Ein Schifflein sah ich fahren,

Kapitän und Leutenant

[83] Ein Schifflein sah ich fahren,

Kapitän und Leutenant.

Darinnen waren geladen

Drei Kompagnieen Soldaten,

Kapitän und Leutenant.

Kapitän, Leutenant,

Fähnrich, Sergeant,

Nimm das Mädel, nimm das Mädel,

Nimm das Mädel bei der Hand,

Soldate, Kamerade.


Gleich, nachdem Kai in Magdeburg seine Abgangsprüfung bestanden hatte, kurz nach Ostern, stand er, an einem kalten Frühlingstag, neunzehneinhalb Jahre alt, auf dem Kasernenhof der Defensionskaserne in der Bundesfestung Mainz. Er trug die Uniform des Westfälischen Füsilier-Regiments. Enewold, vielleicht einer Laune folgend, hatte ihn hier untergebracht; nicht, wie er zuerst beabsichtigt hatte und wie es Kais Wunsch gewesen war, in einem Kavallerie-Regiment. Der Hauptgrund schien der gewesen zu sein, daß Kais Regimentskommandeur im dänisch-schleswig-holsteinischen Kriege längere Zeit auf Tangbüttel in Quartier gelegen hatte und von dieser Zeit her mit Enewold in Briefwechsel geblieben war. Auch mögen ihn Gründe bestimmt haben: erst mal zu beobachten, ob und wie Kai[83] es verstehen würde, vernünftig mit seinem Geld auszukommen.

Kurz und gut: vor Kai stand der Gefreite Bergmann und lehrte ihn als Erstes auf das Kommando Stillgestanden wie ein Blitz die Hacken zusammenzunehmen. Der Gefreite Bergmann, ein echter Westfale, geriet bald in Erstaunen, als er sah und merkte, daß Kai schon die Griffe mit dem Gewehr und auch Frei- und Turnübungen kannte und sogar Kenntnisse im Langsamen Schritt zeigte. Der Sohn des preußischen Generalleutnants und Schüler des alten Wallmeisters erinnerte sich der Exerzierzeit seiner Kindheit.

Kais Hauptmann und Kompagnie-Chef, ein strenger, ernster, für seine Leute außerordentlich besorgter Herr, ließ ihn die ersten sechs Wochen in einem Raum mit zwanzig Mann zusammen wohnen. Mit der Ausnahme, daß er seine Stiefel nicht selbst zu putzen brauchte, mußte er alle Hantierungen, wie es seine Stubenkameraden traf, mitmachen. Da biß er sich auf die Zähne zuerst, denn es war ihm wahrlich kein Vergnügen, dies alles vorn und hinten lernen zu müssen. Doch tat es seinem Soldatenanfang gut, und er hats später seinem damaligen Hauptmann von Herzen gedankt.

Im Laufe des Sommers hatte ihm sein Hauptmann den ersten, einen zweitägigen, Urlaub bewilligt nach der kleinen Festung, wo er geboren war. Er wollte das Städtchen und namentlich seinen treuen Wallmeister wiedersehen. Er überraschte den alten Herrn in seinem Stübchen, das er sich nach seinem[84] Abschiede gemietet hatte. Es war voller Vogelgezwitscher.

Kai trat ein, stellte sich kerzengrade vor ihn hin und meldete sich. Der Alte konnte ihn im ersten Augenblick nicht recht in seinem Gehirn unterbringen, bis ihm aus Kais schwarzen Augen die Erinnerung wie hellstes Sonnenlicht aufleuchtete. Er zog ihn überglücklich an sein Herz. Nun gings ans Erzählen, und tausend Erinnerungen wurden wach und gaben ihre heitern, lustig flatternden Fahnen und ihre trüben niederhängenden Wimpel, in die der Sommerwind nicht wehen wollte. Lust und Leid: allüberall ist es derselbe bunt zusammengewirkte Teppich.

Kai wurde ein eifriger Soldat und sein Hauptmann schenkte ihm das beste Zeugnis. Bald wurde er Gefreiter (eine Beförderung, die ihn ganz besonders stolz machte), Unteroffizier (er bekam eine Korporalschaft) und Fähnrich. Im Herbst machte er mit seinem Regiment das Manöver im Hunsrück mit. Dann erhielt er, vor seinem Kommando zur Kriegsschule, einen dreiwöchigen Urlaub in die Heimat. Den teilte er sich in drei Teile: für Tangbüttel, Kiel und Smalstede. Bei seiner Mutter in Kiel blieb er, wie das natürlich war, am längsten. Enewold hatte seine Freude an ihm. In Smalstede verlebte er mit seinen Freunden Henning und Klaus frohe Tage.

Kai hatte gebeten, einen Morgen mit dem grauhaarigen Förster Wilm Sönksen jagen zu dürfen. Er wurde deshalb schon nachmittags vorher nach dem eine Stunde entfernt liegenden Forsthaus gefahren, das mitten im großen Walde von Smalstede lag. Wilm[85] Sönksen und seine behäbige Frau empfingen ihn herzlich. Nachdem er mit ihnen früh gegessen hatte, führte ihn der Alte ins Fremdenzimmer auf den Boden. Es hatte nur ein Fenster. Es stand offen. Kai lehnte sich hinaus in die sommerweiche Septemberluft. Rings war die Försterei von Wald umgeben. So nahe schickten die Bäume ihre Zweige heran, daß sie fast ins Fenster drangen. Friede und Stille. Nichts war zu hören. Eine sehnsüchtige Stimmung zog durch sein Herz. Die Sonne verschwand hinter den Ästen und die ersten Schatten dunkelten durch den Forst.

Als er sich ins Zimmer wandte, um sein Lager aufzusuchen, stand vor ihm mit gesenkten Augen, er hatte sie nicht eintreten hören, ein junges, hübsches Bauernmädchen mit Flachshaaren. Ihre blauen Augen erschraken vor seinen schwarzen Augen. Als Kai sie etwas verwundert fragte, ob sie eine Bestellung habe oder noch etwas wünsche, antwortete sie auf plattdeutsch mit zager Stimme, daß sie noch das Zimmer zurecht machen müsse für die Nacht. Beide sahen sich ruhig an. Als sich Kai ihr näherte, ging ein unmerkbares Zittern über beide hin. Das Mädchen trug einen Beierwandrock und ein straff sitzendes Samtmieder. Als er, wie von einer Macht gezwungen und bezwungen, den rechten Arm um sie schlug, wehrte sie sich kaum. Die elektrische Wirkung des Samtes überwand ihn, oder was es war, und er küßte sie. Sie ließ es geschehen und legte ihre Arme um seinen Hals und sah zu Boden. Das alles war ganz von selbst geschehen. Sie herzten sich. Einmal erwachte[86] er. Das Mädchen schlief mit ruhigen Atemzügen neben ihm.

Durch den stummen Wald, in dem die silbernen und goldnen Fäden des Mondes glänzten, hörte er die geheimnisvollen Stimmen der Nacht durchs offen gebliebene Fenster.

Als es zu dämmern begann, wachte er abermals auf, und auch das Mädchen erwachte, und beide hörten unter ihrem Fenster ein viel hundert Jahre altes Minne- und Wächterlied, dem Hohenstaufenkaiser Heinrich dem Sechsten zugeschrieben, das zu einer Harfe gesungen wurde:


Bleib noch, mein lieb Gespiel, lieg still,

Denn es ist noch nicht Morgen.

Der Wächter uns betrügen will;

Der Mond hat sich verborgen.

Man sieht der Sternlein noch gar viel

Her durch die Wolken dringen.

Lieg still bei mir, mein lieb Gespiel,

Und laß den Wächter singen.


Sie sprach: »Die Märe hör ich gern,

Muß ich bei dir noch bleiben,

So bleibt mir Last und Sehnen fern.

Uns soll die Zeit vertreiben,

Was dich und mich erfreuen mag,

Und wollen unterdessen

Den grauen Morgen und den Tag

Und alles Leid vergessen.«


Sie drückt an mich ihr Brüstelein,

Mein Herz wollt mir zerspringen.

Sie sprach: »Laß dir befohlen sein

Mein Ehr vor allen Dingen.[87]

In deinen Armen lieg ich tief,

Da ruh ich nur alleine.«

Der Wächter aber sang und rief:

Ich seh den Tag aufscheinen.


* * *


Von Mitte Oktober an besuchte er mit vielen andern Fähnrichen die Kriegsschule in Schloß Engers am Rhein. Wo junge, lebenstrotzende Männer zusammenwohnen, geschieht, und sind sie in noch so strenger soldatischer Zucht, allerlei Übermut. Die zahlreichen reisenden Engländer, die auf den großen Flußdampfern bei der dicht am Ufer liegenden Kriegsschule täglich vorüberfuhren, benutzten ihre Operngläser auf recht lästige Weise: sie guckten mit größter Dreistigkeit dem Schlosse, so lang es ging, in die Augen. Das war ja kein Verbrechen. Aber den Fähnrichen wurde es mit der Zeit unbequem. Es kam unter ihnen, keiner durfte sich ausschließen, eine Verschwörung zustande. Eines Mittags, an einem heißen Sommertag, als eine Freistunde war, ließen sie, auf ein gegebenes Zeichen, alle zugleich auf einmal ihre schmutzige Wäsche aus den Fenstern wehen, als Gegengruß für die Engländer. Das war allerdings kein liebenswürdiges Entgegenwinken. Der Direktor, der die Herzen der frischen, lustigen Menschen verstand, sonst ein eiserner Herr war, hielt darauf ein hartes Gericht. Weil hierbei nicht herauskam, wer der Anstifter oder die Anstifter gewesen seien, erhielten sämtliche Kriegsschüler eine achttägige Kasernenhaft.[88]

Auch andre kleine Unterbrechungen wurden beliebt: da gab es die Stiefelverrammlungen. Die Stiefel wurden beim Schlafengehn dermaßen übereinander und durcheinander vor die Tür gestellt, daß ein unbeliebter, sehr kurzsichtiger wachthabender Offizier, der mit der Laterne die Stuben besichtigen mußte, unfehlbar zu Fall kam. Oder es wurde auf Kais Zimmer ein stets in der letzten Arbeitsstunde einschlafender Fähnrich auf seinem Stuhl angebunden. Der eingeschlummerte, festgebundene Fähnrich blieb allein zurück, während sich alle andern sachte im Nebenzimmer in ihre Betten legten. Kam nun der beaufsichtigende Offizier mit seiner Laterne, so sprang der angebundene Fähnrich, der in der Dunkelheit durch das plötzliche Blitzen des Lichtes aufwachte, in die Höhe. Da er den Stuhl mitnehmen mußte, gab es ein fürchterliches Kuddelmuddel: der unglückselige Fähnrich und der wütende Offizier. Natürlich lachten im Schlafsaal die Fähnriche unter ihren Decken, waren aber sofort still und schliefen wie die Ratten, wenn der Offizier mit großem Geschelte an ihre Betten trat. Und was es derlei ähnliche Scherze gab; wie es sie überall und immer geben wird, wo ähnliche Verhältnisse vorliegen. Die Welt ist deshalb nicht zu Grunde gegangen.

Ein paar Monate darauf, als Kai von der Kriegsschule wieder in Mainz eingetroffen war, bekam sein Regiment plötzlich den Befehl, nach der Provinz Posen abzurücken. In Polen war der letzte Aufstand noch nicht ganz unterdrückt worden. Das Regiment hatte über vier Jahrzehnte in Mainz und Luxemburg gestanden.[89] Da wurde es nicht ganz leicht, von diesen Städten zu scheiden, mit denen es zahlreiche Familien- und andere Verbindungen verknüpften.

Wegen kleiner politischer Unebenheiten konnte das Regiment nicht über Dresden fahren, sondern mußte den Umweg über Berlin nehmen. Hier marschierte es von einem Bahnhof im Westen nach dem Schlesischen Bahnhof in einer kalten und stürmischen Dezembernacht. Um drei Uhr nachts rückte es am Palais des Königs vorbei. Der alte Herr stand, in seinen Mantel gehüllt, von Fackel- und Windlichtern überschienen, auf der Terrasse. Er stand, wohl über eine halbe Stunde, in der bittersten Kälte auf der Terrasse, bis das Bataillon in Sektionen vorbeimarschiert war. Als Kai mit seinem Zuge bei Seiner Majestät vorüberzog, senkte er seinen Säbel, was er als Zugführer nicht durfte.

Kai hatte zum ersten Mal den König gesehen. Es ist ihm ein unauslöschlicher Eindruck fürs Leben geblieben: Die Treue und das Pflichtgefühl hatten ihm in ihrem schlichten, graden Bilde den Weg gezeigt.

Kai kam zuerst nach Krotoschin und den nächsten Winter nach Rawitsch.

In Rawitsch hatte er ein kleines Abenteuer, mit dem er sehr ausgelacht wurde: Die hübsche Soubrette eines fliegenden Theaters, das grade im Städtchen Gastrollen gab, wünschte ein Klavier für ihre Singübungen und für ihre Mußestunden. Kai ging mit Feuereifer auf ihren Wunsch ein und bestellte für sie in Breslau, weil es in Rawitsch nicht zu haben war,[90] ein Fortepiano. Das kam denn auch, Eisenbahnen gabs noch nicht bis Rawitsch, auf einem Frachtwagen an. Doch konnte es nicht in die Wohnung der Schönen hinausgebracht werden; die Treppen waren zu eng. Was tun? Es wurde in den dritten Stock hinaufgewunden. Alles, was unten stand und verwundert diesem Ereignis zuschaute, mußte den Kreis erweitern, um das Klavier nicht unter Umständen auf den Kopf zu bekommen. Das war gut so. Denn im nächsten Augenblick rissen die Seile und das Instrument zerschellte unten in tausend Granatstücke. Welch ein langes Gelächter im ganzen Städtchen. Kai mußte einen tüchtigen Haufen Geld geben.

Militär und Bürgerschaft lebten in guter Eintracht zusammen. Die Einteilung der Winter-Vergnügungen 1865/66 zeigte drei Bälle und eine Anzahl Unterhaltungen an, sowohl Damen- wie Herren-Gesellschaften. Unten stand auf der Festordnung:


Durch dies Programm glaubt der Vorstand den geehrten Mitgliedern eine mannigfache Gelegenheit zur geselligen Erholung darzubieten. Während der Jugend ihre Rechte auf glanzvolle Freuden durch die drei Bälle hinlänglich gewahrt erscheinen, sollen die Damen-Ressourcen jedem Alter in aller Behaglichkeit und im häuslichen Kleide in beliebiger Weise durch Kartenspiel, Musik, Gesang, Gesellschaftsspiele ein anspruchsloses Vergnügen bereiten. Natürlich wird hierzu auch der Tanz gehören, ohne das dadurch den verehrten Familienmüttern die mehrtägige Vorsorge einer Toilette für die Fräulein Töchter[91] und das Aufopfern ihrer Nachtruhe auferlegt wird.

Auch die, die sich aus irgend einem Grunde von rauschenden Vergnügungen fernhalten müssen, werden unbedenklich diese harmlosen Abendunterhaltungen aufsuchen können.

Möge das Programm durch die freundliche und rege Beteiligung aller Mitglieder zu einer Wahrheit werden.


Der Vorstand.

v. Below. Gundrum. v. Pannwitz. Patzke. v. Splitgerber.


Kai tanzte sich emsig durch den Winter durch. Weihnachten verbrachte er, wie stets, mit seiner Mutter, in Tangbüttel. Dann schlief er im Königsbett. Alles war beim alten geblieben. Nur die beiden kleinen polnischen Prinzen waren, kurz nach einander, gestorben. Sie hatten ihren armseligen Nachlaß, der dennoch manches Wertvolle enthielt, an Kai vermacht. Der nahm sich daraus nach Rawitsch einen echt russischen Ssamowar mit und den bedenklich alten Papagei Pultawa. Pultawa sprach nur zwei deutsche Sätze: »So leben wir!« und: »Kommst mit nach Port–ugal, kommst mit nach Port–ugal«. Das schrie der entsetzliche Vogel unaufhörlich.

Enewold schien nicht kränker geworden zu sein. Aber es däuchte Kai, und er glaubte es aus allem, was ihn umgab, und aus allen, die ihn umgaben, heimlich herauszulesen und herauszuhören, daß stärkere und vielleicht auch folgenschwerere Anfälle geschehen sein mußten.

Einmal war Kai abends im kleinen Wirtshaus[92] Pukaff (Pflückab) gewesen, das nicht weit von Tangbüttel liegt. Auf dem Gang nach dem Schlosse sah er den Aldebaran leuchten. Eine fast übermenschliche Anstrengung kostete es ihn, daß er nicht im Schnee auf die Kniee fiel. Aber er überwand sich. Doch ging er wohl eine Minute übers Schneefeld auf ihn zu mit geöffneten Armen. Niemals sagte er davon einem Menschen etwas, selbst nicht seiner Mutter, Enewold und seinen Freunden. Enewold hatte sich übrigens gefreut über sein gutes Wirtschaften mit dem Gelde. Die eine Ausnahme: die Klaviergeschichte hatte er lachend bezahlt.

Als Führer des ersten Zuges der ersten Kompagnie rückte er im Mai zum Kriege gegen Österreich aus. Obgleich er ein schlanker, hochgewachsener Leutnant war, überragten ihn die Westfalen, aus denen das Regiment seinen Ersatz hatte, namentlich im ersten Gliede, um ein Erkleckliches.


* * *


In den Kriegen hatte Kai ein Tagebuch geführt und diese Tagebücher ergänzt durch seine Briefe aus jener Zeit an Enewold und Frau von Vorbrüggen, die ihm später wieder zugefallen waren. Auch ergänzt durch im Druck erschienene Regimentsgeschichten und andere über die Kriege herausgekommene Werke. Natürlich zeigten Kais Tagebücher nur das, was er selbst, in seiner Eigenschaft als Leutnant erlebt und gesehen hatte. Weiter konnten sie nichts geben. Seine Tagebücher wurden ihm, je mehr seine Stunden schwanden,[93] immer lieber. Stetig wehmütiger wurden seine Gedanken beim Lesen dieser Aufzeichnungen, wenn er, je höher er ins Alter hineinging, schmerzlich fühlen mußte, wie er immer einsamer seinen Weg machte: Mehr und mehr seiner alten Kameraden sanken ins Grab, öfter und öfter knallten die drei Ehrenfeuer über die Gräber, wohin man mit umflorten Fahnen marschiert und von wo man mit fliegenden Fahnen zurückkehrt, wohin man mit Trauermärschen und langsamen Schritts geht und von wo man mit fröhlicher Musik und raschen Schritts heimzieht.


* * *


Nachod und Skalitz.

(Nach Kais Tagebüchern, Briefen und Erinnerungen.)


Die erste Kompagnie führte Hauptmann von Winterfeld. In seiner Kompagnie standen Premierleutnant von Pannwitz, ich und Portepeefähnrich Prall.

12.6.66. Marsch von Reußendorf, einem Stolbergschen Besitz, wo wir prächtig beim Oberförster einquartiert gewesen waren, nach Salzbrunn.

13.6.66. Wir marschierten um halb sieben Uhr morgens ab und kamen erst um fünf Uhr nachmittags ins Quartier. Wir Offiziere zogen uns sofort um und tanzten bis zum andern Morgen in Salzbrunn. Um fünf Uhr wieder weitermarschiert. Bei einer unerhörten Hitze bis nach Ober-Gräditz, das einem alten Fräulein von Franckenberg gehört, die uns und die ganz außerordentlich große Last und Menge der Einquartierung mit höchster Liebenswürdigkeit und hausmütterlicher Sorge aufnahm.[94]

14.6.66. Marsch von Ober-Gräditz nach Nimpsch. Auf dem Marsch erzählte mir Pannwitz mit Stolz, daß die Mutter von Heinrich von Kleist aus seinem Hause wäre. Ich fragte, ob dieser Heinrich von Kleist Minister oder sonst ein hoher Herr gewesen sei. Aber Pannwitz lachte mich aus, verwundert über meine Unwissenheit, und meinte, daß Minister, in den meisten Fällen, bald nach ihrem Tode vergessen wären. Dagegen würde ein solcher großer Dichter wie Heinrich von Kleist niemals vergessen werden. Ich war beschämt, denn ich hatte nie von einem Dichter Heinrich von Kleist gehört; niemals war er mir von meinen Lehrern genannt worden. Und er war doch schon über fünfzig Jahre tot.

26.6.66. Das ganze Regiment steht in der Vorhut. Vom Höllengrund in der Grafschaft rückten wir ab. Über Reinerz und Rückerts. Wir bezogen ein Biwak dicht vor der Grenze. Pannwitz lag im Zelt mit dem Gesicht nach der Leinwand. Er schlief nicht, ich merkte es. Überall Patrouillen. Die weiteste Aussicht nach Böhmen hinein. Ich sah deutlich ein großes rotes Gebäude in der Ferne. Sergeant Beeren kochte für uns. Ich versprach ihm Zigarren, wenn mein Koffer eingetroffen wäre. Er sollte sie nicht mehr bekommen, denn zwei Tage darauf, bei Skalitz, fiel er ganz in meiner Nähe. Ich machte einen Besuch bei unsrer Lagerwache. General von Ollech hielt uns eine Rede, weil der Feldprediger nicht da war. Nach dem Gottesdienst kam eine Meldung, daß das dritte[95] Bataillon ohne Widerstand in Nachod einmarschiert sei. Ein begeistertes Hoch! Die Gewehre wurden scharf geladen, die Tornister gepackt, alles in Ordnung gemacht. Zum Aufbruch fertig. Viele lagen noch an ihren alten Kochstellen und schrieben Briefe nach Haus. Endlich gingen wir an die Gewehre. Aus der Mitte in Reihen auf die Landstraße. Es war ein wundervoller Abend. Der Vollmond schien auf unsere Helme und Gewehre. Die Leute marschierten ruhig und schweigend. In der ganzen Division herrschte Totenstille. Nie hat mir die Zigarre schöner geschmeckt als an diesem Abend. Ich ging längere Zeit neben dem kleinen Obenaus. Er mußte mir von seiner Familie erzählen. Wir bewegten uns dann rascher vor, was uns willkommen war, da sich eine unangenehme Kälte fühlbar machte. Wo ist, wann kommt die Grenze? war unsere stete Frage. Wir marschierten ununterbrochen wohl schon vier Stunden. Plötzlich halt! Vorn ist was los! Die Brücke über die Methau wird von unseren Pionieren wieder hergestellt. Weiter vorwärts sah man einzelne Wachtfeuer. Hier biwackierte unser vielgeliebter Oberst von Below mit dem zweiten Bataillon. Zwanzig Schritte vor der Grenze. Wir fühlten zuerst, daß wir im Kriege waren. Winterfeld ließ Pannwitz und Prall mit einem Zug rechts als Seitendeckung an eine große Fabrik gehen. Feldwebel Bruns ging mit dem Schützenzug links auf eine Anhöhe. Ich blieb mit dem Unterstützungstrupp zurück. Was für eine Nacht. Kein Stroh, kein Holz. Ein naßkaltes Kartoffelfeld war unser Lager. Ich konnte[96] nicht schlafen; ich versuchte alles, um einzuschlummern. Schließlich ging ich zu einem angekommenen Wagen, der mit Säcken beladen war. Auch da nicht. Mich fror schändlich; ich hatte nicht mal meinen Überzieher bei mir. Endlich tagte der Morgen. In der Nacht hatte es überall herumgeknattert. Wir kochten unsern »eisernen« Kaffee, vermischt mit Erde und Strohhalmen. Er schmeckte uns vortrefflich, und vor allem: er erwärmte uns. Winterfeld befahl mir, aufzupassen, daß auch alle Leute Kaffee bekämen. Es wurde heller. Wir sahen die ersten österreichischen Kavallerieposten auf einem Berge vor uns.

27.6.66. Zwei Schwadronen der Vierten Dragoner kamen in mäßigem Trabe bei uns vorbei. Wir folgten ihnen. Pannwitz und Prall waren noch nicht zurückgekommen, so machte das Halbbataillon diesen Tag mit fünf Zügen durch; drei von der vierten Kompagnie, zwei von der ersten Kompagnie. Wir überschritten die Grenze mit Hurra. Alles sah sich um, ob denn das fremde Land anders aussehe wie Preußen. Wir kamen bei dem großen Zollamt mit bem Doppeladler vorbei. Hier standen die ersten Häuser. Hinter einem von ihnen lag ein erschossener Österreicher, mit dem Mantel bis an die Haare zugedeckt. Es war der erste Tote, den wir sahen. Man schielte nach ihm hin mit scheuen, hastigen Augen. Aus einem andern Häuschen schaut vergnügt ein sechs, siebenjähriges Mädel heraus, mit einem kleinen schwarzen Hund im Arm, den sie wie eine Puppe an sich preßt. Es war halb sieben, als wir uns Nachod näherten. Eine Viertelstunde[97] später marschierten wir durch die Stadt. Hoch oben lag das Schloß. Vor den Türen standen blaß und verängstigt die Bewohner. Es war ein eigentümliches Gefühl, womit wir sie betrachteten. Man bot uns Wasser an. Aber: Vergiftet, vergiftet, hieß es. Wie gerne hätten wir getrunken. Mitten in der Stadt schloß sich der Gefreite Lewin von der zwölften Kompagnie unserm Halbbataillon an. Er hatte eine Patrouille geführt und war seiner Kompagnie abhanden gekommen. Eine Stunde später lag er, mitten durchs Herz getroffen, im Gras. Bald hatten wir Nachod hinter uns. Schon eine glühende Hitze. Kurz hinter Nachod hatten wir einen kurzen Marschhalt: Wir legten uns ins reifende Korn hinein: Wir sind ja im Kriege! Aber ein sonderbares Gefühl war es dennoch für uns alle, das heilige Korn niederzutrampeln. Den Vizefeldwebel Lang hatte ich in meinem Zuge. Der kleine Jude von der zwölften Kompagnie war auch in meinem Zuge. Er gab Lang und mir einen guten Schnaps. Er zeigte sich als ein tapferer, umsichtiger Soldat. Steinmetz rasselte mit seinem ganzen Gefolge bei uns vorüber: Er trug eine riesige Schirmmütze mit Lederüberzug. Genau so, wie wir sie auf den Bildern vom alten Blücher sehen (1813). Ich bin stets mit unbehaglichem Herzen bei Steinmetz vorübermarschiert oder habe vor ihm gestanden. Seine ruckartigen Bewegungen mit dem Kopfe hatten etwas vogelartiges. Doch das muß hier gesagt werden: kein anderer General auf Erden hätte Nachod und Skalitz gewonnen. Ihm allein ist es gelungen. Ihm allein verdanken wir die beiden Siege.[98]

Das »Zivil« kannte er überhaupt nicht. Bei ihm trug selbst der liebe Gott das umgeschnallte Seitengewehr.

Hoch old Steinmetz!

An die Gewehre! Kaum waren wir zwei Minuten im Marsch, da sahen wir einen wie rasend auf uns zusprengen, dahinter kam noch einer: es waren mein Brigadekommandeur, General von Ollech, und sein Adjutant Karnatz. Der hochgewachsene General, der auf einem großen Pferde saß, stoppte kurz vor uns, sich weit in den Sattel zurückbiegend, mit aller Wucht seinen Gaul und rief uns in höchster Erregung zu: Links um machen! Die Österreicher sind da! Sofort wandte er seinen Hengst und ritt im schärfsten Galopp wieder vor. Sein Adjutant konnte ihm kaum folgen. Nie werde ich diesen Augenblick vergessen. Es kam mir vor, als wenn der Kriegsgott selbst uns eben erschienen sei. In meiner Todesstunde sehe ich noch des Generals fliegende Schärpenquasten. Gleich darauf wurde der tapfere Achill, aufs schwerste verwundet, zurückgetragen.

Wir machten nun sofort linksum und stiegen in Kolonne nach der Mitte den Berg hinauf; einen Wald vor uns nahmen wir als Ziel. Der Schützenzug wurde vorgenommen. Lang ging mit den Schützen lebhaft, scharf und sicher ins Gefecht. Wir Offiziere zogen die Säbel. Ich sandte nach rechts zwei Seitenläufer, Rösler und Benfer, denen ich befahl, zu sehen, was rechts vom Walde sei. Winterfeld eilte zu den Schützen. Links von uns ging der Feldwebel der vierten Kompagnie[99] mit dem Schützenzug seiner Kompagnie. Hauptmann von Löwenstern übernahm das Halbbataillon, ich führte die Kompagnie. Bald hatten wir den Wald erreicht, wo uns eine himmlische Kühle erquickte. Noch dicht vorm Walde lud ich meinen Revolver. Mein Feldwebel Bruns hielt mir die Patronenschachtel dabei. Jetzt hörten wir vereinzelte Gewehrschüsse und darauf Granatengepfeife. Es war kein Zweifel mehr: Wir standen in der Schlacht. Löwenstern ritt mit klarer, ruhiger Unerschrockenheit, den Kopf vorgestreckt, uns voran. Er gab uns ein leuchtendes Beispiel. Bald traten wir an den andern Rand des Waldes. Der Schützenzug ging weiter über Kartoffelfelder und Wiesen, wir folgten, aus dem Walde tretend. Da summte die erste Granate über unsre Köpfe weg. Totenstille bei uns. Als das Biest über uns wegflog, bückten wir uns alle, als wären wir beim Kaiser von China zum Empfang. Aber schon, als die zweite Granate kam, zogen wir aufrecht weiter. Aus einem Seitenweg bogen drei Dragoner heraus. In ihrer Mitte stützten zwei Reiter ihren Regimentsadjutanten, Leutnant von Montowt, der mit zerschmettertem Fuß im Sattel hing. Er lehnte, ohnmächtig und leichenblaß, seinen Kopf an die Brust des rechts reitenden Dragoners. Der links reitende hielt ihn mit seinem rechten Arm umschlungen. Wir riefen unsern Leuten zu: »Nicht umsehn«. So gings ruhig weiter. »Grade aus!« »Halblinks!« »Halbrechts!« Löwenstern führte uns mit größter Ruhe, mit starkem Kommando. Bald kamen wir, dem Dorf und der Kirche Wenzelsberg gegenüber, in einen[100] neuen Wald, der aber nur ein Wäldchen war. Noch war nichts vom Feinde zu sehen. Da fielen die ersten Schüsse in unsrer Schützenlinie. Wir machten, den Schützen folgend, eine Halblinks-Schwenkung, und hatten, am Rande der kleinen durchsichtigen Hölzung, unser vorläufiges Ziel erreicht. Die Bäume waren Tannen; sehr jung noch. Sie boten uns wenig Deckung. Hinter der Kirchhofsmauer lagen österreichische Schützen und feuerten wie toll auf uns. Löwenstern nahm zwei Züge etwa vierzig Schritte hinter den Waldrand zurück. Alles legte sich platt hin. Nur wir Offiziere blieben aufrecht stehen. Jetzt pfiffen die Kugeln hageldicht. Sie verursachten ein klapperndes Geräusch in den Stämmen. Da traf ein Schuß einen Füsilier durch die Brust. Unser Lazarettgehilfe Petschke schleppte ihn sofort zurück und verband ihn.

Plötzlich erschien neben uns im Wäldchen eine Abteilung des achtundfünfzigsten Regiments, unsres Brigade-Regiments. Der Hauptmann rief uns mit bewegter Stimme zu, daß wir umgangen seien. Löwenstern befahl mir, rasch an den Nordrand unsres Wäldchens zu laufen und ihm sofort Bericht zu geben. Ich eilte so schnell ich konnte hin und sah vom Waldrande aus große feindliche Massen Infanterie und Kavallerie herankommen. Es war ein bezaubernder Anblick: die vorrückenden Weißröcke, mit ihren spielenden Regimentsmusiken voran, in der blendenden, glitzernden Sonne. Auch hörte ich Kavalleriesignale. Ganz schwach klang mir her durch all den Lärm der Schlacht, als wenn Avanti, Avanti gerufen würde. Jedenfalls waren[101] es Zurufe der Offiziere an ihre Leute, die in Italien ausgehoben sein mochten. Sofort stürzte ich zurück und machte meine Meldung. Es war nun unumgänglich notwendig geworden, daß wir, um nicht gänzlich abgeschnitten zu werden, aus dem Wäldchen hinausmußten. Als wir wieder auf die kahle Wiese traten, sah ich einem Kavalleriegefecht zu. Die feindlichen Kürassiere hatten vielleicht schon angesetzt, um uns anzugreifen. Da kamen Dragoner- und Ulanen-Schwadronen von uns und brachen in sie ein. Ich blieb stehen und sah mit offenem Mund und aufgerissenen Augen dem Kampf zu. Gleich darauf zeigten wir in einer kleinen Vertiefung wieder unsere Stirn. Winterfeld ging selbst vor, um zu sehen, ob wir verfolgt würden. Zuerst schien es nicht. Da krabbelts aus dem Wäldchen heraus, aus dem wir eben gekommen waren. Der Feind nähert sich uns unbegreiflicherweise in dicken Kolonnen. Winterfeld schreit durch all den Lärm durch: Rechts und links marschiert auf! Marsch! Marsch! Schnellfeuer! Wir gaben ein Höllenfeuer ab. Die Kolonnen stutzten und machten kehrt. Gegen unser Zündnadelgewehrfeuer wars unmöglich anzukommen. Die Verwundeten schleppten sich auf uns zu. Viele humpelnde Offiziere stützten sich, so gut sie konnten, auf ihre Säbel, und hinkten heran. Wir preußischen Offiziere sprangen vor, um ihnen zu helfen. Ich senkte vor einem höhern österreichischen Offizier, der grauenvoll zerschossen war, den Säbel. Daß so viele feindliche Offiziere dicht vor unsrer Linie fielen oder verwundet wurden, hatte darin seinen Grund, daß sie immer wieder[102] weit vorsprangen, um mit glänzendem Schwung ihre Leute anzufeuern.

Ein Augenblick der Ruhe trat ein. Da erhob sich vor uns ein verwundeter oder liegengebliebener österreichischer Infanterist und schoß auf uns. Schleunigst lief er davon. Aber unser dicker Siebel, einer von den westfälischen Riesen, sprang auf und zielte auf ihn. Er traf ihn gut: Ich sah, wie er wohl vier Fuß in die Höhe sprang und dann zusammenbrach. Jetzt fingen die Granaten wieder an. Winterfeld schrie mit letzter Anstrengung nach Ordnung. Nie sah ich eine so allumfassende Energie wie bei diesem Offizier. Es trat eine gänzliche Erschlaffung bei uns ein. Alles lechzte nach Wasser. Wir rauchten, wir nahmen Gras, Blätter, Erde in den Mund. Der Durst war um wahnsinnig zu werden. Der ganze Sommertag war erstickend heiß.

Nach einigen Minuten fuhr unsre Reserveartillerie bei uns vorbei. Auch andre Regimenter rückten an, die endlich auf dem Schlachtfelde, nach ununterbrochnen, eiligsten Märschen, angekommen waren. Wir hatten fünf Stunden in der äußersten Vorhut im Feuer gestanden. Abends kam das ganze Regiment wieder zusammen. War das ein Wiedersehn! Ein Fragen nach den Gefallenen und Verwundeten!

Mein Bataillon erhielt den Befehl, die Nacht die Gefangenen in Nachod zu überwachen. In meinem Tagebuch finde ich nichts von dieser Nacht. Aber in der Erinnerung sehe ich Flammen, Wirrwar, fremde Uniformen zusammengepfercht auf dem Marktplatz, höre ich Wimmern und Ächzen der Verwundeten, nach ihren[103] Eltern schreiende Kinder, höre ich ein wildes Durcheinanderrufen, Fluchen, Kommandos, Wagengerassel. Einmal umklammerte eine Frau flehend meine Hände und schrie mich in deutscher Sprache an: Ich möge mit ihr in ihr Haus eilen, es würde dort geplündert. Ich ging auf der Stelle mit ihr. Als ich eintrat, war ein Zimmer voll von Füsilieren. Der Älteste meldete mir, stramm wie im Frieden: daß sie die Frau um Leinen zu Fußlappen gebeten hätten. Da es ihnen von ihr verweigert worden wäre, hätten sie sich es selbst genommen. Ich gab meinen Soldaten recht. Die Frau beruhigte ich, daß ihr in ihrem Hause nichts sonst geschehen würde. Die Mannszucht, auch in dieser Nacht, war gewahrt wie in der Kaserne. Die Unteroffiziere und Korporalschaftsführer hatten ihre Leute völlig in der Hand.

An Schlafen und Essen war nicht zu denken.

28.6.66. Morgens aus Nachod wieder hinaus. Marsch am Schloß vorüber. Gleich sehr anstrengend. Große Hitze und großer Durst. Beim Antreten wurde uns bekannt gemacht, daß für den schwerverwundeten General von Ollech Oberst von Below (vor Metz gestorben) das Kommando der siebzehnten Infanterie-Brigade übertragen worden sei. Der Kommandeur unsres zweiten Bataillons, Oberstleutnant Freiherr von Eberstein (bei Vionville an der Spitze seines Regiments gefallen), ein sehr ruhiger, ausgezeichneter Offizier, hatte unser Regiment übernommen.

Einmal blitzten uns aus der Ferne Kavalleriemassen entgegen. Wir hielten sie für Österreicher. Es[104] war aber die schwere Garde-Kavallerie-Brigade, die Prinz Albrecht (Sohn), Königliche Hoheit, befehligte. Sie sah im hellsten, brennendsten Sonnenlicht herrlich aus, wie aus einem andern Stern fließend.

Sowie wir auf der Höhe angekommen waren, fing die österreichische Artillerie an, uns heftig zu beschießen. Sie schoß außerordentlich genau. So lange wir im Kampfe standen an diesem Tage, hatten wir Granaten und unter Umständen Kartäsch- und Schrapnellfeuer auszuhalten. Das schwerste ist für die Truppe, still in Ruhe aushalten zu müssen. Doch wir gingen bald wieder vorwärts, Schützen vor uns. Ich hörte einmal in einer brennenden Scheune ein Geschrei, wie ich es nie gehört hatte. Als wir das verrammelte und geschlossene Tor sprengten, hing ein Pferd dort, halb verkohlt auf der einen Seite, an einer eisernen Halfter. Ich sprang sofort vor und erschoß es mit meinem Revolver. Das war das einzige Mal in meinem Leben, daß ich ein Pferd schreien gehört habe. Niemals werde ich es vergessen können.

Ein Hügel vor uns (auf den Karten: 788) war stark besetzt. Die ihn haltenden Feinde, das Jägerbataillon fünf, schickten uns ein verheerendes, vernichtendes Feuer entgegen. Dazu waren wir in demselben Maße den Batterieen der Brigade von Fragnern ausgesetzt. Winterfeld befahl mir, mit meinem ersten Zuge den Hügel zu stürmen. Marsch, Marsch, Hurra! Ich sprang über einen Weggraben und rannte mit meinen Leuten gegen die Jäger an. Diese, kaltblütig, klug und sehr umsichtig geführt, sandten uns einen solchen Hagel entgegen, daß wir, wie physisch geblendet, einige[105] Schritte zurückprallten und uns in den Straßengraben warfen, von wo aus wir ein Feuergefecht einleiteten.

Das war jedem klar, der Hügel mußte genommen werden. Eberstein ließ nun zum Vorgehn blasen und schlagen. »Auf!« schrie ich. Mit mir stürmten Winterfeld und Pannwitz. Ich kam dicht vor die Gewehrläufe der Jäger, die wie eine Mauer stehen blieben.

Von nun ist mir alles wie ein Durcheinander. Vielleicht war es das letzte, was ich sah, wie Winterfeld (gefallen bei Weißenburg vor seinem Bataillon) und Pannwitz mit gezogenen Säbeln vorwärts stießen. Winterfeld wurde schwer durch die Brust geschossen. Pannwitz wurde das rechte Bein zerschmettert. Er starb im Lazarett im Juli. Das ganze Regiment hatte ihn geliebt und unendlich hochgehalten. Mein Feldwebel Bruns brach tot zusammen. Ein mir entgegentretender österreichischer Offizier schoß, zwei Schritte von mir, mit seinem Revolver auf mich. Er traf mich in den Unterleib; ich sank auf der Stelle ohnmächtig zusammen. Der Schuß war aufgehalten durch Rock, Hose und Hemd, und war außerdem sehr abgeschwächt durch mein Säbelkoppel. Eine größere Ader war getroffen und ich blutete überaus stark.

Wie lange ich gelegen habe, ahne ich nicht. Als ich erwachte, sah ich nur Tote und Verwundete neben mir. Der Offizier, der mich geschossen hatte, lag tot, dicht bei mir. Mein neben mir gebliebener Sergeant Nimphius hatte ihn mit seinem aufgepflanzten Seitengewehr durchbohrt. Mein Rächer. Ich fiel sofort wieder in Ohnmacht. Wie ich nach dem Forstamt oder nach dem Vorwerk[106] Dubno gekommen bin, weiß ich nicht. Ich erwachte dort mitten zwischen den Verwundeten. Meine Kleider waren mir fast völlig vom Leibe gerissen. Die Ärzte und Lazarettgehilfen eilten bis zur Todmattigkeit unter uns umher und taten ihre äußerste Pflicht. Ich lag zwischen preußischen und österreichischen Verwundeten und hörte das Ächzen und Stöhnen und Schreien. Da ich noch nicht verbunden war und mich die Wunde nicht schmerzte, auch aufgehört hatte zu bluten, so schrieb ich meinen nächsten Nachbarn, so gut es ging, auf herumliegendem Papier mit Bleistift Briefe: Ein österreichischer, auf den Tod getroffener Offizier sagte mir mit schwacher, sterbender Stimme vor: »Liebe Giesi, ich bin leicht verwundet. Bald ...« da hörte ich seine Stimme nicht mehr. Er war verschieden. Nun wurde ich noch einmal, wohl durch den starken Blutverlust, ohnmächtig. Als ich erwachte, war ich verbunden; man hatte mir ein großes Pflaster aufgeklebt. Ich fühlte mich durchaus gestärkt, sprang auf und humpelte auf den Biwackplatz zu meiner Kompagnie, die mich mit Hurra begrüßte. Wir lagerten mitten auf dem Schlachtfelde. Brauchte man ein Kopfkissen: es gab so viel Gefallene dicht um uns: wir konnten unsre Häupter auf sie legen. Wie gestern wars eine helle Mondnacht. Ich konnte sehen, wie meine Westfalen mit Wasser hin und her liefen, um die Verwundeten zu tränken, Freund und Feind.

Auf einem der Märsche, bald nach Königgrätz, mußte ich einmal, weil mich meine Wunde immer mehr schmerzte, von meinem dicken Braunen hinunter. Ich bat einen Arzt, er möchte sie untersuchen. Der[107] schlug die Hände überm Kopf zusammen und wollte sich zuerst ausschütten vor Lachen: »Welches Rindvieh hat Ihnen denn die spanische Fliege aufgebackt? Mein Gott, das hätte schlimm werden können.« Er nahm das falsche Pflaster ab und verband mich richtig nach allen Regeln der ärztlichen Kunst.

In der Eile hatte in Dubno irgend einer mich rasch untersucht und mir dabei das unrichtige Pflaster aufgeklebt. Verzeihlich.

Wieder im Sattel. Vorwärts!


* * *


Kai von Vorbrüggen war durch die Neugestaltung des Heeres unmittelbar nach dem Österreichischen Kriege wieder nach Mainz versetzt worden zu einem der neuen Regimenter. In ein früher kurhessisches Regiment. Mainz, das Goldne Mainz, nahm ihn zum zweiten Mal in seine Mauern.

Das Regiment hatte eine Geschichte hinter sich von zweihundert Jahren. Es hatte seine ruhmreichen Fahnen im spanischen Erbfolgekrieg entrollt, in Holland, am Rhein, in Bayern und in Italien. Vor Lille und Tournay, bei Malplaquet hatte es im Feuer gestanden. Im österreichischen Erbfolgekrieg in den Niederlanden, am Rhein und Main und in Bayern. In Schottland kämpft es gegen Carl Eduard Stuart. 1756 finden wir es in England im Lager bei Winchester. 1757 erobert es bei Hastenbeck eine Batterie. Bei Bergen und Minden. Bei Warburg an der Diemel, wo es zwei Schweizer Regimenter über den Haufen wirft.[108] Auch in Amerika ist es gewesen. Hier, wie in den Befreiungskriegen, 1814 und 1815, und später in Baden, Schleswig und Jütland: überall zeigt sich die Treue und Tapferkeit, die Mannszucht, die Zähigkeit und Ausdauer des berühmten Regiments. Wahrlich, eine heldische Vergangenheit.

Mainz, ach Mainz. Namentlich für die jungen Offiziere gehört es zu den Idealstädten des deutschen Reichs. Seine Geschichte, die bis auf zweitausend Jahre hinab zu verfolgen ist: die vielen römischen Erinnerungen auf Tritt und Schritt, Drusus Germanicus, Domitian, Diocletian, die vierzehnte Legion und die zweiundzwanzigste, die von Mainz nach Jerusalem und seinen Nachbarstädten verlegt wurde, Völkerwanderung, Karl der Große. Im Mittelalter glänzt die hohe Bedeutung von Mainz. Der Dom, die Erzbischöfe, Friedrich Rotbart. Mainz, eine Zeitlang das Haupt des Städtebundes, von Basel an bis an die Nordsee. Gutenberg. Und immer floß und fließt, Welle auf Welle, der deutsche Rhein vorbei und festigt in unsern Herzen: Deutsch soll er bleiben.

Rheinauf, rheinab: Die großen Dampfschiffe mit ihren Hunderttausenden von frohen Gästen. Alle die zahlreichen Städte und Städtchen, Burgen und Weinberge, die Felsen und Inseln. Wo man aussteigt und fröhlich ist: Von Mainz bis Bonn und von Bonn bis Mainz.

Kai mietete eine Wohnung in der Nähe des Nasengäßchens, Domstraße 6, im Kalten Loch, wie die enge Straße hinterm Dom vom Volk genannt wird. Hier wohnte er in einem zurückgelegenen Hause beim[109] lieben alten Wagenlackierer Imhof; in demselben Hause mit mehreren Kameraden, die alle ihre gemütlichen Zimmer dort hatten. Eine Akazie hing und hängt noch heute ihre Zweige vom Vorhof hinüber ins Gäßchen.

Es kam die Zeit für ihn, von der die holländischen Kaufleute sagen, wenn sie einen Lehrling nehmen: »Heeft hy geraasd, of zal hy nog razen?« (Hat er gerast oder soll er noch rasen). Es kam die Zeit mit den lustigen Mädels und Mädelsgeschichten, wo kleine unschuldige Liebesstündchen so wichtig und verschwiegen sind wie Staatsgeheimnisse, wo allerlei Briefchen ankommen: »Lieber Kai, wie bist Du doch immer so lustig. Donnerstag komme ich wieder um 6 Uhr. Dein Friedchen (wie nanntest Du mich noch?) Trallala.« Oder: »Lieber Kai, komme morgen abend 8 Uhr. Dann ist Frau Berglehner abgereist. Die Mädchen dürfen auch die acht Tage bei ihren Eltern sein. Nur Klara kommt jeden Morgen um 7 Uhr, um rein zu machen. Deshalb mußt Du immer um 6 Uhr schon fortgehen. Das läßt sich nicht ändern. Dein Julchen.« Oder: »Geehrter Herr Leutnant! Sein sie so gut und erfüllen sie meine Bitte und komm morgen abend 11 Uhr an der Ecke von die Emerichjosefstraße. Dann habe ich Zeit. Hochachtungsvoll schreibt sie die Sangerinn Maria Tetzel.« Oder: »Lieber Kai! Komme doch bitte morgen abend ¾9 Uhr zu mir. Bin allein. Alles ausgegangen. Du weißt ja Bescheid. Deine Kati.« Usw., wies so geht in jungen Jahren.


* * *
[110]

Von Mainz sind Wiesbaden und Homburg leicht zu erreichen. Auch Baden-Baden liegt nicht fern von Mainz. In diesen drei Bädern wütete damals das öffentliche Spiel. Kai fand Gefallen am Spiel, und fand mit der Zeit so viel Gefallen daran, daß er immer öfter an seinen dienstfreien Nachmittagen in Zivil nach Wiesbaden oder Homburg fuhr und auch Baden-Baden besuchte, wenn er die Stunden dazu erübrigen konnte. Das kostete ihn viel Geld und immer mehr Geld. Auch fing er an verschwenderisch zu leben: aus Petersburg hatte er sich zwei teure Füchse, mit bis auf den Boden reichenden Schweifen, gekauft. Zu den beiden Füchsen gehörte ein hübscher Wagen. Meistens fuhr er selbst. Die Mütze saß ein ganz wenig schief auf dem Ohr. Im Überrock trug er stets eine gelbe Rose. Hinter ihm, mit gekreuzten Armen, saß der Groom. Neben ihm saß sein schneeweißer Pudel Hurra. Man hielt ihn für einen der reichsten Offiziere von Mainz.

Enewold bezahlte alle seine Schulden, zu jeder Zeit. Vielleicht, daß er sich sagte: Laß ihn jetzt austoben. Besser jetzt, als später. Aber allmählich wurden Kais Ausgaben immer größer. Seine fortwährenden Briefe um Geld ließen Enewold endlich an den Kommandeur des Regiments schreiben; er bat ihn, einmal gütigst mit Kai zu sprechen und, falls es ihm recht sei, ihm selber über dessen Leben in Mainz Aufklärung zu geben. Zugleich bat er den Obersten, Kai auf einige Wochen nach Tangbüttel Urlaub geben zu wollen.

Eines Tages wurde Kai zu seinem Regimentskommandeur[111] befohlen. Der Oberst war ein strenger, sonst gütiger Mensch, den seine Offiziere hochhielten und verehrten.

Kai stand in dienstlicher Haltung vor seinem Regimentskommandeur und sah ihm gespannt in die Augen, denn er ahnte nicht, weshalb er befohlen sei. Der Oberst hielt Enewolds Brief in der Hand:

»Ich habe hier einen Brief von Ihrem Verwandten, dem Grafen Vorbrüggen in Tangbüttel, worin er mich bittet, Ihnen einige Wochen Urlaub zu geben. Zugleich aber auch wünscht er, ihm über Ihr außerdienstliches Leben Auskunft zu geben und ihn namentlich darüber zu benachrichtigen, wo Sie mit dem vielen Gelde, das er Ihnen fort und fort auf Ihre Briefe sendet, bleiben. Ich habe nicht das Recht dazu, mich in Ihre Privatangelegenheiten zu mischen, so lange diese nicht irgendwie Kreise berühren, die sich mit der Stellung eines Offiziers nicht decken lassen. Sie sind ein tüchtiger Offizier und beliebter Regimentskamerad. Keine Klage wegen Schulden ist je über Sie eingereicht worden. Ich habe nichts an Ihnen auszusetzen. Aber eins erwähne ich hier, und da nehmen Sie, jetzt spreche ich nicht dienstlich, meinen kameradschaftlichen Rat an: Sie spielen. Sie wissen, daß jedem preußischen Offizier das Glücksspiel, das öffentliche Glücksspiel insbesondere, verboten ist; durch die große Güte und Fürsorge Seiner Majestät. Das Spiel ist das größte Laster, es kann uns Menschen vernichten. Es verdirbt nicht allein, es vergiftet schließlich das ganze eigene Sein und Leben. Es tötet mit der Zeit jede andre[112] gute und schlechte Leidenschaft. Das hab ich allerdings bis jetzt in keiner Weise bei Ihnen bemerkt. Aber ich ersuche Sie, dies bei sich in aller Ruhe überlegen zu wollen: Jeder ist seines Glückes Schmied. Es ist mein Wunsch, daß Sie mir, wenn Sie sich vom Urlaub zurückmelden, in die Hand versprechen: Ich spiele nicht mehr. Noch einmal: Das Spiel ist die Schändung des Körpers und die Entehrung der Seele.«

Kai ging wie betäubt aus dem Hause seines Obersten. Darauf war er nicht gefaßt gewesen. An demselben Abend fuhr er, am achten Juli, auf Urlaub nach Tangbüttel. Mit ihm in demselben Zuge ging ein langer Brief seines Regimentskommandeurs an Enewold ab.

Zwei Tage darauf, am Abend des zehnten Julis, an einem stillen, unvergleichlich schönen Sommerabend, saß er mit Enewold auf einer blendend weißen Bank im Park von Tangbüttel. Enewold hatte ihn an diesen Platz geführt, weil jede Möglichkeit des Belauschtwerdens hier ausgeschlossen war.

»Lieber Kai, ich habe dich mal sehen müssen, weil wir allerlei zu besprechen haben, das sich nicht länger aufschieben läßt.

Deinem fortgesetzten Verlangen nach Geld habe ich ohne ein Wort immer nachgegeben. In der letzten Zeit haben deine Forderungen aber so zugenommen, daß ich mir erlauben mußte, bei deinem Regimentskommandeur anzufragen, mich über dein Privatleben zu unterrichten. Er hat es mit einer Liebe und Freundlichkeit für dich getan, daß du es ihm[113] allein zu danken hast, wenn ich zu dir wie zu meinem Freunde jetzt sprechen will. Wenn trotzdem meine Fragen und Ansichten etwas akademisch, ja langweilig klingen werden, so nimm das so auf, daß ich dich nicht mit polternden Strafpredigten peinigen will.

Lieber Kai, das, was ich vermutet habe, ist mir durch den Brief deines Regimentskommandeurs bestätigt worden: Du bist ein Spieler. Denn auf andere Weise lassen sich deine großen Ausgaben nicht erklären. Was dir dein Oberst, wie er es mir schreibt, darüber gesagt hat, ist in jedem Wort auch meine bestimmte Meinung. Ich bitte dich jetzt: Überlege dir bis morgen: ob du mir dann dem Ehrenwort geben willst, von da an nicht mehr zu spielen, weder im Kreise deiner Kameraden, noch an einer öffentlichen Spielbank. Ich werde dies morgen, ehe du mir dein Ehrenwort gibst, noch näher darlegen. Es war nicht recht von mir, dir bis heute noch nicht meine Vermögensverhältnisse klar auseinanderzusetzen. Ich tat es besonders deshalb nicht, um dich nicht schon jetzt, oder besser bis jetzt, zu belasten mit allen den Unbequemlichkeiten, Unerquicklichkeiten, Sorgen, die die Verwaltung eines großen Vermögens mit sich bringt. Aber jetzt ist die Zeit gekommen, dich darüber genau zu unterrichten.

Nun meine zweite Bitte, die du auch bis morgen dir überlegen willst. Dieser Wunsch ist: daß du, schon von hier aus, deinen Abschied einreichst.«

Kai sprang auf. Er war leichenblaß geworden[114] und wollte leidenschaftlich antworten. Doch Enewold zog ihn auf die Bank zurück und fuhr ruhig fort:

»Mein lieber Kai, ich weiß, was in dir vorgeht, und begreife und würdige es durchaus. Übereile in diesem Augenblick nichts, überlege es dir bis morgen, und gib mir jetzt nur noch einige Minuten, damit ich zum Schluß komme. Es ist ganz unmöglich, daß du dich von Mainz aus, von deinen dortigen Verhältnissen aus, mit allen diesen Vermögenssachen in Verbindung bringen kannst. Dazu mußt du dich bei mir in Tangbüttel, einige Zeit wenigstens, aufhalten, damit du in das Gewebe hineinsiehst. Nur das eine will ich noch sagen und dich damit überraschen: In dieser Stunde ist deine Mutter eingetroffen und erwartet dich in ihren Zimmern. Berate alles mit ihr. Sie weiß von meinen Plänen und von dem, was ich hier eben ausgesprochen habe, noch nichts. Erzähle ihr alles. Und dann gib mir morgen deine Antwort.«

Beide erhoben sich. Kai sprach kein Wort. Enewold ließ ihn schweigsam bleiben. Er wußte, was alles durch Kais Seele stürmte in dieser Stunde.

Frau von Vorbrüggen empfing ihren Sohn und zog ihn an ihr Mutterherz. Bis spät in die Nacht berieten und überlegten Mutter und Sohn.

Es war weit über Mitternacht, als sie sich endlich trennten. Frau von Vorbrüggen hatte, wie sich das in dieser Lage von selbst versteht für eine um ihren Sohn besorgte Mutter, Kai aufs dringlichste geraten, dem Ansuchen Enewolds nachzukommen. Sie erzählte bei dieser Gelegenheit von dem märchenhaften Reichtum[115] Enewolds. Er müsse so reich sein wie einer der englischen Herzöge, denen der Grund und Boden von London gehört. Es war nur menschlich von ihr, daß sie in ihren Sohn drang, schon deshalb nachzugeben, weil es möglich sein könnte, daß, falls er sich weigere, Enewold ihn enterben oder wenigstens auf ein Pflichtteil setzen würde. Sie erzählte ihm weiter, was man sich in Schleswig-Holstein von Enewolds krankhaften Wutanfällen zuflüsterte. Die letzte Geschichte von ihm sei vor einigen Wochen sogar durch Provinzblätter, wenn auch nicht in gehässiger Weise, in die Welt gedrungen: Dem Wagen Enewolds sei auf der Segeberger Landstraße ein Wägelchen mit einem Kinde, das von der Mutter, einer Arbeiterfrau, geschoben wurde, zwischen die Pferde geraten; wohl durch die Ungeschicklichkeit der Frau oder aus welchem Grunde immer. Enewold wäre in maßloser Wut auf die Erde gesprungen und habe den kleinen Wagen mit dem Kinde, das wie durch ein Wunder von den Hufen nicht getreten worden sei, in den Graben geworfen, ohne daß dem Kinde auch hier ein Schaden geschehen.

Frau von Vorbrüggen schlief, wie stets in Tangbüttel, in den Gemächern der Königin, und Kai in seinem Königsbett.

Am andern Morgen sollte alles geordnet werden. Kai wollte dem Grafen die Bitten gewähren, wenngleich ihm der Gedanke, den Abschied von seinem Regiment zu nehmen, das Herz abzustoßen drohte.

Nicht ganz so früh wie gewöhnlich saß man beim ersten Frühstück. Der Zeitungsreuter, wie er genannt wurde, war aus Hamburg angekommen. Dieser Zeitungsreiter, der auch zuweilen einen kleinen Wagen benutzte,[116] je nach dem Wetter, war eine der wenigen Ausgaben, die sich Enewold gönnte. Jeden Morgen, ganz früh; mußte er weg nach Hamburg, um die erste Post in schnellster Gangart nach Tangbüttel zu bringen. In ganz Hamburg war dieser Zeitungs- und Depeschenreiter bekannt. In den Blättern, die er heute gebracht hatte, standen aufregende Meldungen, Berichte und Vermutungen über den unmittelbar bevorstehenden Krieg zwischen Frankreich und Deutschland. Da konnte sich Kai nicht mehr halten. Er bat, sofort abreisen und sein Abschiedsgesuch erst nach dem Friedensschlusse einreichen zu dürfen. Enewold gewährte ihm selbstverständlich seine Bitte. Kai hätte sich auch durch nichts abhalten lassen. Die Abreise Kais wurde auf den nächsten Morgen fünf Uhr festgesetzt.

Nach dem Frühstück gingen Frau von Vorbrüggen, Enewold und Kai auf Enewolds Zimmer. Hier gab, mit Handschlag, Kai sein Ehrenwort, daß er von heute an nie mehr an einem Glücksspiel teilnehmen wolle. Er hat sein Wort gehalten.

Am Mittag ritt Kai noch einmal in die Umgegend, die er liebte, die er seit langen Jahren kannte. Er ritt auch nach dem kleinen Wirtshaus Pukaff, dessen Besitzer ihm wert war. Kaum hatte er sein Pferd abgegeben und war ins Gastzimmer getreten, als er sich von einer Zigeunerschar eingeschlossen sah. Zum größten Ärger Enewolds belästigten diese Asiaten, die übrigens aus Schlesien waren, seine Ländereien jahraus, jahrein. Er konnte sie auf keine Weise loswerden.

Kai gab den ihn aufgeregt umringenden Kesselflickern[117] und Gänsedieben, nach seiner freigiebigen Art, viel Geld und Getränk. Eine alte gekrümmte Frau aus dem Haufen beschwor Kai, ihm wahrsagen zu dürfen. Er erlaubte es. Sie murmelte denselben Unsinn und Hokuspokus, den sie jedem sagte, der ihr die Hand hinhielt. Kai war nicht zufrieden damit und ersuchte sie lächelnd, ihm zu sagen, wann und wo er sterben werde. Die Zigeunerin nahm noch einmal seine Hand. Alles um sie und Kai herum war plötzlich ganz still geworden. Sie prophezeite ihm in ihrem gemietlichen schläsischen Deutsch, einmal werde er, nach vielen, vielen Jahren, in einer Winternacht, auf einer großen weißen Fläche gehn und stehn: Er werde immer seine Augen auf einen roten Stern richten und seine Arme wie verlangend ausbreiten nach dem Stern. Dieser Stern nähme ihn zu sich. Auf Erden sei er dann für immer verschwunden, und niemand würde jemals eine Spur von ihm finden.

Kai ließ seine Hand fallen, schenkte der Bettlerin ein Goldstück und ritt langsam und in sich gekehrt nach dem Schloß zurück. Sonderbarerweise nicht erregt wegen der wunderlichen Prophezeiung des Zigeunerweibes. Versunken in eine ihm nicht klar werdende Sehnsucht, kam er, tief in Gedanken, auf dem Gute an. Und war doch sonst ein lustiger Leutnant, der sich den Teufel viel mit ähnlichen Gedanken beschäftigte.

Bis zum Essen, um sechs Uhr, waren die Generalin, Enewold und Kai noch viel bei einander, meistens in Enewolds Zimmer. Es wurde allerlei gesprochen und besprochen. Enewold lenkte wiederholt[118] den Gang des Gesprächs auf eine Eigenschaft Kais, auf seine Verschwendungssucht. Es war ihm rätselhaft: Er konnte in den Vorgliedern der ganzen Vorbrüggenschen Familie kein Beispiel finden. Der Vater Kais und seine Mutter, die jetzt unter ihnen sei, wären wahre Muster an Sparsamkeit und richtiger Beurteilung des Geldwertes gewesen. Der Geizhals und der Verschwender, meinte Enewold, ein wenig schärfer seine Worte einsetzend, seien ihm beide gleich zuwider. Doch wenn er wählen solle, nähme er lieber den Geizhals als den Verschwender. Der Geizhals habe wenigstens die Klugheit für sich. Der Verschwender habe ein gut Teil Dummheit in sich. Alle die Menschen, denen er wohl täte, lachten ihn zum Schlusse noch aus, daß er ihnen geholfen habe; wie denn überhaupt der Begriff Dank für ihn, Enewold, nicht vorhanden sei. Dazu käme, daß der Verschwender immer, wenn auch in den meisten Fällen unbewußt, von Größenwahn und Eitelkeit getrieben werde. Das einzige beim Verschwender könne er verstehen: Leben und lebenlassen. Ihm zusagend sei auch das nicht.

Er stand auf und nahm von seinem Schreibtisch ein biegsam gebundenes Büchlein und überreichte es Kai. Es war eine Sonderausgabe von Shakespeares Trauerspiel Timon von Athen.

»Jetzt wollen wir die letzten Stunden, die wir mit unserm Kai hier vereint sind, vergnügt sein. Kurz vorm Essen werde ich Kai noch mit drei Herren, die ich zu Tisch gebeten habe, in meinem Zimmer vertraut machen. Übrigens, glaube ich, sind sie dir schon bekannt.[119] Es sind der Advokat Doktor Schilting und zwei sehr reiche Hamburger Großkaufleute, Freunde von mir. Alle drei wissen mit meinem Vermögen und um mein Vermögen Bescheid. Es ist mir deshalb ein außerordentliches Bedürfnis, Kai diesen Herren vorzustellen.« Mit einer liebenswürdigen Verbeugung zur Generalin, schlug er ihr vor, bei diesem Stelldichein vor dem Essen zugegen zu sein. Heute dürfe sich die Mutter nicht mehr von ihrem Sohne trennen.

Um halb sechs trafen alle, die Enewold zu Tisch gebeten hatte, zusammen.

Enewold hielt seine dritte Rede, wie er sagte, in den letzten zwei Tagen; ja, er meinte, er habe nie so lange hintereinander gesprochen in seinem ganzen Leben. Er bat förmlich um Entschuldigung wegen dieser empörenden Langenweile, die dadurch entstehen mußte. Er fuhr fort:

»Jeder von uns kann jeden Tag sterben, und deshalb spreche ich zu Ihnen, ehe mein Vetter abreist. Es ist ja ebenso möglich, daß er mich nicht mehr vorfindet, wie daß ich ihn nicht wiedersehe. Sterb ich eher, so ist er, wie Ihnen schon lange bekannt ist, als der Letzte meines Hauses, der Erbe meiner Grafenkrone wie der Erbe meines Gesamtvermögens.«

Enewold gab den drei Herren die Hand, dankte ihnen für ihre langjährige Freundschaft und empfahl ihnen seinen Vetter Kai. Ein knappes, kurzes Wort über seine Vermögensverhältnisse folgte, nachdem er Kai noch vorher die Länder genannt, wo er Besitzungen hatte, und die Güter darin: Südfrankreich und Spanien,[120] Rußland und Jütland. In Jütland hieß seine Baronie Lillehammer und Mariagerhuus. Er erwähnte ferner, zum höchsten Erstaunen Kais, daß er (Kai) später über mehr als eine Million preußischer Taler jährlich zu verfügen haben werde, also über eine Million jährlicher Zinsen, wenn er, Enewold, das Wort Zinsen als Gesamtbegriff nähme für alle Einkünfte, Erträgnisse, Renten, Gefälle und dergleichen aus beweglicher und unbeweglicher Habe, die Ernten der Güter und ihren Viehertrag, auch, soweit sie verpachtet seien, die Pacht; dabei wären etwaige Verluste, Mißernten, Kursrückgänge u.s.w. nach bestem Ermessen und nach den Erfahrungen vieler Jahre schon mit veranschlagt. Zuletzt betonte er, daß er ein geborener Kaufmann sei, daß er zu den Geldmenschen gehöre, die jedes Mal, wenn sie die Finger auf den Tisch legten, zehn Dukaten in die Höhe zögen, an jedem Finger einen.

Endlich schlug er vor, diesen »öden Gegenstand« zu verlassen und zu Tisch zu gehen, wo es jedenfalls angenehmer sei als bei diesem Gespräch.

Als Mutter und Sohn später ihre Zimmer betreten hatten, waren beide sprachlos, denn von solchem unermeßlichen Vermögen hatten sie auch nicht die leiseste Ahnung gehabt. Selbst die sehr fromme Generalin ließ einmal alle ihre himmlischen Vorstellungen unterwegs und wandelte in dieser Stunde nur noch mit ihrem Sohn auf den irdischen Bahnen.


* * *


Bei Tisch, im Roten Zimmer, war es wie stets: Alles en grande tenue, wie es die Franzosen, unübersetzbar,[121] bezeichnen. Es fehlten nur die beiden kleinen drolligen Prinzen Swienkulensk. Anwesend waren, außer den drei Herren zum Besuch, die Generalin, Enewold, Kai und Tante Malchen. Enewold saß wieder zwischen Frau von Vorbrüggen und Tante Malchen, die alt geworden zu sein schien. Hinter Enewolds Stuhl stand noch immer der sonderbare Greis mit dem fuchsroten Kakaduschopf, Herr Jürgensen, der alte Haushofmeister. Heute pendelte die Unterhaltung nicht in verschiedenen Sprachen; sie wurde deutsch geführt. Natürlich wurde fast nur von dem drohenden Kriege gesprochen, an dessen Ausbruch keiner mehr zweifelte. Die Generalin, als echte deutsche Offiziersfrau, war stolz, daß ihr Sohn, ihr einziges Kind, mit in den Kampf ziehen mußte.

Als sich die drei Herren aus Hamburg empfohlen hatten, blieben Mutter, Sohn und Enewold noch eine Stunde zusammen. Enewold gab noch manche Erklärungen: In der Provence habe er ein Gütchen gekauft an der Durance. Von hier wolle er später, falls ihm das seine Zeit erlaube, Nachforschungen anstellen nach der Familie und besonders nach dem berühmten Troubadour Raimon devant le Pons, der entschieden so kohlrabenschwarze Augen gehabt haben müsse wie Kai. Auch erzählte er, daß er Marseille besonders liebe und das Mittelmeer. Aber er komme wohl nicht mehr dazu, noch einmal hinzureisen.

Die Ruhestätten wurden aufgesucht. Kai konnte vor lauter Erregung lange nicht einschlafen.

Um fünf Uhr früh fuhr er ab. Seine Mutter und[122] Enewold sahen ihm nach, bis er verschwunden war. Sein letzter Blick flog beim Durchfahren des Gutstores über die kleinen lustigen Figuren aus Sandstein, mit denen der Grasplatz vorm Herrenhause umstellt war. Sie waren das Geschenk eines dänischen Königs aus früherer Zeit. Diese kleinen drolligen Gestalten schienen, nach der Tracht, die sie trugen, aus der Mitte oder aus dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts zu stammen; sie mochten auch in dieser Zeit entstanden und hier aufgestellt worden sein. Augenscheinlich sollten sie damaligen »Untertanen« zeigen, den Bauer, Perdoktor, Verwalter, Torfmann, Großknecht usw.

Gleich nachdem sich Kai in Mainz vom Urlaub zurückgemeldet hatte, traf der Mobilmachungsbefehl ein.


* * *


(Nach Kais Tagebüchern, Briefen und Erinnerungen.)


Ich kann in meinen Tagebüchern auch für diesen Krieg nur das wiedergeben, was ich als Leutnant in meinem kleinen Beobachtungskreise erlebt und gesehen habe. Das ist nicht viel, aber für meine persönlichen Erinnerungen wird es mir ein ewiges Gedenken sein.

7.8.70. Mainz. Der König hatte uns Offiziere heute um sich versammelt, um von uns Abschied zu nehmen. Es ging eine große Ruhe und Würde von ihm aus, sein ganzes Wesen war voll ernster Entschlossenheit, ohne jede Überhebung; er sprach einige Worte. Dann stieg er ein in seinen Bahnwagen. Moltke, der tief in Gedanken schien, und der schöpferische Roon folgten dem König. Zuletzt kam Bismarck, die Hühnengestalt. Schon im Wagen, drehte er sich noch[123] einmal um und rief uns lachend etwas zu, während er sich auf den Schenkel klopfte. Ich konnte es nicht verstehen, was er sagte; andre wollen gehört haben, daß er aus der schönen Helena laut gerufen habe: »Jetzt gehts los, jetzt gehts los.« Ähnlich siehts ihm.

Wir hörten, daß besonders viele Offiziere gefallen und verwundet seien bei Saarbrücken, Weißenburg und Wörth.

8.8.70. Ich bin Adjutant beim General von Kummer. Soeben habe ich mein Regiment vors Tor gebracht. Es war mir in tiefster Seele schmerzlich. Ich werde den General bitten, mich dem Regiment nachzuschicken. Das ist nicht recht von mir. Man soll nicht vorgreifen.

12.8.70. Kaiserslautern. Der General hat meine Bitte liebenswürdig gewährt; aber er drohte mir lächelnd mit dem Finger und sagte: »Wir werden ja sehen.«

Noch nicht in Feindes Land, aber schon bin ich mitten im Kriegsgetümmel. Von Mainz bis Mannheim fuhr ich mit dem dritten Reserve-Dragoner-Regiment. Traf Rothkirch, Detering, den Grafen Dohna, die Fürsten Pleß und Carolath. In Worms fand ich Frau von Polentz, die zu ihrem bei Wörth schwer verwundeten Mann, Hauptmann von Polentz, wollte, meinem alten Regimentskameraden. Die arme Frau. Ich half ihr, so gut ich konnte, zum schnellen Weiterfahren, und so lange es meine knappe Zeit erlaubte. In Frankenthal trafen wir zwei Marketender, die geplündert hatten. Sie sollten standrechtlich noch heute erschossen werden. In Mannheim fürchterliches Gewitter. Hier wurde das dritte Reserve-Dragoner-Regiment in strömendem Regen ausgeladen. In Ludwigshafen[124] aß ich zu Mittag mit Herrn von Phillippsborn vom Auswärtigen Amt, mit einem Rittmeister von Arnim und mit einem Leutnant vom Zehnten Regiment. Dann fuhr ich weiter mit Phillippsborn und mit dem Landrat Janson, der auf Befehl des Königs ins Hauptquartier eilt, um als Zivil-Bevollmächtigter in französischen Landstrichen zu wirken. In Schifferstadt traf ich zu meiner Freude einige Schleswig-Holsteiner, die in ihrer altgewohnten Ruhe damit beschäftigt waren, Bier und Butterbrot in Mengen zu verzehren. In Neustadt trank ich manchen Steigbügeltrunk: mit dem Grafen Bredow und Major von Schickfuß, den ich von meiner Potsdamer Zeit her kenne. Trennung von den Johannitern, die von hier nach Weißenburg fahren. Ein uralter, sechs Fuß hoher Johanniter mit langem schneeweißem Bart küßte mich beim Abschied. Bis nach Kaiserslautern saßen wir die ganze Nacht in einem Viehwagen, wir Offiziere mit unsern Burschen: bald auf einem Pack Feldpostbriefen, bald auf den Brettern, bald auf übriggebliebenem faulem Stroh. Ein ewiges Haltmachen des Zuges. Endlich in Kaiserslautern. Hier sah ich General von Kettler und ein Bataillon vom Einundzwanzigsten Regiment weiterfahren. Schlechtes Quartier. Aß mit den Siebenten Ulanen und traf endlich mein Regiment. Hurra! Ich sah Hoen, Roques und Busse zuerst. Wir sind sehr besorgt wegen des schwer erkrankten Hauptmanns von Gallwitz vom Zweiundvierzigsten Regiment. Morgen geht es mitten in die Pfalz hinein.

15.8.70. Rhoden bei Saarlouis. Ich habe[125] dreizehn Stunden ununterbrochen schlafen können. Das hat mich tüchtig wieder auf die Beine gebracht.

17.8.70. Chateau rouge. Lothringen. Das erste feindliche Quartier. Bei Herrn Dorr. Wir armen ausgehungerten Menschenkinder haben unglaublich viel gegessen. Es tat uns gut. Nachts Windstille. Aussicht aus meinem Fenster in einen verwilderten Park.

19.8.70. Vor Metz. Gefecht bei Villers l'Orme. Granaten, die aber, wie in äußerster Verwirrung, aufs Geratewohl auf uns geschossen wurden aus dem Fort St. Julien. Keine einzige traf. Der Oberst ließ die Fahnen unter lautem Hurra entfalten. Die vierte Kompagnie ging dicht bis an den Wald von Grimont vor. Wir wären ganz ruhig nach Metz hineinmarschiert, ins Fort St. Julien. Aber dann würden wir auch bald wieder zurückgeworfen oder vernichtet worden sein. Drei große Schlachten sollen in diesen Tagen vor Metz geschlagen und die Franzosen in die Festung gedrängt sein. Näheres wissen wir noch nicht, obgleich wir nur ein paar Meilen von diesen Schlachtfeldern entfernt sein müssen. Busse, der vorzügliche Reiter, jagte auf seinem entzückenden (das Wort muß ich hier brauchen) polnischen Apfelschimmel einem französischen Infanteristen nach; das konnten wir alle sehen. Er bog sich zu dem das Gewehr wegwerfenden, fliehenden Soldaten nieder mit dem Geschick eines verfolgenden Indianers. Schon hatte er den Flüchtling beim Kragen, sich weit und tief nach rechts vom Pferde biegend. Da gelang es noch dem Franzosen, wie ein Aal zu entschlüpfen. Busse hielt nur das rechte wollene[126] Epaulett in der Hand und schwang es hoch. Alles lachte und alles beglückwünschte den kühnen Reiter. Jetzt ist es mitten in der Nacht. Wir hören in unserm Biwack aus der Festung her fortwährend Marschmusik, Trompeten, Trommeln, Signale und ein ununterbrochenes Wagen- und Geschützgerassel. Der Feind, der mit großen Massen in die Mauern zurückgegangen ist, kann augenscheinlich nicht zur Ruhe kommen. Morgen müssen wir endlich Näheres erfahren.

24.8.70. Vor Metz. Aus unserm Biwack bei Charly als Feldwache Zwei in die äußersten Vorposten befohlen, nach Rupigny. Unmittelbar vor mir liegt das Dorf Chieulles, das oft von unsern, oft von französischen Patrouillen besetzt ist. Nach der Ablösung fand ich ein großes, festumbundenes Pack Stroh vor. Ich war froh, daß es vergessen war, und benutzte es als Kopfkissen für die sehr kalte Nacht. Am andern Morgen kam ein Trupp Soldaten, der das Strohbündel abholen sollte. Bei dieser Gelegenheit erfuhr ich, daß ich die ganze Nacht mit dem Kopf auf einem alten Weibe gelegen hatte, das gestern, als Spion gefangen, wohl zu übereifrig, erschossen und vorläufig ins Stroh gewickelt worden sei. A la guerre comme à la guerre. Die Nacht war sonst ruhig, nur gegen Morgen hörte ich vor mir ein heftiges kurzes Patrouillengefecht. Um zehn Uhr morgens erschien vor dem bois de Grimont ein hoher französischer General mit seinem großen Stabe; es war Bazaine selbst. Er hielt dort zwei Stunden. Plötzlich löste sich von ihm ein Offizier und ritt, mit starker Begleitung, im Trabe auf uns zu.[127] Er blieb, so gut ich schätzen konnte, achthundert Schritte vor uns halten und besah uns durch sein Fernrohr. Ich befahl dem Unteroffizier Kosmaehl zu schießen. Er schoß vorbei. Der französische Offizier und seine Begleitung rührten sich nicht. Nun nahm ich selbst ein Gewehr, und, langsam und ruhig zielend, schoß auf ihn. Auch meine Kugel hatte gefehlt. Doch mußte sie ihn umzischt haben: Er lüftete sein Kaskett, blieb noch einen Augenblick halten, wie um zu zeigen, daß er sich nicht vor uns fürchte, und trabte dann gemächlich in den Wald zurück. In der Nacht klang es immer, als wenn Brücken geschlagen würden in Metz.

25.8.70. Vor Metz. Charly. Wir werden alarmiert.

26.8.70. Gefecht bei Rupigny. Von morgens zehn Uhr bis nachmittags fünf Uhr im heftigen Feuer. Nur einmal wurde unser beiderseitiges Feuer unterbrochen: als um ein Uhr ein gewaltiger Platzregen auf Feind und Freund niederprasselte. Gleich darauf sahen wir am Rauch, daß die Franzosen abkochten oder, wegen der Nässe, wenigstens versuchten abzukochen. Von da ab zogen sie sich wieder zurück in die Festung. Sie pfefferten aber noch außerordentlich stark bis fünf Uhr. Augenscheinlich hat Bazaine einen Durchbruch gewollt; hat ihn aber aus irgend welchen Gründen wieder aufgegeben.

27.8.70. Vor Metz. Ich schlafe die elfte Nacht auf Stroh. Stets scheußliches Wetter. Es sollen Minen von den Franzosen gelegt sein, ungefähr eine Stunde von Metz auf der Saarbrücker Straße. Dummes Zeug.

31.8.70. Vor Metz. Abends. Heute früh exerzierten wir. Dann nahmen wir, als wir bemerkten,[128] daß Bazaine einen ernsten Durchbruch beabsichtigte, Gefechtsstellung. Ich hatte den Kirchhof von Charly zu halten. Wir hatten hinter der Kirchhofsmauer Bretter auf Tonnen und Gerüste gelegt, um besser die Gewehre auflegen und zielen zu können. Während ich auf den Brettern stand und mit meinem Glase in die Schlacht sah, hörte ich plötzlich unter mir lispeln und leises Sprechen. Ich sprang ab und sah unters Gerüst. Hier entdeckte ich zwei Leute von einem fremden Regiment, die sich verkrochen hatten. Ich nahm sie sofort heraus und ging mit ihnen vor den Kirchhof gegen den Feind, wo die Kugeln tüchtig pfiffen. Dort kommandierte ich: »Achtung, präsentiert das Gewehr!« Stellte mich dann rechts von ihnen und senkte den Degen. So standen wir kerzengrade, ohne ein Glied zu rühren, wohl zwei Minuten. Dann entließ ich sie zu ihrem Regiment nach vorn und ging wieder hinter meine Mauer zurück. Der Oberst, dem es gemeldet, worden war, gab mir einen strengen Verweis wegen Verlassens meines Postens. Aber abends sah ich wieder sein gütiges, lächelndes Gesicht. Ich mußte ihm den kleinen Zwischenfall erzählen.

Die Leute durften den ganzen Tag den Tornister nicht ablegen. Die Nacht war sehr kalt. Wir sahen vom Kirchhof aus Rupigny und Failly brennen. Das zweite Bataillon ist in Rupigny eingeschlossen. Graf Wedel kommandiert es.

1.9.70. Vor Metz, Kirchhof von Charly. Bazaine läßt noch nicht ab. Er drängt stark auf das erste Korps. Doch Noiseville ist ihm wieder entrissen worden. Bei meinem Kirchhof wurden und werden[129] zahlreiche Verwundete vorbeigetragen; auch die Leutnants Budde und Baumann. Ich sprang zu Baumann und legte ihm auf die Brust ein Heckenröschen, das ich rasch von einem Grabe gepflückt hatte. Er lächelte mich an. Zwei Füsiliere trugen ihn auf ihren Gewehren. Da kam eine Granate und warf die beiden und den verwundeten Offizier zu Boden. Sie hatte keinem geschadet, auch dem Verwundeten nicht. Der stark blutende, ohnmächtige Offizier wurde weiter zurückgebracht.

Die ganze achtzehnte Division ging jetzt durch uns durch nach vorn. An der Spitze ritt ihr Divisionskommandeur, der Trommler von Kolding, Generalleutnant Freiherr von Wrangel. Hoch dir für immer, du wundervoller Mensch und General! Gegen unsern Flügel kämpfte, wie es heißt, Marschall Canrobert. Fort St. Julien warf unaufhörlich seine schweren Bomben auf uns. Immer wieder eilten die Mitrailleufenbatterieen vor; umsonst. Am Nachmittag mußte Bazaine zurück. Auch dieser Durchbruchversuch ist ihm mißlungen.

2.9.70. Vor Metz. Heute kam Manteuffel zu uns und dankte dem Regiment für gestern und vorgestern mit kurzen, zündenden Worten. Ich schreibe dies jetzt abends auf Feldwache zwischen Vany und Rupigny. Wir kommen aus unsern Kleidern und Hemden nicht mehr hinaus. Die Verwundeten sind alle aufgenommen und in Sicherheit. Auf meiner Feldwache finde ich in einem Gebüsch einen Toten von meinem Regiment. Er ist so fürchterlich zerschossen, daß er nur an seiner Messingnummer zu erkennen[130] war. Auch einen ganz jungen, bartlosen preußischen Jägeroffizier fanden meine Leute auf meiner Feldwache; ich wurde hingerufen. Er lag auf dem Rücken, mit auseinandergeschlagenen Armen. Seine Augen standen offen; sie starrten in die Wolken. Zuerst glaubte ich deshalb, daß er noch nicht gestorben sei. Dann merkte ichs gleich. Ich nahm Uhr, Geld, ein Notizbüchlein, und was er sonst bei sich trug, zu mir. Es wurde am nächsten Tage alles zur Weiterbeförderung an seine Angehörigen abgegeben. Auch seinen Säbel, den er noch immer mit eisernem Griff umschlossen hielt, wollte ich den Seinen retten. Fast hätte ichs nicht ausführen können. Denn er hielt ihn so fest in der Faust, daß wir ihn nur mit schwerer, vorsichtigster Mühe ohne Verletzung seiner Finger aus der Hand brechen konnten. Morgen sollen die Toten begraben werden. In Rupigny sah ich noch immer Hühner herumscharren; trotz allen Schlachtgewühls und Lärmes. Was sind das doch für unglaublich dumme, ich möchte fast sagen beneidenswerte Geschöpfe. Übrigens ein Zeichen für die preußische Mannszucht. Diese Nacht sollen aber trotz alledem ein paar von ihnen dran glauben.

3.9.70. Vor Metz. Morgens fünf Uhr. Auf Feldwache. Es war eine böse, aufgeregte Nacht. Ein häßlicher Wind stöhnt über die Leichen, zwischen denen wir liegen und die heute begraben werden sollen. Vorm Bois de Grimont erscheinen die gewöhnlichen Arbeiterabteilungen und Kavalleriepatrouillen; auch der Schimmel ist unter ihnen, den wir schon kennen. Grade meiner Feldwache gegenüber seh ich auf einem Fleck[131] ein angeschossenes gesatteltes Pferd auf drei Beinen stehen. Das unglückselige Tier. Wie geduldig es seinen Tod erwartet, ohne zu klagen. Wir können nicht hinreichen mit unsern Gewehren. Kommen wir näher hin zu ihm, so werden wir selber totgeschossen. Die Franzosen denken wohl ebenso. Wäre dieser Fall eines Unterhändlers wert? Ja! Kosmaehl, Muskate, Beck und Peiran heißen meine Unteroffiziere. Vorzüglich ist jeder in seiner Art. Man könnte mit ihnen die Welt erobern. Hier mußte ich mit Schreiben aufhören: es zeigten sich Anhäufungen hinterm Bois. Ich sandte sofort meine Meldungen.

5.9.70. Vor Metz. Im Lager wird der Rotenbergersche Marsch gespielt. Er hebt alle Herzen. Weit hinter uns schrieen sie Hurra: Napoleon ist bei Sedan gefangen genommen worden. Die halbe Erde wußte das schon am Abend des ersten Septembers; wir, die wir, man könnte sagen, nebenan liegen, erfuhren es erst eben. Wir bekamen, als die letzten Nachrichten, heute Zeitungen vom 28. August. Am Abend mußte ich nach Chieulles, um die Arbeiten der Pioniere zu decken. Ich ging allein etwas aus der Linie hinaus vor. Sofort kam eine Kugel haarscharf bei meinem Kopf vorbeigeflogen. Abends wieder mal ein Wolkenbruch. Wir schwimmen. Sürth hat glühendes Fieber.

13.9.70. Vor Metz. Die Tage gleichen sich alle einer dem andern: Sturm und ewiges Regenwetter. Wir sind immer durch und durch naß. Heute brachte Cochenhausen Liebesgaben mit. Wir bekamen allerlei. Auf einer Flasche stand: Bickbeeren aus Kiel. Das[132] Wort Bickbeeren kennt man nur in Hamburg und in Holstein. Wir aßen so gut, wie wir seit Wochen nicht gegessen hatten: es gab Reis und zähes Rindfleisch.

22.9.70. Vor Metz. Heut war ich in Rupigny auf Turmkommando. Der Großherzog von Oldenburg und der Erbprinz besuchten mich im Turm oben. Ich mußte ihnen zeigen, was es vor uns zu sehen gab. Beide waren gnädig und liebenswürdig. An die ewige Granatenheulerei vom Fort St. Julien aus haben wir uns vollständig gewöhnt.

26.9.70. Vor Metz. Auf Feldwache zwischen Vany und Chieulles. Einmal kam Weber leichenblaß zu mir: es hätten sich Spahis in weißen Mänteln durchgeschlichen durch die Posten. Ich sprang sofort in die Höhe und rief: »Auf!« Alles war gleich fertig. »Vorwärts!« Nur nicht überfallen lassen! Wirklich: etwas Weißes vor uns. Schüsse, von uns auf der Stelle abgegeben. Das Weiße fällt in sich zusammen. Es war ein verirrter Hammel gewesen. An einem versteckten, von keinem gesehenen Feuer brodelte er bald. Und hat uns in »selbiger Nacht« göttlich geschmeckt.

27.9.70. Vor Metz. Wir liegen immerfort im Granatfeuer. Heute besonders stark. Ein heftiges Artilleriegefecht nach dem siebenten und achten Korps zu. Neun Uhr Abends: In dunkler Nacht brennen drei Dörfer in der Richtung nach Courcelles. Starker Geschützdonner. Ein glänzendes Meteor schoß von Westen nach Osten. Ich habe nie ein schöneres gesehen.

29.9.70. Vor Metz. Eine gewaltsame Beitreibung von Futtervorräten mit Wagen, befohlen vom[133] Oberkommando, von meinem Hauptmann und Kompagniechef von Roques mit großer Umsicht und Kühnheit geleitet. Man hörte nur einmal in einem Dorf das Schreien eines Schweines. Das war alles. Den Bewohnern war mitgeteilt, daß ihr Ort beim geringsten Lärm von ihnen auf der Stelle an vier Ecken in Brand gesteckt werden müßte. So blieb es totenstill. Entsetzlich. Doch mußte es sein, sonst wäre uns der Feind zuvorgekommen und hätte außerdem nach unserm Abzug das Dorf bestimmt in Flammen aufgehen lassen. Am Himmelsrand sahen wir, außer zahlreichen Wachtfeuern, viele Brände, die in der großen Ruhe schaurig herschienen.

30.9.70. Vor Metz. Es steht in gefährlicher Einsamkeit zwischen unsern und den feindlichen Vorposten ein alter großer Birnbaum. Wir Offiziere legen, wenn wir bei ihm sind, unsere Namenskarten hinein in seinen hohlen Stamm. Ebenso machen es die französischen Offiziere. Es ist wie ein gewöhnlicher Besuchsaustausch, wenn man die »Herrschaften« nicht zu Hause getroffen hat. Denn merkwürdig ists, daß wir uns nie dort treffen. Man weiß immer schon vorher, als wenn mans röche, ob der (wechselseitige) Feind am Birnbaum ist. Diese Nacht drang ich mit zwei Unteroffizieren und fünfzehn Mann bis hinter das Bois und legte mich, mitten unter den Franzosen, in einen Graben. Ich hatte auch Lüdemann aus Altona mitgenommen. Wir waren mit größter Vorsicht vorgegangen. Bekamen trotzdem plötzlich ein überraschendes Feuer. Barral: Schuß an den Kopf. Sergeant Schultes,[134] den ich mit sechs Mann in meine linke Seite geschickt hatte, rettete uns durch einen entschlossenen Angriff zur rechten Zeit. Auf dem Rückweg kamen wir über den alten Birnbaum, der mürrisch und verdrießlich und verlassen stand. Ich legte meine Karte hinein. Kaum hatte ich das getan, als wir ein sehr gut gezieltes Chassepotfeuer empfingen, das uns zwang, mit großer Vorsicht wieder unsere Vorposten aufzusuchen.

1.10.70. Vor Metz. Maizières les Metz. Heute Morgen kam ich um sechs Uhr von Feldwache. Um acht Uhr kam die Nachricht, daß wir abgelöst würden. Um ein Uhr Mittags rückten wir von Charly ab und marschierten bei Hauconcourt über die Mosel. Bei dieser allgemeinen Bewegung sah ich endlich mal Brandt und Seckendorff wieder. Hier sind gute Hütten für die Mannschaften, für uns Offiziere war nichts da. Roques und ich quartierten uns in das erste beste Haus ein. Unsre Wirtsleute scheinen gutmütig und ängstlich zu sein. Ihr vierjähriger hübscher Knabe, »Monsieur Mathieu«, liegt im Bettchen, lacht uns an und zieht uns an den Bärten. Er ist ganz außer sich vor Freude. Draußen, nicht fern von uns, ist wütender Lärm und fortwährendes Geschieße. Ich bin seit dem neunzehnten September zum erstenmal in einem Hause einquartiert. Es ist eine Wohltat. Wir werden uns endlich mal ordentlich umziehen können. Wie wir äußerlich aussehen, ist nicht grade das, was man »salonfähig« nennt.

2.10.70. Vor Metz. Maizières les Metz. Sieben Uhr Morgens. Vorige Nacht wurden wir[135] zweimal alarmiert. Vor uns steht die Landwehrdivision und hat die Vorposten bezogen. Wir, die Brigade des Generals von Blanckensee, stehen in Bereitschaft und erwarten einen starken Ausfall, der wohl auch nicht lange zögern wird.

9.10.70. Vor Metz. Maizières les Metz. Ich liege verwundet in unserm Zimmerchen und warte auf die Ärzte. Eben erhalte ich den Befehl, die siebente Kompagnie zu übernehmen. Es ist mir ein unerträglicher Gedanke, dem Befehl nicht nachkommen zu können in diesem Augenblick.

Gestern nachmittag saßen wir hier in unserm Stübchen: Roques, Busse, Stengel, Jung und Cochenhausen. Ich las aus einem Briefe von Kaltenborn vor. Es war Sonnenuntergang und Friede. Nichts zu hören. Plötzlich fielen einzelne Schüsse. Zuerst glaubten wir an eins jener alltäglichen, gewöhnlichen Patrouillengefechte. Aber gleich darauf wurde alarmiert. Wir mußten an die Gewehre treten. Das Gefecht wurde mit jeder Minute stärker. Abends sieben Uhr erhielt unsre Brigade den Befehl, St. Remy und Schloß Ladonchamps anzugreifen und zu nehmen, das die Franzosen der Landwehr abgenommen hatten. Wir traten an und gingen in Kompagnie-Kolonnen vor. Es war so dunkel geworden, daß wir fast nichts mehr sehen konnten. Die schwarzen, geordneten und, so gut es ging, gerichteten Massen marschierten nebeneinander über das leere, weite Feld. Es war grabesstill. Kein Laut, kein Kommando durfte hörbar werden. Vor St. Remy stolperten wir schon über Tote und[136] Verwundete. Der erste Gefallene lag in einem Schützengraben, zusammengeknickt. Ich fiel über einen erschossenen Offizier, der in den Knieen lag. Den rechten Arm hielt er wie im Krampf ganz grade in die Höhe, und in seiner rechten Hand steckte wie in einem Leuchter steil die Kerze: sein Degen. Als ich über ihn strauchelte, brach sein Körper zusammen. Ich verhedderte mich mit ihm auf einen Augenblick zu einem Klumpen.

Wir Offiziere gingen alle unsern Kompagnien voraus. Neben mir Roques, mit festem, entschlossenem Schritt, wie der Erzengel der Kraft. Da – wir waren dicht vor der Barrikade des Schlosses, die uns schon in matten Umrissen entgegenschimmerte – da klang ein einziges, schrilles, unendlich langgezogenes Hornsignal bei den Franzosen. Wir rissen die Säbel aus den Scheiden und stürmten gegen die Hölle: Marsch! marsch! hurra! Ein wahnsinniges Feuer empfängt uns: Gewehr-, Mitrailleusen- und Kartätschenfeuer. Ich sinke, verwundet am linken Knie, nieder. Roques fällt durch den Kopf geschossen auf mich. Ich höre seine letzten Worte: »Meine Fr ...« Er wollte sagen: Meine Frau. Nun war alles ein Durcheinander. Während ich mit dem Taschentuch mein linkes Bein verbinde, wobei meine Hände voll Blut werden, steht neben mir mein Bursche Lorenz Bachmann. Ich sehe schwach, wie er immer versucht, eine Weinflasche, die er für uns im Brotbeutel hatte, mit dem Korkenzieher zu öffnen. Aber es gelingt ihm nicht. Es fehlt ihm die Kraft. Eine Kugel durch die Brust, die er schon[137] vor Minuten bekommen haben mußte, streckt ihn ohnmächtig neben mir nieder. Du Treuer.

Ich legte mich einige Minuten lang ganz grade auf den Rücken. Um mich, über mir rasen Busse, Stengel, Jung und Cochenhausen mit geschwungenen Säbeln in die Barrikade unter lautem Vorwärtsrufen ...

Ich werde, ohne daß ich das Bewußtsein verliere, nach St. Remy zurückgebracht, wo ich den General von Blanckensee treffe im Morgengrauen. Von da in unser altes Zimmer. Ich war durch Leichen und Verwundete gekommen; ich sah auch kaiserliche Garden liegen und Zuaven in ihren gestickten Uniformen. Alles roch nach Qualm und Blut. Verfaultes Stroh, niedergebrannte Häuser, in denen es oft noch glimmte und rauchte, weggeworfenes und im Schlamm verkommendes Hausgerät aller Art, Granatenlöcher, ein verwüsteter Kirchhof, aufgedunsene Pferdeleiber, zerbrochene Wagen, aufgerissene und entleerte Tornister, ein in einen Graben gestürztes Geschütz, zertrümmerte Fenster und Türen – der Krieg. Ferner sah ich einen nackt liegenden alten Mann mit grauem Vollbart, mit einer Wunde in der Stirn und mit einer Wunde in der linken Schulter, vor einer schief in den Angeln hängenden, verbogenen Gartenpforte. Wahrscheinlich hatte er, versteckt, von seinen Bäumen her auf uns geschossen. Ferner sah ich im Schmutz eine tote schwarze Katze, die das rote Zünglein ausstreckte, ein gebücktes altes Weib, das vorbeischlich mit einer dampfenden Kaffeekanne, einen Sterbenden, den einige, auch wohl Ärzte, umgaben; man preßte ihm Tücher auf den endlosen Blutstrom. Plötzlich kam[138] ein älterer Generalstabsoffizier heftig angaloppiert. Auf seinen Haaren saß eine Art Turban von einem bunten Taschentuch, darunter tropfte ihm Blut auf die linke Wange. Er trug ein Einglas, das er fortwährend sehr geschickt ins rechte Auge warf, um es immer wieder sofort fallen zu lassen. Mit eifervoller Stimme fragte er vom Pferde aus einen jungen Leutnant. Was er fragte, konnte ich nicht verstehen. Wahrscheinlich war er vom Kommandierenden General eines andern Armeekorps zur Berichterstattung hergesandt worden und hatte unterwegs die Kopfwunde bekommen. Da erschien ein wildgewordener Ochse, der sich aus einer für die Truppen von Soldaten bewachten Schlachtviehherde losgerissen haben mochte. Er raste mit gesenkten Hörnern auf das Pferd des Generalstabsoffizieres zu. Im nächsten Augenblick hatte er es durchbohrt. Pferd, Ochse, Generalstabsoffizier und Leutnant zappelten im wüstesten Knäuel durcheinander. Ich sah nur noch, wie von allen Seiten Musketiere, Leichtverwundete und Nichtverwundete, kurz alles was in der Nähe war, hinzueilten.

Als ich aufs Bett gelegt worden war, besuchte mich als erster mein treuer Freund Busse. Gleich darauf trat unser Cochenhausen ein, um nach mir zu sehen. Busse erzählte uns, zu unserer Betrübnis, daß ihm sein kleiner polnischer Schimmel schwer verwundet worden sei während einer Befehlsüberbringung zwischen den beiden feindlichen Schützenlinien. Solchen Ritt nennen wir einen Todesritt. Er erwähnte noch, daß der Schimmel wegen der furchtbaren Schmerzen, die das Tier augenscheinlich habe aushalten müssen, totgestochen[139] werden mußte. Von seinem masurischen Wallach Balduin teilte er uns eine tragikomische Geschichte mit: Gestern morgen habe dem Wallach auf einem Ritt eine Kugel beide Ohrenspitzen weggerissen. Seitdem sei der sonst so brave, gutmütige Gaul wie von einer grenzenlosen Nervosität befallen: er verweigere sozusagen den Gehorsam, bocke, zittere, bäume sich, schlage aus, kurz, benehme sich, als wenn er völlig damisch und dammlich geworden sei. Jetzt kam mein lieber Doktor Kellner, der stets seinen Faust mit sich trug, um meine Wunde zu untersuchen.

10.10.70. Vor Metz. Maizières les Metz. Ich soll ins Lazarett. Die Ärzte bestehen darauf. Zuerst nach Courcelles, von da nach Reims, wenn es da nicht überfüllt ist; sonst weiter zurück. Ich bin untröstlich, daß ich von meinem Regiment wegmuß.

1.12.70. La Franche ville. Ich bin seit gestern endlich wieder beim Regiment, trotzdem es mit meinem Knie noch nicht ganz in Ordnung ist. Ich bin den Ärzten einfach ausgerissen. Es wird und muß gehen.

2.12.70. La Franche ville. Es ist grade nicht angenehm, sich des Morgens um vier Uhr zu erheben bei achtzehn Grad Kälte und mit einer aufgebrochenen Wunde. Um fünf Uhr marschierten wir nach Evigny. Morgens sieben Uhr. Nach kurzem Marsch in Evigny angekommen und einquartiert bei einem fanatischen französischen Geistlichen: Er wärmt sich seine flache innere rechte Hand am Kamin, in der andern hält er ein Gebetbuch, aus dem er, wie in hellem Zorn,[140] rasch halblaut liest. Er sieht mich jede Sekunde wütend an, vom Lesen aufblickend. Der Marsch in der Stockdunkelheit, durch einen dichten Wald voller Franctireurs, auf scheußlichen Wegen, war trotzdem nicht uninteressant.

23.12.70. Auf Feldwache Vier vor Montcornet. Es herrscht eine sibirische Kälte. Nur Stroh. Alles brät; was gebraten wird, weiß ich nicht. In einem Häuschen hinter uns sitzen zwei alte Weiber am Kamin und beten in einem fort. Wir sind gütig und freundlich gegen sie. Die beiden haben uns Teller leihen müssen.

24.12.70. Bonfoy. Weihnachtsmorgen. Eben geht die Sonne auf. Weihnachtsabend. Um sechs Uhr schreibe ich diese Notiz mit erstarrten Fingern auf der Landstraße von St. Quentin nach Ham.

26.12.70. Morgens halbdrei Uhr. Zwischen dem ersten und zweiten Feiertag. Ich sitze am Kamin im Häuschen einer Waldhexe. Unser Feuer besteht aus zusammengeholten Türen und Schränken. Der heutige Marsch war recht unangenehm, weil wir stets auf Kopfsteinen gehen mußten. Meine Musketiere liegen auf der bloßen Lehmdiele und schnarchen, zum großen Ärger des Sergeanten Bohne, der immer aufsteht und wie ein Kater hinhorcht auf den, der am lautesten schnarcht, um ihn durch Fußtritte zu wecken. Ich verweise es ihm. Wir sind alle so gut und freundlich wie nur möglich gegen die alte Frau. Sie ist nicht mehr ängstlich.

26.12.70. Abends. Ham. Auf der Zitadelle, wo Napoleon gefangen gesessen hat. Die Zitadelle ist leer und feucht. Es stand nur noch ein uralter,[141] wurmstichiger, fast zusammenbrechender hölzerner Lehnstuhl in einem Saal; er wanderte schnell in den Kamin, weil wir keine Feuerung hatten. Jetzt schleppt ganz Ham Holz herauf. In einer Stunde müssen die Hamer ein Essen herauftragen für uns. Mit uns essen werden der Bürgermeister und einige Mitglieder des Rats. Vorsicht! Vorsicht!

27.12.70. Eben Befehl, nach Péronne abzumarschieren, um die französische Nordarmee von dort abzuhalten.

28.12.70. Mesnil-Bruntel vor Péronne. Unter heulenden Kindern, weinenden Frauen, unter sich fortwährend widersprechenden Befehlen: hinaus und herein, umhängen und abhängen, sitz ich hier im Alarmquartier; mir gegenüber hockt der dicke Besitzer und starrt mich wehmütig an. Er hat sich schweigend in sein Schicksal ergeben.

29.12.70. Dicht vor Péronne. Die Granaten fliegen hin und her über uns. Winterwetter, Schneesturm. Wir biwackieren unmittelbar vor der Festung. Feuer darf nicht gemacht werden, der Nähe der Stadt wegen, sonst würden sie gleich unsre Plätze entdecken. Man bringt uns, den Offizieren und Mannschaften, Glühwein in Kesseln von den Vorposten her. Es brennt in Péronne seit gestern Mittag. Wir lagern auf Schneehaufen. Ein kleiner roter Vogel fliegt auf uns zu und bleibt vier Schritte von uns ruhig sitzen: ein Bild des tiefsten Friedens mit der brennenden Festung im Hintergrunde. Wir halten alle die ungeheuern Strapazen mit Humor aus. Die Hessen[142] sagen: Es werd nit nohgelasse. Abendröte. Die Kirche brennt. Wir brummen: O Danneboom, o Danneboom. Die Burschen sind nach Mesnil-Bruntel geschickt, um Decken, Tücher und beigetriebene Pelze zu holen. Schlafen dürfen wir nicht diese Nacht, der Kälte wegen. Die Franzosen schießen aus der Festung aus allen möglichen altertümlichen Geschützen und mit allen möglichen altertümlichen Geschossen. Wedel meint lachend: selbst mit Kettenkugeln aus dem Jahre Sechzehnhundert. Vier dieser merkwürdigen Biester kamen uns in der Tat ganz nah. Das letzte, wirklich: zwei aneinandergekettete große eiserne Kugeln, setzte kaum zehn Schritte vor uns auf und sprang ganz gemächlich dicht über unsere Köpfe weg und fiel hinter uns nieder. Ein hoher Speicher oder die Zitadelle brennt. Wir können es nicht unterscheiden.

30.12.70. Doingt. Befehl: Herr Leutnant haben Herrn Leutnant von der Leyen auf Feldwache abzulösen. Gut. Hin. Während Leyen mir, an meiner Seite stehend, Aufklärung gibt über Umgegend und Lage, platzt niedrig ein Shrapnel über uns. Wir beide bekommen nichts ab. Es verwundete einem Füsilier, der hinter uns in demselben Streuungskegel stand, so stark das eine Knie, daß ihm das Bein gleich abgenommen werden mußte.

1.1.71. Mesnil-Bruntel. Wir erhalten Befehl, sofort nach La Fère zu marschieren, um französisches schweres Belagerungsgeschütz zu holen.

2.1.71. Ham.

3.1.71. La Fère.[143]

4.1.71. Ham. Eben hier wieder von La Fère angelangt, finden wir den Befehl vor, sofort wieder nach La Fère zurückzumarschieren. Unglaublich anstrengend: dies ewige Hin und Her. Die Leute können nicht mehr. Wir telegraphieren an den General von Barnekow und bitten um einen Ruhetag. Der General telegraphiert zurück: Ruhe ist nur im Grabe, es wird weiter marschiert.

5.1.71. Wir sind wieder in La Fère. Eine tolle Hetzerei. Heut Morgen vier Uhr angekommen. Achtzehn Stunden marschiert in der grimmigsten Kälte. Um sieben Uhr ein Essen im Hôtel de l'Europe. Das erste wirkliche Diner seit sechs Monaten. General von Senden, der zu seiner Division nach Metz reist, saß mit uns zu Tisch. Später gingen wir in den Grand Cerf. Drei hübsche Töchter, von denen uns die eine ausgezeichnet Chopin vorspielte, wie es nur eine Polin oder Französin kann.

7.1.71. Ich ritt mit zwei Garde-Husaren vor, um in Ham Quartier zu machen. Der Himmel glitzerte voller Sterne. Einer meiner beiden Husaren, der, wie ich wußte, aus Schleswig-Holstein war, sprengte an mich heran und bat, ob er eine Frage tun dürfe.

»Nur zu, was gibts?«

»Ja,« meinte er, indem er auf den Großen Bären zeigte: »Bei uns zu Hause steht der Große Bär immer da (er wies in die entgegengesetzte Richtung), und hier in Frankreich steht er immer da (er zeigte auf den Großen Bären). Ich weiß nicht, wie das kommt.«

Ich geriet in nicht geringe Verlegenheit durch diese[144] ganz und gar nicht erwartete Frage. Meine Erklärung wäre zu lang gewesen; er hätte sie wohl kaum in dieser Stunde verstanden. So sagte ich ihm, daß ich diesen Unterschied auch nicht kenne. Der Husar blieb, wie ich merken konnte, enttäuscht halten und ließ sich wieder von seinem Kameraden aufnehmen.

19.1.71. St. Simon, früh sieben Uhr. Ich bin stellvertretender Regimentsadjutant. Major von Hanneken befehligt das Regiment, Otto das Füsilier-Bataillon. Welcher Tag und welche Nacht gestern! Zum Befehlsempfang. Die Nordarmee unter Faidherbe steht vor St. Quentin. Nachmittags halbdrei Uhr. Ein Husar bringt auf triefendem Pferde folgende schriftliche Meldung von Otto:

Soeben trifft von dem Avantgardenkommandeur Oberstleutnant von Hymmen der Befehl ein, daß das Füsilierbataillon sofort in der Richtung auf St. Quentin vorzumarschieren hat. Das Bataillon wird sich in Marsch setzen und einen Zug der 12. Kompagnie hier zurücklassen, um die in der Kirche untergebrachten Gefangenen (zirka 300) zu bewachen.

19.1.71. Vier Uhr nachmittags. Ich habe viel reiten müssen. Schon das dritte Pferd. Die Franzosen sind zurückgeschlagen. Nur im Westen verändert sich unsere Artillerie noch nicht. Augenblicklich komme ich von Goeben. Immer muß ich ihn anstarren, wenn ich vor ihm halte: das Genie. Zugleich ist er ein so herrlicher Mensch. Ich sah auch den Prinzen Albrecht (Sohn), Königliche Hoheit, dem ich eine Meldung zu machen hatte. Kurze Zeit blieb ich im Gefolge. Keiner[145] hatte mehr etwas zu essen. Der Prinz gab das Letzte, was er hatte: Trocknes Schwarzbrot. Nur noch zwei Flaschen Champagner waren da. Der Prinz ließ sie und das Brot an in unsrer Nähe liegende Verwundete verteilen.

Wieder zurück zu Hanneken. Ich traf ihn beim Hauptmann von Oesfeld mit Leutnant von Holbach zusammen. Sterbende. Major von Hymmen schoß aus Mitleid viele verletzte Pferde tot. In einem Hohlweg sah ich Verwundete liegen, die ihre Arme einer heranrasenden Batterie entgegenstreckten. Ich hatte keine Zeit mehr, dazwischen zu reiten, obgleich ich mein Pferd aufs unbarmherzigste spornte, um noch hinan zu preschen. Zuletzt warf ich meinen Helm vor gegen die mit äußerster Anstrengung heranarbeitende Batterie, um dadurch die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Umsonst. Weder der Vorder- noch der Mittelreiter, noch der Stangenreiter des ersten Geschützes hatten es in der großen Aufregung bemerkt. Sie peitschten fortwährend ihre Pferde mit vorgebeugten Oberkörpern und glühenden Köpfen. Ein Verwundeter wurde überfahren. Jedesmal, wenn ein Rad über seinen Leib ging, knickte er nach oben zu beiden Seiten ein, wie eine Raupe.

Einmal kam ich bei einer Abteilung von Gefangenen vorbei. Da wir uns in einer engen Dorfstraße begegneten, mußte ich mein Pferd anhalten, um sie vorüber zu lassen. Plötzlich riß einer von ihnen einem der Begleitmannschaft das Gewehr von der Schulter und schoß auf mich. Er traf nur meine Helmturmspitze.[146] Ein andrer von der Begleitmannschaft schoß den Gefangenen vor meinen Augen sofort nieder. Er griff mit den Armen in die Luft und sank tot zusammen.

Einmal auf einem meiner Melderitte hielt ich an und bog mich vom Pferde zu einem Schwerverwundeten. Ich fand den armen Schüßler von der vierten Kompagnie, durch den Leib geschossen. Ich legte ihn zurecht, so gut ich konnte, und rief einen jungen Arzt heran, den ein glücklicher Zufall mir grade in die Hände trieb.

Soeben kommt ein Adjutant von Goeben mit dem Befehl, daß wir heut abend um halb neun Uhr in St. Quentin stehen sollen. Er erzählte uns rasch, daß Biebrach den Bahnhof von St. Quentin mit Entschlossenheit und Kraft genommen habe. Nachts. Irgendwo in einem Hause. Der Major schnarcht furchtbar. Ich habe noch für mein Pferd Wasser bringen können. Es war gänzlich verschmachtet. Schlaf, Schlaf. Um fünf Uhr morgens mußte ich wieder reiten, mit einem Auftrag an die sächsische Kavallerie-Division Graf Lippe. Mitten übers ganze Schlachtfeld in der Dunkelheit. Es war ein böser Ritt. Überall sah ich Blendlaternen und hörte einzelne Schüsse. Ich dachte an die »Hyänen«. Mein Pferd führte mich, kann ich sagen. Ein paar Mal stolperte es recht bedenklich. Fortwährend verirrte ich mich, bis der Tag graute. Ich habe den mir befohlenen Auftrag ausgeführt.

17.3.71. Le Meige. Einquartiert beim feinen,[147] zierlichen Herrn von St. Hilaire. Morgen früh fahr ich nach Deutschland, um endlich meine Wunde und die Begleiterscheinungen gründlich auszuheilen. Die Friedenseinleitungen sind vorgestern unterzeichnet worden.


Horch, das Ganze wird geblasen,

Hahn in Ruh. Der grüne Rasen

Deckt manch tapfern Kriegersmann.

Beim Apell wird mancher schweigen,

Und die blinden Rotten zeigen,

Daß der Feind auch schießen kann.


Altes Soldatenlied.

Quelle:
Detlev von Liliencron: Leben und Lüge, in: Sämtliche Werke, Band 15, Berlin [o. J.], S. 83-148.
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