholisch mit einer dicken goldenen Kette, die wie Feuer glitzerte.


Augen und Sehnsucht: Schwarze Flammen aus dem Gesicht beleuchten die weiße Stirn, hinter der tausend mit Sehnsucht gefärbte Bilder funkeln.
[96]

In ihrem Hirn tanzte gerade ein schöner Geliebter.


Ihre Augen waren ein lichtbraunes Gewand.


Caféhaus: Alte fette Dirnen (Großmütter) mit schabiger Haut – baumelnde dicke Beine-, junge mit schwarzen Fingernägeln in neuen koketten Kleidern.


Er betete in die Luft, mit wundem Rücken und aufgerissenem Maul, er rief: »Mein Körper ist ein Bett, in dem gehurt wird.«


Manche Dirnen haben so viel sanft überlegene Mütterlichkeit um die Augen und sind die hilflosesten Kinder.


Der abgelehnte Geliebte: Er geht durch viele Straßen und Stunden. In jeder Verzweiflung. Stellt sich vor den Spiegel. Hat sich lieb.


Die Tiere
Schauspiel

[97] Grundgedanke: Heilige Sehnsucht aus dem tierischen Triebleben zur seelischen Reinheit. Je größer der Dreck, desto heftiger die Sehnsucht. Aber vergebens: die Sehnsüchtigen gehen im Dreck unter.

Nur der Bürger, der sich über nichts schwere Gedanken macht und nichts tief empfindet, blüht im Dreck.

Quelle:
Alfred Lichtenstein: Gesammelte Prosa. Zürich 1966, S. 94-98.
Erstdruck in: Gedichte und Geschichten. Herausgegeben von Kurt Lubasch, München (Georg Müller) 1919.
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